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V

Die Konstellation zu Riechenberg, wie die Meteorologen sie gesehen haben würden, war günstig und stationär. Die Sonne stand im Zeichen des Löwen, die Venus leuchtete morgens und abends über der Stadt. Jupiter stand weiß über dem See. Das Maximum über den Azoren hatte sich weit nach Europa verlagert, und die Tage gingen blau, heiß und etwas betäubend über die Dächer der Häuser und Menschen dahin. Wind, Südost, leiser Zug. Vereinzelte Gewitterneigung.

Auch das Menschliche war stationär in Riechenberg und entsprach der Wetterlage, einschließlich der vereinzelten Gewitterneigung.

In der Bürgermeisterei wurde regiert, in den Häusern wurde gehorcht. Es wurde Geld verdient und verloren.

Auf der schwarzen Tafel am Markt wurden Geburten, Todesfälle und Aufgebote angezeigt.

Der Hund des Rentenempfängers Michel hatte sich verlaufen.

Ein Kind aus der Fischerstraße war von einer Kreuzotter gebissen und »dank ärztlicher Hilfe« gerettet worden. Trotzdem hatte, nach einwandfrei festgestellter Genesung, der Vater den Leibriemen abgeschnallt und es übers Knie gelegt, um das Gift gänzlich auszutreiben.

Von Lina wurde behauptet, daß sie sich in andren Umständen befinde. Der Augenschein sprach dagegen.

Von der geborenen Pfeffer wurde behauptet, daß sie dem Pfarrer eine Denkschrift über die Errichtung eines Heims für gefallene Mädchen eingereicht habe. Die Gefallenen sollten gleichzeitig die Fischräucherei Riechenbergs auf eine wirtschaftliche Höhe bringen. Der Augenschein sprach dafür, denn der Pfarrer ging eine Woche lang verwirrt in seiner Gemeinde umher, um zu sondieren. Der Doktor fand in einer erleuchteten Stunde den Titel für das Handelsregister: »Magdalenenheim GmbH. – Gefallene mit besonderer Handfertigkeit.«

Ilse Bierkandt – von der Post –, deren Gesundheit laut Apothekerrechnung angegriffen war, ließ sich ein Kleid aus Spitzen arbeiten.

Der Beginn der Zyklonenbildung äußerte sich in einer Reihe von Ereignissen, die zunächst ohne Zusammenhang miteinander schienen. Die außerdem in sich nicht mehr als lokale Wirbel waren, ohne Bedeutung für die Allgemeinheit. Und die erst durch eine seltsame Verknüpfung diejenige Stärke erreichten, die zur Bildung einer Zugstraße ausreichten. Die Zugstraße führte mitten durch Riechenberg und wühlte die Warmluftmassen der Behaglichkeit so entscheidend auf, daß sie einem Pfluge glich, der durch ein Feld voll reifer Halme verheerend geführt wird.

 

Das erste Ereignis war dieses: Der Schüler Krauthenne sieht am 23. August, 10.32 Uhr, bei einer französischen Klassenarbeit in das Heft seines Nebenmannes, um Klarheit über die Übersetzung des Satzes zu gewinnen: »Wir fürchteten uns nicht, obwohl man uns viel Unglück voraussagte, vorausgesetzt, daß einige Bedingungen sich erfüllen würden, deren Eintreten nicht vorhergesagt werden konnte.«

Dr. Keiserling, genannt »Schmalzbacke«, der am halbgeöffneten Fenster gestanden hat, der Klasse den Rücken wendend, dreht sich so plötzlich um, daß der Sand unter seinen Absätzen knirscht. »Schließen Sie das Heft, Krauthenne, Sie werden wegen versuchter Täuschung eingeschrieben.«

Krauthenne, zunächst perplex, rafft sich zu der natürlichen Frage auf, ob Herr Dr. Keiserling nach hinten sehen könne.

Schmalzbacke, den Federhalter bereits in der Hand, lächelt diabolisch. »Abgesehen davon, daß Sie wegen dieser Frage einen zweiten Tadel erhalten, möchte ich Ihre indianisch ausgebildeten Fähigkeiten darauf aufmerksam machen, daß man in einer im abgemessenen Winkel geöffneten Fensterscheibe sehen kann, was man zu sehen beliebt. Sherlock Holmes und Old Shatterhand wußten das vermutlich schon, als sie Säuglinge waren. Ihre kriminalistisch-exotische Erziehung scheint so lückenhaft wie primitiv zu sein. Schließen Sie nunmehr Ihr Heft.«

Darauf sagte der Schüler Krauthenne, der am Tage vorher bei einem ländlichen Pferderennen angesichts des Sieges bei der letzten Hürde gestürzt ist, unter Berücksichtigung des halbgeöffneten Fensterflügels und der Anspielung auf seinen braunen Bruder Wiltangel: »Saubock!«

Ohne Attribut, Prä- oder Suffix, Erläuterung oder Vorbereitung, mit ruhiger, nüchterner, feststellender Stimme, einfach: »Saubock!«

Es ist so still, als ob der Tod aus dem Turnschuhschrank getreten wäre.

»Was … haben Sie … gesagt?« flüsterte Dr. Keiserling. »Was … haben Sie … gesagt?«

Krauthenne, die Hände unter dem Kinn gefaltet, starrt auf die mit dem Messer eingegrabene Inschrift neben seinem Tintenfaß: SCHLAFWAGEN. Er schweigt.

»Verlassen Sie die Klasse, Krauthenne, und erwarten Sie mich vor dem Amtszimmer des Herrn Direktors.«

Nichts.

»Raus!« brüllt dieselbe Stimme plötzlich. »Raus! Sie … Sie … Abschaum … Raus!«

Er stürzt sich auf Krauthenne, die Hände vorgestreckt. Krauthenne, mit einer schnellen, wachsamen Bewegung, sieht plötzlich von seiner Inschrift auf, blickt von unten kalt und flüchtig in Keiserlings Gesicht und schlägt die Augen nieder.

Die Bewegung, der Blick haben etwas zerschnitten. Keiserling erstarrt in seiner Bewegung und erblaßt. Aus dem Hintergrund der Klasse hebt sich, kaum hörbar, eine finstere, gestaltlose Drohung.

»Beenden Sie die Arbeit«, sagt Keiserling mit flackernder Stimme. »Das übrige wird sich finden.«

Ende des ersten Ereignisses: 10.36 Uhr.

 

Zweites Ereignis: Frau Amtsgerichtsrat Emilie Ewerling, geborene Pfeffer, macht am nämlichen Tage, 23. August, 19.07 Uhr, einen Besuch bei Lina. Sie hat einen kleinen Damenkoffer in der Hand, bläulich, und balanciert vorsichtig, aber eilig, über das Kopfsteinpflaster der Vorstadtstraße. Es hat eines der vorausgesagten Gewitter gegeben, und die Kanalisation von Riechenberg ist nicht auf der Höhe. Sie vermeidet, nach rechts oder links zu sehen, wo das »Volk« vor den Türen sitzt oder steht. Niemand sagt »guten Abend«. Gestern ist der Fischer Naujoks von Herrn Amtsgerichtsrat Ewerling wegen Holzdiebstahls – sechs Stangen vierter Klasse zur Zugnetzfischerei – verurteilt worden. Verschärfung durch Rückfall.

Die geborene Pfeffer hat das nicht bedacht. Sie hat sich auch in der Berechnung des abnehmenden Tageslichtes verschätzt. Es ist zu hell. Aber sie kann nun nicht mehr umkehren.

Lina ist nicht vor der Tür. Wahrscheinlich nährt sie ihre Leibesfrucht, denkt Frau Emilie erbittert.

Es verhält sich so. Eine kleine Küchenlampe brennt auf dem Tisch, und ihr Licht fällt rötlich und sanft auf Linas Brust und den Kopf des Säuglings, der mit leisen Geräuschen trinkt. Linas Gesicht ist zu ihm hinuntergeneigt, und ihr blonder Scheitel hat im Licht der Lampe einen aufgelockerten goldnen Schimmer. Aus den grünkarierten Kissen eines breiten Bettes heben sich die runden Köpfe zweier Knaben und eines Mädchens wie Hasenköpfe aus einem Kleefeld und starren mit runden Augen regungslos auf den Besuch.

»Wat is?« fragt Lina, ohne den Kopf zu heben. Sie glaubt, daß es eine Nachbarin sei, und stützt mit der linken Hand ihre Brust, um es dem Säugling bequemer zu machen.

»Guten Abend, liebe Lina«, sagt die geborene Pfeffer.

»Na, nu schlägt et dreizehn«, erwidert Lina verblüfft und starrt sie an. »De jnä Fru?«

»Ja, liebe Lina. Man muß doch etwas nach Ihnen sehen. Die Zeiten sind ja nicht leicht, und es wird ja auch Ihnen nicht ganz leichtfallen, Ihre beiden Würmer durchzubringen.«

»Von wegen …«, meint Lina nachdenklich, aber dann steht sie doch vorsichtig auf, wischt mit ihrer Schürze über einen Stuhl neben der Lampe und legt dann wieder den Säugling zurecht. »Nu hucke de jnä Fru sick man hin«, sagt sie ohne Ergriffenheit. Eine peinliche Pause entsteht, während der Linas blaue Augen sorgfältig das Bild der geborenen Pfeffer in sich aufnehmen. »Wat et ok all jifft« …«, sagt sie zwischendurch.

Frau Ewerling, der das Blut ein wenig zu Kopfe steigt, öffnet entschlossen ihren Koffer und legt seinen Inhalt vorsichtig auf den Tisch. Kaffee, Zucker, Schokolade, Reis, Grieß, Käse, Kinderschürzen und so weiter. Eine kleine Musterkollektion.

»So, liebe Lina«, sagt sie, »das soll ich Ihnen im Namen des Vaterländischen Frauenvereins überreichen.«

»Un wat wolle Se dafer hebbe?« fragt Lina nüchtern.

»Aber nichts, liebe Lina. Was denken Sie? Wir wollen uns eben ein bißchen um unsre lieben Nächsten kümmern … mit den … ja … mit den Alimenten ist es doch wohl auch nicht immer sehr regelmäßig.«

»Jifft Dinge, wo regelmäßiger sind«, erwidert Lina. »Denn dank ick ok scheen. Den Vadderländischen –«

Frau Emilie beginnt ein lebhaftes Gespräch über das Wetter, die Wirtschaftslage, die Konkurse, den Fischfang, die Außenpolitik. Lina antwortet spärlich mit einer ruhigen Heiterkeit in ihren Augen. Im grünkarierten Bett beginnt es leise zu kichern.

»Ja, und nun ist ja auch Herr Wiltangel zurückgekommen. Der Indianer.«

»Hm …«

»Sie sollen ja einmal – früher – so eine kleine Schwäche für ihn gehabt haben, nicht wahr?« Ein dünnes Lächeln spannt sich um ihre Mundwinkel.

»Grote Schwachheit, jnä Fru, mächtig grote.«

»Ja, die Jugend … Aber er soll Sie ja wieder besucht haben, nicht wahr? Hat Sie über allen Indianermädchen doch nicht ganz vergessen?«

»Nee, und zu de jnä Fru kann he doch nich gut geen …« Und sie betrachtet lächelnd den fehlenden Busen der Frau Amtsgerichtsrat.

Die Lampe zittert, als Frau Ewerling sich erhebt. »Sie schamlose Person!« schreit sie. »Die Sittenpolizei werde ich Ihnen schicken!«

»Stolpern Se man nich«, erwidert Lina. »Da steiht 'n Topp von de Kleenen … Hier dat Vadderlandsche … verjete Se nich, jnä Fru …«

Frau Emilie tritt hocherhobenen Hauptes auf die Straße. Der Rückzug, denkt sie. Haltung, Emilie!

Aber sie hat das Schicksal entbunden. Der Säugling wird in das Grünkarierte gesteckt, ein Kommandowort ergeht an die Kinder, und durch sechs hilfreiche, wenn auch zögernde Hände fliegen die Schürzen, Tüten und Tafeln bis zur Schwelle, auf der Lina steht. Sie spricht nun nicht mehr leise. Sie weiß auch, daß das Recht auf ihrer Seite ist, daß hier etwas Unanständiges geschehen sollte: Bestechung, Aushorchung und Verleumdung.

»Se hebbe de Vadderländer verjete, jnä Fru!« ruft sie. Sie ruft es so, daß Fenster und Türen auffliegen. Die Straße wird zum Publikum. Das Drama rollt vor hundert Augen ab. Die Szene ist von oben erhellt, kein Ausweichen, nach keiner Seite.

Frau Emilie steht auf der scharfen Grenze zwischen Würde und Flucht. Die Füße möchten laufen, eilen, jagen, aber der Kopf befiehlt, zügelt und kämpft einen heroischen Kampf.

Das erste Paket fliegt neben ihre Füße. Der Schmutz spritzt bis übers Knie. Kaffee, denkt sie. Diese Säue!

Ein Pfiff gellt zwischen den Häusern entlang. »Peper, Peper!« johlen Frau Linas Sprößlinge.

»Von wegen!« schreit die Stimme. »Uthorke unn denn Polizei!«

Warte! denkt Frau Emilie. Warte, du Rabenaas! Hinter Gittern wirst du bereuen … Zeugen … Zeugen …

Aber sie sieht grinsende Gesichter. Da ist der Bäcker. Jemand steht auf der Ladetreppe mit schwarzem, wirrem Haar, im dunkelblauen Umhang. Das ist Schreyvogel. Ein Untergebener. Eine Tafel Schokolade segelt wie ein Diskus über sie hinweg. Sie duckt sich wie ein Huhn.

Schreyvogel verbeugt sich, tief, gefährlich tief.

Er grinst. Kein Zweifel. Warte, Freundchen, denkt sie.

»Giftstange!« schreit eine Kinderstimme. »Peperbüchs!« Noch einmal klatscht es hinter ihr in den Schmutz. Dann biegt ein Wagen mit Langholz aus der Seitenstraße herein, baut eine Wand nach rückwärts, einen Schild gegen die Feinde. Ein Gartensteig. An einem Hofzaun entlang. Ein Torweg. Der Markt. Die Rettung.

Ende des zweiten Ereignisses: 19.34 Uhr.

 

Drittes Ereignis: Am nämlichen Tage, 23. August, 19.37 Uhr, sitzt der Postmeister, der Abenddienst macht, am Telegrafen und sieht gedankenvoll dem gelben Streifen zu, der aus dem blinkenden Metall herausrollt. Tscha … Schlußzeichen … Er klebt es sorgfältig auf ein Formular der deutschen Reichspost, füllt mit Bleistift, stumpf, Nummer drei, die linke obere Ecke aus: »Bln. Si. 23. 8. 29 19/38« durch: unleserlich. »Rungewerke Riechenberg, Wagenfuhr Dortmund Konkurs. 25 Mille aktiv. 376 Mille passiv. Verschwunden. Negenborn.«

»Tscha …«, sagt der Postmeister noch einmal, steckt das Blatt in einen Umschlag, schließt ihn sorgfältig und geht in den Briefträgerraum, um es bestellen zu lassen.

Ende des dritten Ereignisses, soweit es postalisch begrenzt ist: 19.47 Uhr.

 

Viertes und letztes Ereignis: Fräulein Ilse Bierkandt verläßt, dienstfrei, am nämlichen Tage, 23. August, 15.03 Uhr, ihr Zimmer in der Seestraße, in ihrem neuen Spitzenkleid, und wandert, einen Sonnenschirm aufgespannt, das Badezeug unter dem linken Arm, über die Brücke hinweg und das bewaldete Ufer nach Süden entlang. Die Gewitterneigung im Südwesten, durch silbergeränderte Kumuluswolken angedeutet, entzieht sich ihrer Beobachtung. Ihre Gemütslage ist heiter. Sie läßt ihre Augen spielen über Gerechte und Ungerechte, wiegt sich ein wenig in den Hüften und hält an jeder Ecke den Atem an, ob die Erscheinung des Exoten, zu Fuß oder zu Pferde, sichtbar werde. Und sie faßt, als er unsichtbar bleibt, den Entschluß, am selben Abend die Apotheke zu betreten und Wolf um eine Unterredung zu bitten, mit der Absicht, Spanisch zu lernen, und der Bitte, ihr behilflich zu sein. Im ersten Waldesschatten verspürt sie eine Anwandlung flüchtiger Melancholie, einer Trauer über ihr einsames, unerfülltes Leben, eine Bedrängung ihres jungen Blutes, und ihr berechnetes Mienenspiel verwandelt sich in das hilflose eines traurigen, unschuldigen Kindermundes. Sie blickt in den Taschenspiegel, lächelt, und eine neue Heiterkeit erfüllt langsam ihr Herz.

Fräulein Bierkandt wählt eine Badestelle in einer bewaldeten Bucht. Weißbuchenäste reichen bis über eine hohe Rohrwand, hinter der Taucher geheimnisvoll rufen. Eine Schilfhütte, von Fischern gebaut und verlassen, von jungen Linden bereits überwuchert, gibt der Landschaft in Fräulein Bierkandts Augen den Anschein eines exotischen Parkes. Nach der anderen Seite öffnet sich der Blick, an der bewaldeten Einfassung der Bucht entlang, auf das blaue Wasser der Ferne, über der die Luft in der Sonne flimmert.

Fräulein Bierkandt streift langsam das Kleid ab, hängt es mit dem Schirm auf einen Holzpflock über der Schwelle der Hütte, streift das wenige ab, was sie darunter trägt, legt es unter ihren Kopf, nimmt eine Zigarette und Zündhölzer aus ihrer Handtasche und liegt dann, lang ausgestreckt, im warmen Gras des Ufers, hört den Specht über sich klopfen, die Taucher vom See rufen, sieht dem blauen Rauch nach, fühlt die Sonne auf ihren braunen Gliedern, weint ein bißchen, lächelt über ihre dummen Tränen, betrachtet ihren Körper, findet ihn, mit Recht, sehr schön, setzt die Badekappe auf, ist mit drei Sprüngen im Wasser, wirft die Zigarette fort, die zischend erlischt, und schwimmt dann in langen, ruhigen Stößen hinaus, dorthin, wo der Brennereischornstein der Domäne weit an jenseitigen Ufern aus den Parkwipfeln emporsteigt.

Nach zwanzig Minuten – 16.10 Uhr – hört sie, in die gespiegelte Bläue des Himmels hineinschwimmend, das erste, nicht mehr ferne Grollen des Donners hinter sich, wirft sich erschreckt herum, sieht eine dunkle Wand über dem fremd aussehenden Walde der Bucht, in dem es bläulich leuchtet, erschrickt … nicht über das Gewitter, sondern über ihr Kleid, und schwimmt mit scharfen, aber abgemessenen Stößen zurück, mit ein klein wenig Herzklopfen, aber ohne verwirrende Nervosität.

In derselben Sekunde erscheint unter den Buchen des Ufers eine Fuchsstute mit kleinen Schaumflecken auf der Brust, und Wolf, von einem zweiten ergebnislosen Besuch bei Hindersin zurückkehrend, umfaßt mit einem schnellen Blick Kleid, Schuhe, Strümpfe und die rote Badekappe weit draußen auf dem bläulichen Metall des Seespiegels. Er schätzt die Entfernung ab, schüttelt den Kopf, lenkt das Pferd ein paar Schritte zurück, steigt ab, sucht eine Stelle mit jungem Graswuchs, fesselt die Stute leicht zwischen den Vorderbeinen, nimmt Sattel, Woilach und Zaumzeug und trägt es unter das Dach der Hütte. Dann trägt er Schuhe, Strümpfe und das wenige dazu, sitzt auf der Schwelle, dreht sich eine Papyros und sieht aufmerksam nach der roten Badekappe hinaus.

Sie nähert sich gleichmäßig, ohne nervöse Hast oder Übereilung. Dann raucht er, den Kopf in beide Hände gestützt, und wartet.

Als die rote Badekappe zwischen Wald und Rohr in die Bucht hineingeschwommen kommt, erbebt der Wald, und der Regen stürzt wie eine Wand über die Erde.

Wolf liegt in der Hütte, lockert mit einer Hand das Rohr in der hinteren Wand, sieht das Pferd ruhig grasen, dunkle, dampfende Regenstreifen auf seiner rötlichen Haut, und stützt sich dann auf einen Ellbogen, den Blick durch die Zweige der jungen Linden auf die Schwimmerin gerichtet, deren Gesichtszüge nun schon klar zu erkennen sind.

Der Regen strömt ihr ins Gesicht, aber als sie sich in dem flachen Wasser aufrichtet und nach wenigen Schritten am Ufer ist, hebt sie beide Arme in die Höhe, mit geöffneten Händen, und steht so, das Gesicht erhoben, in einer schönen Bewegung der Freude und Gelöstheit. Dann läuft sie, mit den Augen verwirrt suchend, nach der Hütte.

»Herein«, sagt Wolf freundlich. »Ich habe das alles beschützt … es ist leichtsinnig, allein so weit hinauszuschwimmen.«

Das Blut in ihren Wangen ist gekommen und wieder gegangen. »Herr Wiltangel«, sagt sie mit erfolglosem Versuch, ein eingeübtes Lächeln hervorzubringen, »der Exote … wie ein Leopard … sind Sie … so schrecklich …«

Er kniet über ihren Sachen und zieht das Badetuch heraus. »Leoparden sind gefleckt«, erwidert er gutmütig. »Ich hoffe, daß ich noch nicht so weit verwildert bin … Komm schon … du zitterst ja …«

Das Dach ist so niedrig, daß sie knien müssen. Er trocknet sie sorgfältig ab. Ihr Gesicht hat alle Sicherheit des Spiegels, der Koketterie, der Berechnung verloren. Es ist ein Kindergesicht geworden, blaß, mit zitternden Lippen.

Er besteht darauf, sie mit dem Woilach zu bedecken, und duldet, daß sie eine Hälfte um ihn schlägt. Wald und See sind finster wie in einer frühen Dämmerung. Die Blitze zischen über den dunkelschäumenden See, im Donner erbebt die Erde, auf der sie liegen, und der Regen rauscht mit einer beglückenden Erlöstheit auf das Dach der Hütte.

Es dämmert, als sie sich ankleidet. Als sie die Strümpfe überstreift, denkt sie flüchtig, daß das alles umsonst gewesen sei, das Kleid und das andere, daß es nicht nötig gewesen wäre. Sie hält in ihren Bewegungen inne und errötet. »Es ist ganz anders gekommen …«, sagt sie leise.

Er sieht durch die Hinterwand nach dem Pferd, wendet flüchtig den Kopf und nickt. Dann nimmt er Sattel, Woilach und Zaumzeug und geht hinaus. Als er das Pferd am Zügel zur Hütte bringt, ist sie fertig.

»Höre, kleines Mädchen«, sagt er ernst und legt die Hand auf ihr feuchtes Haar. »Es gibt keine tragischen Bindungen daraus, nicht wahr? Ich hab' dich gern, aber ich liebe dich nicht. Und wenn ich sagen werde, daß es zu Ende ist, dann ist es ohne Szenen zu Ende. Einverstanden?«

Ihre Augen sind feucht. »Du mußt nicht denken, daß ich ein kleines Postfräulein bin«, erwidert sie tapfer.

»Schön«, sagt er.

Sie sieht ihm nach, bis er in den Buchenschatten verschwindet. Ein leiser Wind geht hoch über den dämmernden Wald. Die Tropfen stürzen unter seinem Weg auf das vorjährige Laub. Es ist, als gingen viele Füße an ihr vorüber durch den Wald. Aber sie fürchtet sich nicht. Noch einmal, unterwegs, kommen die Tränen. Aber sie schüttelt den Kopf, und als die matten Lichter der Stadt hinter den Bäumen erscheinen, singt sie leise vor sich hin. Wolf singt nicht, als er über die Brücke reitet. Er sieht nach dem weißen Haus hinüber. Die Zügel liegen lose in seiner Hand. Sein Gesicht ist finster und zugeschlossen.

Ende des vierten Ereignisse, soweit im Rahmen der Hütte sich abspielend: 19.17 Uhr.


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