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XI

Kumulus 3: Aus dem Gymnasium zu Riechenberg ist der Geist der Humanitas ausgezogen. Er hat die Heiterkeit des Lebens mitgenommen, die Spiele der Pausen, die kleinen Revolutionen der Stunden, den lächelnden Knabentrotz, der durch Generationen das Joch von Stunde, Raum, Tadeln, Zensur, Schulordnung in unverkümmerter Haltung trug.

Er ist von einem dunklen Geist abgelöst worden, der finster, schweigend, lauschend nach Vergeltung trachtet. Gruppen stehen auf dem Hof und blicken eisig geradeaus, wenn die Aufsicht vorbeikommt. Die Stunden laufen wie von kalten Spindeln ab. Keine Unbotmäßigkeit, keine Empörung, aber eine gefrorene Distanz, die über jede Vertraulichkeit nur kühl befremdet die Augenbrauen hebt.

Es sind zuerst vernommen worden die sieben Aufrechten, die gesamte Untersekunda und die Vertrauensleute jeder Klasse. Es wird nicht bestritten die Teilnahme an der Hutprozession, der Umgang mit Wiltangel. Es wird bestritten alles andere. Ein Campfeuer? Ja, natürlich habe ein Campfeuer stattgefunden. Ja, an dem fraglichen Abend, aber an einem anderen Arm des Sees, meilenweit vom Brombeertal entfernt. Bitte sehr, der Herr Direktor könne sich die Kohlen des Lagerfeuers ansehen.

Der Hut?

Jawohl, Graf Kalnein sei am Sonntag vormittag mit Bechlers Schwester über den See gefahren, um Brombeeren zu suchen. Fräulein Bechler könne aussagen, daß in den ersten Stauden der Hut gelegen habe.

Lisa Bechler, von ihrer Schulvorsteherin vernommen, sagt aus, wie Graf Kalnein vorhergesagt hat. Die Prozession? Ja, das sei ein lustiger Streich gewesen. Man fände doch nicht alle Tage den Hut eines Professors im Wald. Eine kränkende Absicht sei keineswegs damit verbunden gewesen.

Der Verkehr mit Herrn Wiltangel? Ja, Kalnein habe ja in der Aula schon seinen Standpunkt »präzisiert«, und er sei inzwischen nicht anderen Sinnes geworden. Der Boykott sei ungesetzlich, und sein Vater habe auf Befragen ihn des Rechtlichen seiner Auffassung ausdrücklich versichert.

Ein eiserner Ring, der an keiner Stelle sich lösen läßt, der keinen Zugang gewährt zu Ende oder Anfang. Alle Vernehmungen korrekt, höflich, ohne Entgleisung, aber kühl, distanziert, mit einer leisen Faltung der Mundwinkel.

Es ist nicht gut, daß Unbeteiligte vernommen werden, Kameraden, Geschwister, Pensionsbrüder. Daß man horcht und zu einem Schweigen verpflichtet, das nicht gehalten wird. Daß man Indizien zusammenträgt, häuft, bergehoch, und daß man auf der Spur der Beweise atemlos, vielleicht würdelos einherhetzt.

Aber man muß zu einem Entschluß kommen, um das Vorläufige zu besiegeln, unbeschadet des Kommenden, das durch Zufall oder Spürsinn sich enthüllen könnte. Die Konferenz verhängt vier Stunden Arrest für fünf von den sieben Aufrechten als Sühne für die Teilnahme an der Prozession und die Fortsetzung des verbotenen Umgangs »mit dem argentinischen Staatsangehörigen Wolf Wiltangel«, für Graf Kalnein die Androhung des Consiliums wegen öffentlicher Verhöhnung eines Mitgliedes des Lehrerkollegiums, für Krauthenne das Consilium, da er wenige Wochen zuvor die Androhung erhalten habe.

Der Postbote bringt die Briefe in die sieben Elternhäuser und zu den Pensionseltern. Eine Stunde später sind sie in Riechenberg bekannt. Fräulein Bierkandt vermittelt eine Reihe dringender Orts- und Ferngespräche, die sie in Empörung und Begeisterung mithört.

Am nächsten Morgen trägt Schleichhase, bekümmert, sieben Briefe in Birkenwalds Amtszimmer, die in verdächtiger Einmütigkeit die Strafen für ihre Söhne ablehnen und mitteilen, daß eine Beschwerde beim Provinzialschulkollegium eingereicht werde. Was die Arreststrafe betreffe, so verlangten sie eine klare Trennung der Strafen in der Wiltangel- und der Hutfrage. Die zweite sollten ihre Söhne verbüßen, die erste zu verbüßen, hätten sie ihren Söhnen ausdrücklich verboten.

Die Protokolle der Vernehmungen und der Gesamtkonferenz gehen an die vorgesetzte Behörde. Am gleichen Tage lassen sich dort Graf Kalnein, Fideikommißbesitzer und Landtagsabgeordneter, und eine Abordnung des Elternbeirats melden.

Drei Tage später erscheint der Justitiar der Behörde in Riechenberg. Es gibt neue Vernehmungen und Konferenzen. Das Licht aus den Fenstern des Konferenzzimmers fällt bis in die Nacht auf den Kies der Uferpromenade, auf dem bis in die Nacht ein Teil von Riechenberg auf und ab geht. Der Fall Wiltangel ist aus dem Einzelnen und Begrenzten seines Daseins zu einem allgemeinen Fall geworden. Die Brücke des Lebens hat einen Sprung bekommen, das Unerschütterliche hat zu beben begonnen, und aus dem Aufstand von Knaben wächst, ohne Zutun der Erwachsenen zunächst, der sich verbreiternde Zustand einer dumpfen Unruhe, einer Auflockerung des Bestehenden, eines Widerstandes gegen das Unangefochtene einer Herrschaft.

 

Kumulus 4: Beschluß in der Privatklagesache des Amtsgerichtsrats Ewerling in Riechenberg gegen Fräulein Lina Schönwald in Riechenberg.

»Die Angeklagte wird beschuldigt, in ihrer Unterredung vom 23. August 1929 in Riechenberg mit der Ehefrau des Privatklägers diese beleidigt zu haben.

Vergehen nach § 185 StGB.

Sie ist dieser Tat hinreichend verdächtig.

Auf Antrag des Privatklägers wird daher gegen sie das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht eröffnet.

Das Amtsgericht, gez. Freyhold, Gerichtsassessor. Ausgefertigt usw.«

Gleichzeitig erfolgt die Ladung. »Im Falle unentschuldigten Ausbleibens wird Ihre Vorführung erfolgen.« Und so weiter.

Lina lehnt ab, einen Rechtsanwalt zu nehmen. Auf den Schriftsatz der Gegenpartei erwidert sie, daß sie nicht »soviel« schreiben könne und in der Hauptverhandlung aussagen werde, was »passiert« sei.

Die geborene Pfeffer wird durch den Justizrat Hauser, ortseingesessen, vertreten, der über siebzig Jahre alt ist und beim Sprechen »mümmelt«.

Aber der Prozeß ist nicht auf die beiden Parteien beschränkt, so wenig, wie die Affäre mit dem Maurerhut auf das Gymnasium beschränkt ist. Er wird auch nicht nur zu dem Kreis erweitert, den die Zeugen bilden. Er ist eine Handlung zwischen Unterstadt und Oberstadt. Er ist ein Schachbrett zwischen Fischern und Arbeitern auf der einen Seite, gegen Türme und Königin auf der anderen Seite. Klasse steht gegen Klasse, arm gegen reich, Volk gegen Herren. Als Lina um die Mittagszeit zum Gericht geht, hat sie das Gefolge einer Königin, die zu einem Gottesurteil schreitet. Zweierlei ist nicht gut.

Es ist nicht gut, daß Freyhold die Verhandlung auf zwölf Uhr mittags angesetzt hat, denn 12.25 Uhr schließt das Gymnasium, und die roten Mützen erfüllen nicht nur den fast undurchdringlichen Marktplatz, sondern die Untersekunda läßt vor der Apotheke den Schrei des Puma ertönen, und als das Fenster im Obergeschoß leer bleibt – Wolf ist im Verhandlungssaal –, erfüllt sich der Markt mit der Nachricht, daß das Urteil der Behörde eingetroffen und heute verkündet worden sei. Das Consilium gegen Krauthenne sei aufgehoben, desgleichen die Androhung des Consiliums gegen Graf Kalnein. Es wird ferner entschieden, daß das Verbot des Umgangs mit Wiltangel die Befugnisse der Schule überschreite und daß für die Beteiligten an der Prozession eine Strafe von zwei Stunden Arrest für ausreichend erachtet werde. Die Beteiligung an dem Überfall auf Professor Boas könne nicht als erwiesen gelten.

Die Untersekunda zieht auf dem Marktplatz ein wie nach der Schlacht von Salamis.

Es ist ferner nicht gut, daß am Vormittag des vergangenen Tages C. A. Runge dem Betriebsrat der Schneide- und Mahlmühlenwerke erklärt hat, daß er sich infolge der Geschäftslage genötigt sehe, den Tarif mit sofortiger Wirkung zu kündigen und die Löhne um zehn Prozent herabzusetzen. Es sei ihm bewußt, daß dies eine ungesetzliche Maßnahme sei, aber wenn die Arbeiterschaft den Vorschlag ablehne, sei er genötigt, das Werk stillzulegen.

Noch in der Abendstunde hat der Betriebsrat erklärt, daß die Arbeiterschaft in den Streik trete. Am Morgen sind sechs Arbeitswillige aus den Dörfern um Riechenberg verprügelt und an dem Betreten des Fabrikhofes verhindert worden. Der Bürgermeister hat polizeiliche Verstärkung angefordert, die ihm zum Abend zugesagt worden ist. Auch die Arbeiter, die Hände in den Hosentaschen, stehen vor dem Amtsgericht. Ein kalter Wind kommt vom See herauf, und mitunter fallen ein paar einzelne Tropfen, die der Wind verweht.

Die Stimmung ist weder finster noch gewalttätig. Es wird sogar gelacht, aber das Lachen ist kein Ausdruck einer wartenden, beschäftigungslosen, heiteren Menge. Es ist ein respektloses Lachen. Es ist nicht böse geworden, aber es hat die Grenzen des Gewohnten überschritten. Das Feierliche zerbröckelt in ihm, die großen Gebärden, die Tradition, das Geheiligte.

Frau Coburg, Witwe des verstorbenen Domänenpächters Coburg, drängt sich in schwarzer Mantille und Kapotthütchen durch die Menge vor der Treppe des Amtsgerichts, das Lorgnon vor den Augen, sehr eckig und nachdrücklich in ihren Bewegungen. »Lassen Sie mich durch«, sagt sie sehr laut, »mein Mann war Major!«

»Pust di man nich up!« erwiderte eine ebenso laute Stimme, »'n Hühnermajor.«

Es wird gelacht. Kiepel, einen Brief in der Hand, arbeitet sich schweigend und vorsichtig in derselben Richtung weiter. Aber jemand hält seine Säbelscheide fest und schwenkt sie über der Menge. »Kiepel hefft blank getooge«, ruft eine vergnügte Stimme. »Revolutschon!«

Kiepel bittet, fordert, droht. Die Säbelscheide wandert vor seinen Augen um ihn herum.

»Griep' deinem Wurstpell, Kiepel!« wird er freundlich angespornt.

Sein bläuliches Gesicht ist blaß geworden, und als er auf der untersten Treppenstufe den Säbel in die Scheide stecken kann, hebt er die Faust mit dem Brief in die Höhe. Aber wieder wird gelacht. Ein Pferdeapfel fliegt an seinem zornigen Gesicht vorbei, gegen die Tür des Amtsgerichts. Naujoks, den sie verknackt haben, ist da, die Hände in den Taschen, die Pfeife zwischen den Zähnen, und sieht von Zeit zu Zeit nach den Fenstern des Sitzungszimmers hinauf.

Inzwischen rollt oben das Drama der geborenen Pfeffer ab. Der Saal ist überfüllt. Die Oberschicht ist in der Mehrheit, aber die Minderheit mit Umschlagetüchern und in Wolljacken sieht geschlossener aus, einheitlicher, schicksalsverbundener. Freyhold, klein, lebhaft, mit seinem dunklen Fuchsgesicht, das bei jeder Frage aus einer anderen Röhre hervorzulugen scheint, leitet die Verhandlung mit einem fatalen Lächeln. Er verschleiert nichts, er gleitet über keinen Nebenumstand, über keine Silbe des beleidigenden Gespräches hinweg. Er ist von schonungsloser Wißbegier erfüllt, und er setzt allen Versuchen des Justizrats, den Tatbestand als gänzlich einwandfrei erwiesen zu betrachten, einen hartnäckigen Widerstand entgegen. Lina, das Umschlagetuch auf den Schultern, ist heiter, furchtlos, redegewandt.

Bis zur Wiltangel-Wendung des Gespräches sind die Parteien einig. Aber bevor es zur Erörterung dieses Punktes kommt, bittet Lina mit einer überraschenden Wendung den Assessor, die Klägerin zu befragen, welche Mitglieder der »Vadderlandschen« die schönen Geschenke für sie besorgt hätten.

Die geborene Pfeffer, lächelnd befragt, schweigt, die Hand um das goldene Kreuz gelegt.

»Der Erinnerung der Klägerin entschwunden?« fragt Freyhold liebenswürdig.

Der Justizrat neigt sein behaartes Ohr zu Frau Ewerlings Lippen, aber er versteht nichts. Es ergibt sich nach vielen hin und her springenden Fragen, daß der Auftrag des Frauenvereins eigentlich nur dem Sinn nach zu verstehen gewesen sei.

Freyhold zieht die schwarzen Augenbrauen hoch und kommt aus einer anderen Röhre wieder heraus. »Ich verstehe das so«, sagt er, »daß die Klägerin die fraglichen Gegenstände ›christlicher Nächstenliebe‹ ohne Auftrag selbst gekauft und zu der Beklagten hingebracht hat. Darf ich fragen, ob die Klägerin den Betrag für diese Dinge aus eigner Tasche oder aus der Vereinskasse entnommen hat?«

Aus eigner Tasche natürlich. Ausgelegt gleichsam, wie das eben üblich sei.

Ob die Partei der Klägerin wünsche, daß das ›Übliche‹ dieses Vorgangs durch Zeugenvernehmung der Vorstandsmitglieder des Frauenvereins etwas mehr geklärt werde?

Nach geflüsterter Beratung erklärt der Justizrat, daß die Partei das nicht wünsche. Lina lächelt. Die ›Minderheit‹ im Saal bewegt sich hier wie eine Schilfwand im Wind. Freyhold lächelt.

Zweiter Akt: Die Wiltangel-Affäre. Lina berichtet wortgetreu. Es wird gelacht. Freyhold rügt die Äußerung des Beifalls. Ob die Einbeziehung der Person des Herrn Wiltangel in das Gespräch den Tatsachen entsprochen habe?

»Nein, Herr Assessor«, sagt Lina. »Keine Rede nich von.« Die Mehrheit im Saal bewegt sich. Lina wendet ihr blühendes Gesicht zu den Bankreihen der Honoratiorenfrauen. »Leider, Herr Assessor«, sagt sie bekümmert. »Denn wo soll so 'n smucken Mann hin in so 'ne Stadt?«

Freyhold, mit mühsam hochgezogenen Augenbrauen, bittet, die Sorge dafür doch Herrn Wiltangel zu überlassen.

Dritter Akt: Es stellt sich heraus, daß der Justizrat nicht orientiert ist über die »schamlose Person«, die die geborene Pfeffer neben Linas Petroleumlampe als eine Art von Gastgeschenk hinterlassen hat. Auch die geborene Pfeffer ist nicht orientiert. Ja, sie sei so erregt gewesen, daß sie das vergessen habe.

»Tscha«, sagt Lina und nickt ihr schwesterlich zu.

»Vergleich?« fragt Freyhold und blickt zwischen den Parteien hin und her.

Frau Ewerling, nach eingehender Beratung mit dem Justizrat, erklärt sich zum Vergleich bereit. Es klingt nicht ganz nach Nächstenliebe, aber sie erklärt.

Lina? Nein, Lina will sich nicht vergleichen. Sie bittet, sie zu verurteilen, und hier sei die Gegenklage. Sie legt das Papier auf den grünbezogenen Tisch. Recht müsse Recht bleiben.

»Bravo!« sagt eine tiefe Stimme von hinten.

Freyhold rügt zum zweiten Mal. Ob die »jnä Fru« verurteilt werden würde? »Natürlich«, sagt Freyhold liebenswürdig.

Die Beklagte wird zu fünfundzwanzig Mark Geldstrafe, im Nichtvermögensfall zu drei Tagen Haft, verurteilt. Sie empfängt das Urteil lächelnd und nickt der geborenen Pfeffer zu. Es ist ein bedrückter Sieg, und die Mehrheit schiebt sich langsam aus dem Saal.

Der Korridor ist gefüllt. »Opp Weddersehn!« ruft eine Stimme, als der Justizrat und Frau Ewerling die Treppe hinuntersteigen. Die Urteile, das gesprochene wie das noch zu sprechende, sind vor der Tür, bevor die geborene Pfeffer sie öffnet. Sie prallt zurück, denn Riechenberg ist an den Anblick solcher Menschen nicht gewöhnt. »Komm, Karlineken!« ruft eine freundliche Stimme. Sie steigt hinten aus der Wand der Gesichter empor wie eine Lichtreklame an einer toten Hauswand.

Frau Ewerling fühlt die Verpflichtung des Augenblicks. Sie ist schon einmal durch die Fischerstraße gegangen, von vaterländischen Gaben umkreist, und sie hat nur den halben Markt zu überqueren, bis sie ihr Haus erreicht. Man könnte auf den Justizrat warten, aber dann müßte man umkehren, und alle Besucher des Sitzungssaales und der Korridore würden ihr entgegenkommen.

So steigt sie die Steintreppe hinunter, die linke Hand um das Kreuz gelegt, wie ein Heidenbekehrer, der in einen Opferkreis tritt. Ihre Augen sehen furchtlos in das Gesicht der Menge hinein, mit dem leise zusammengekniffenen Blick, mit dem sie auf tote Fische, auf Schmutz, auf eine rote Nelke in einem Knopfloch zu blicken pflegt.

Und es geschieht nichts. Vor ihren Füßen öffnet sich, ganz lautlos, eine schmale Gasse. Zwar schlägt niemand die Augen nieder, und niemand nimmt die Hände aus den Taschen, aber niemand spricht ein Wort oder lächelt oder zieht die Augenbrauen zusammen. Sie sehen ihr nur zu, als ob ein gefangener Wolf oder eine Schlange im Glaskasten auf einem kleinen Handwagen über den Markt gefahren würde. Die Großen beugen sich ein wenig zu ihrem Gesicht herab zu diesem Zweck, und die Kinder werden von den Müttern hochgehoben, damit sie es bequemer haben. Und alles vollzieht sich in einem lautlosen Schweigen. Nach der dumpfen Bewegtheit der Menge ist dieses Schweigen seltsam und bedrückend.

Und dann kommt das Unerwartete, für die geborene Pfeffer wie für die Unterstadt von Riechenberg. Die roten Mützen der Gymnasiasten haben sich unbemerkt zu einer geschlossenen Gruppe zusammengezogen, die bis an die Tür der Ewerlingschen Wohnung reicht. Und aus ihrer Mitte, gedeckt von den längsten Exemplaren der Schüler, steigt ohne Einleitung eine ganz hohe, krähende Stimme empor, eine Stimmbruchstimme, die unerwartet bei einzelnen Tönen eine Oktave hinunterstürzt und die weithin bis zu den Fenstern des Amtsgerichts zu verstehen ist. Und die Stimme beginnt nach einer einfachen, gutmütigen, fast kindlichen Melodie zu singen, von dumpfen, unartikulierten Tönen ihrer Umgebung ganz leise wie von ganz weiten Paukenschlägen begleitet und rhythmisch vorwärtsgerissen:

»Frau Amtsgerichtsrat, wenn …
man Schoten von Cayenne …
mit Schlangeneiern destilliert …
und mit dem goldnen Kreuz verrührt …
Frau Amtsgerichtsrat, wenn …«

Die geborene Pfeffer hält ihren Schritt an und starrt in die Gesichter der Gymnasiasten, die bewegungslos auf eine Mauer gerichtet scheinen. Sie sieht keinen Mund, der sich bewegt. Sie hört nur die krähende Stimme, die irgendwo aufsteigt, die törichte, stolpernde Melodie, die jedesmal in die letzte Silbe des Verses sich hineinwirft, die dumpfe Begleitung, die kindliche Perfidie der Worte. Sie sieht den Rhythmus des Gesangs sich langsam ausbreiten wie einen Wellenkreis nach einem Steinwurf, stumm, nur in einer taktmäßigen Bewegung der Oberkörper, der Gesichter sich äußernd. Sie steigt die Steintreppe zu ihrer Tür schnell hinauf, und während sie die Hand auf den nachgebenden Messingknopf legt, wendet sie ihr Gesicht noch einmal zurück, nun von der Höhe in die aufwärts gerichteten Gesichter niederblickend, empfängt noch einmal jedes einzelne Gesicht wie ein Brandmal in die Haut ihres Gedächtnisses und sagt, zu alter Würde aufsteigend, laut und deutlich: »Wartet … ihr Rotznasen!«

Dann schließt sich die Tür hinter ihr.

Und dann, ohne erkennbare Ursache, ist es da. Eine bläuliche Wolke mit bösen gelben Rändern wälzt sich über die Dächer heran, reißt ihren Leib an C. A. Runges Schornstein auf und stürzt eine weiße Hagelwand in das dunkle Häuserviereck des Marktes, wo sie zu tausend Atomen zersplittert.

Dann gellt auf zwei Fingern der erste Pfiff gegen die Fenster der Häuser.

Dann kommt Kiepel, ohne Brief, aus dem Amtsgericht, und eine unsichtbare Hand treibt ihm die hohe Wachstuchmütze über die Augen.

Dann fliegt ein Stein in die Fenster des Amtsgerichts, und die Scherben stürzen prasselnd auf das Pflaster hinunter.

Dann geben die drei Laternen des Marktes klirrend ihren Geist auf.

Dann kommen die wenigen Rolläden vor den Schaufenstern herunter, und die Türen der Geschäfte schlagen knallend zu.

Dann beginnen die kleinen Kinder zu heulen, und es klingt wie der Schmerzensschrei junger Tiere.

Dann klirren andre Fenster, zwei, sieben, ein Dutzend, bis in den zweiten Stock hinauf, aber es ist der Hagel, der sie zerschlägt, und die Firmenschilder warfen sich an den Hauswänden stöhnend hin und her in dem Heulen des Sturmes, der aus dem aufgerissenen Leib der Wolke sich niederwirft.

Dann hebt sich die Luftballonflotte, die vor dem Schaufenster von Biber & Co., Herren-, Damen- und Kinderkonfektion, leuchtend hängt, in die Höhe, braust waagerecht, dicht über den Köpfen hinweg, gegen die Wand des Amtsgerichts, schießt an ihr in die Höhe und verschwindet im bläulich verfinsterten Himmel.

Dann schreit aus vor dem Mund gefalteten Händen eine Stimme: »Revolutschon!«

Und dann zerstiebt, lachend, kreischend, johlend, weinend, der ganze Haufe in alle vier Winde, die Frauen die Röcke über dem Kopf, die Männer die Mützen in die Augen gedrückt, die Gymnasiasten die Büchertaschen über die roten Mützen gelegt. Verrauscht in Gassen, Häusern, Höfen, während die Scherben auf dem Pflaster zerspritzen und die Hagelkörner auf dem leeren Platz in die Höhe springen, mit einem knatternden Sausen wie von einer großen Lötlampe, die ihren weißen Strahl auf den Markt von Riechenberg richtet.

Und nichts bleibt übrig als der Glasermeister Frühgeburt, der im Schutz seiner Ladentür steht und sich die Hände reibt, und ein verwehter, halb erwürgter Fetzen einer hohen, krähenden Knabenstimme: »Frau Amtsgerichtsrat, wenn …«


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