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4.

In der grauen Wolkendecke, die den ganzen Himmel überzogen hatte, klaffte nur im Osten ein schmaler, trübgelber Riß, von blutigroten Rändern umzogen, das Nahen der Sonne und kommenden Regen kündend.

Ein heftiger, sturmartiger Wind ging dem plötzlichen Witterungsumschlag voraus. Aber er machte den vom Lilienfeste in heiterster Stimmung Heimkehrenden den größten Spaß.

Während Herren und Damen, fest in ihre Mäntel gehüllt, die Hüte tief ins Gesicht gezogen, gegen die mutwillige Windsbraut ankämpften, rief man einander neckende Worte zu, lachte und scherzte.

Nur Kornelia Heinloth, die mit Kommerzienrat Salten und Gräfin Heide dicht an den Häusern hinschritt, war wortkarg und still. Sie schien die häßliche Szene mit Menacher nicht verwinden zu können, hatte sich aber doch nicht von den andern absondern mögen.

Die vor dem Union-Hotel wartenden Droschken und Equipagen heimschickend, hatte man beschlossen, in der Morgendämmerung zur Bischofsinsel hinauszuwandern, um in dem beliebten Vergnügungslokal zwischen Wald und Wasser bei Sonnenaufgang gemeinsam den Kaffee einzunehmen.

Die Lustigkeit der noch immer zahlreichen Gesellschaft erreichte ihren Höhepunkt, als ein heftiger Windstoß plötzlich Professor Steinherrs weichen Schlapphut entführte und wie ein riesiges dunkles Blatt durch die Luft wirbelte.

»Der schönste Aeroplan!«

»Laß dir ein Patent auf das Modell geben, Professor.« –

»Ein Zeppelin kann nicht besser lenkbar sein.« –

»Wahrhaftig, er steuert gerade in die Mauerstraße.«

»Und vor des Professors Haustür wird er landen.«

Der Gelehrte hörte bei der eifrigen Verfolgung des desertierten Hutes nicht auf die ihm nachgerufenen Spötteleien, aber an der Ecke der Mauerstraße kam er nicht weiter. Ein Menschenauflauf hemmte seine Schritte. Von dem Garten an der Ecke der Prinzenpromenade bis weit hinein in die engere Nebenstraße standen dicht gedrängt die Leute, aufgeregt flüsternd, gestikulierend und so ganz von einem wichtigen Vorfall in Anspruch genommen, daß ein Bursche, auf dessen Schulter der niedergefallene Hut liegengeblieben war, es nicht einmal bemerkt hatte.

»Was gibt es denn da?« fragte Professor Steinherr, sein Eigentum wieder an sich nehmend.

»Ein Mord ist geschehen.«

Der Gelehrte starrte die Frau, die die Antwort gegeben, entsetzt an. »Hier, – auf offener Straße?«

»Nein, in dem Schöllerschen Anwesen. Die Gerichtskommission muß jeden Augenblick kommen.«

»Die alten, ehrlichen Gärtnersleute?« erkundigte sich schaudernd der Professor, der, in der Nachbarschaft wohnend, mit allen Verhältnissen in der Umgebung bekannt war.

»Die nicht, – aber ganz in der Nähe –«

Dem Professor stockte der Atem. »Doch nicht im Gartenhäuschen, – wo der Fremde wohnt?«

»Jawohl, der Indier.«

»Robert Rivinius?«

»Erstochen hat man ihn gefunden.«

Ein gellender, schmerzlicher Aufschrei folgte wie ein schauerliches Echo den letzten Worten.

Betroffen, entsetzt wandten sich aller Köpfe um.

Leichenblaß, mit offenem Munde, mit schreckhaft geweiteten Augen war Kornelia, die mit dem Rest der Gesellschaft eben die Ecke der Mauerstraße erreicht hatte, dem Kommerzienrat in die Arme gesunken.

»Die Heinloth ist's!« lief es flüsternd durch das Gemurmel der Neugierigen.

»Die Arme. Sie hat ihn gern gehabt.«

»Ja, ja, – jetzt sieht man's, daß es wahr gewesen, daß das mit dem Menacher nur Geschwätz war.«

Während der Kommerzienrat, von der Gräfin unterstützt, die ohnmächtige Künstlerin in die nahe Greifenapotheke, an der man die Nachtglocke gezogen, brachte, um sie durch geeignete Mittel wieder zur Besinnung zu bringen, wandte sich das Interesse der Menge bereits wieder anderen Dingen zu.

Die Untersuchungskommission traf ein. Aber die Neugierigen, die durch das Gitter nachdrängen wollten, sahen sich enttäuscht, denn der Amtsrichter Martin Euler, ein noch jugendlicher, doch entschlossener und energischer Mann von hagerer, nerviger Gestalt, mit glatt rasiertem Gesicht und leicht gelocktem, braunem Haar, ließ sogleich die Pforte schließen und wandte sich an den Schutzmann, der ihn am Eingang des Gartens erwartete.

»Sie haben die Tat entdeckt und die Meldung an das Polizeibureau erstattet?«

»Zu Befehl, Herr Amtsrichter.«

Richard Siedler, der als Unteroffizier zum Sicherheitsdienst übergegangen war und seine militärischen Gewohnheiten nicht vergessen konnte, richtete sich stramm auf und schlug die Hacken zusammen.

»Auf welche Weise? Wollen Sie mir kurz das Nähere berichten.«

»Zu Befehl. Ich war von zwei Uhr ab zum Patrouilledienst auf der Prinzenpromenade kommandiert. Gleich bei Antritt desselben fiel mir die hier im Gartenhause so spät noch brennende Lampe auf, deren Schein bis auf die Straße sichtbar war.«

»Und da forschten Sie nach?«

»Zunächst hielt ich mich nicht dazu berechtigt. Die Pforte war geschlossen, und die Gärtnersleute schliefen. Ich hätte sie erst wecken müssen. Auch nahm ich an, daß Herr Rivinius –«

»Sie wußten, daß der hier wohnte?«

»Gewiß, – daß der Herr vielleicht noch spät arbeite.«

»Also weiter.«

»Eine Stunde später erhob sich dann ein plötzlicher Sturm. Ich sah, daß die Petroleumlampe, die immer noch brannte, heftig flackerte. Der Wind mußte das vielleicht nur angelehnte Fenster aufgerissen haben, und es bestand die Gefahr einer Explosion.«

»Das Fenster wurde also nicht geschlossen oder die Lampe tiefer geschraubt?« unterbrach ihn der Amtsrichter.

»Zu Befehl, nein. Der Bewohner muß um diese Zeit schon tot gewesen sein. Ich nahm an, daß er eingeschlafen oder sich entfernt und das Licht zu löschen vergessen habe. Deshalb hielt ich mich zum Einschreiten befugt und weckte die Gärtnersleute. Der Mann, der selbst ein Unglück befürchtete, führte mich zu dem Häuschen hinüber, dessen Türen unverschlossen waren.«

»Und da fanden Sie?«

»Was Sie hier sehen, Herr Amtsrichter,« antwortete der Schutzmann, den Schlüssel aufdrehend und die Tür öffnend.

»Es ist alles unverändert. Ich habe sofort zugesperrt. Sogar die Lampe brennt noch.«

»Löschen Sie die Flamme,« gebot der stets ruhig und kühl überlegende Richter. »Zusammen mit der Dämmerung täuscht das Licht nur das Auge.« Dann erst sah er sich prüfend am Orte des Schreckens um.

»Ich denke, man wird es mit einem Selbstmord zu tun haben.«

»Herr Amtsrichter erlauben –«

»Sind Sie anderer Ansicht, Siedler?«

»Wenn Herr Amtsrichter sich selbst überzeugen möchten –«

Martin Euler überflog mit raschem Blicke die vorgefundene Situation.

Auf dem eleganten roten Plüschsofa sah man die Leiche des Indiers in halb sitzender, halb liegender Stellung. Das Gesicht mit den nur leicht verzerrten Zügen war nach oben gerichtet, der Kopf auf der Seitenlehne ein wenig hintenübergesunken. Die rechte Hand hatte sich krampfhaft in den weichen Stoff des Sofas gewühlt, die linke lag schlaff auf der Brust.

Dort, wo sie auf dem weißen Vorhemd auflag, begann ein dünner, roter Kanal, der sich über Weste und Beinkleid bis auf den Teppich hinunterzog.

Bezirksarzt Dr. Eller, der auf den Wink des Amtsrichters herantrat, faßte die schon eiskalt sich anfühlende Hand und entfernte sie vorsichtig.

Unter ihrer deckenden Fläche zeigte sich ein kleines, dreieckiges Loch, das in der Hemdbrust direkt über dem Herzen lag.

»An dem Tode ist nicht zu zweifeln?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Er muß bereits vor mehreren Stunden plötzlich und wahrscheinlich schmerzlos eingetreten sein. Die Glieder sind kalt, das Blut ist bereits geronnen und getrocknet.«

»Wann glauben Sie, daß das Ende erfolgte?«

Doktor Eller zog die Uhr aus der Tasche des Toten und legte sie an das Ohr. Sie ging noch und bot keinen Anhalt. »Dem Zustand der Leiche nach kurz vor oder bald nach Mitternacht.«

Ehe der Amtsrichter weiter fragte, bedeutete er dem Schreiber, die Aussagen des Bezirksarztes zu protokollieren, und musterte mit seinen grauen, kalten und klugen Augen die übrige Einrichtung und Ausstattung des Zimmers.

Zur Rechten stand die Tür zum anstoßenden, einfenstrigen Schlafkabinett halb geöffnet. Der vornehme und behagliche Raum enthielt außer den am runden Sofatisch stehenden bequemen Lehnstühlen noch einige Mahagonisessel mit Rohrgeflecht, einen Spiegelschrank, eine altertümliche, geschweifte Kommode, ein Bücherregal, einen flachen, breiten Diplomatenschreibtisch, grün bezogen und ohne Aufsatz, sowie an der Wand zwischen den beiden Fenstern einen Sekretär, in dessen Klappe der Schlüssel steckte.

Hier blieben Eulers Blicke haften. »Sie sagten, das eine Fenster sei geöffnet gewesen?«

»Zu Befehl, Herr Amtsrichter,« trat der Schutzmann vor, »ich habe es geschlossen des Sturmes wegen, um die Lampe nicht löschen zu müssen. Aber ich habe die Weite der Öffnung genau gemessen, hier, – das Bandmaß –«

»Schon gut. Und das zweite Fenster?«

»War fest geschlossen.«

»Das im Schlafzimmer?«

»Ebenfalls.«

Der Amtsrichter bückte sich und hob unter dem Tische eine bis zur Hälfte gerauchte Zigarre auf. Die abgefallene, glühende Asche hatte ein sichtbares Loch in den dicken, weichen und zottigen Teppich gebrannt. Sinnend hielt er die Zigarre in der Hand.

»Nun?« Die Frage galt dem Arzt, der inzwischen die genauere Untersuchung beendigt hatte.

Der Doktor sah nach dem Tische hinüber. »Die Wunde ist unzweifelhaft mit der dort liegenden Waffe verursacht worden.«

Martin Euler nahm das dolchartige Messer auf – und betrachtete es prüfend.

Es war orientalische Arbeit, ein Prachtstück von Waffenschmiedsarbeit, das der Tote von einer seiner weiten Reisen mitgebracht haben mochte. Die bläulich glänzende, haarscharfe Klinge endete in einem Griff, der eine grüne, gewundene Schlange darstellte, in deren Kopf zwei Rubinen gleich roten, tückischen Augen funkelten.

»Der Stahl hat keine Blutrinne.«

»Eben das bestätigt meine Beobachtung. Der Blutverlust nach außen ist gering gewesen, der Tod durch innere Verblutung erfolgt. Solche Waffen wirken unbedingt tödlich.«

»Das war Herrn Rivinius jedenfalls bekannt, wenn er sich das Leben nehmen wollte?«

Der erneuten, abwehrenden Bewegung des Schutzmanns schloß sich diesmal auch der Arzt an.

»Unmöglich!« klang es aus beider Munde.

»Warum meine Herren?«

»Die Waffe lag viel zu weit von dem Toten entfernt. wenn er sich den Stahl ins Herz gestoßen, konnte er niemals mehr die Kraft haben, ihn wieder herauszureißen und bis auf den Tisch zu werfen. Der sofortige Eintritt des Todes mußte das verhindern.«

Martin Euler lächelte. »Gut, ich wollte nur wissen, ob meine Überzeugung die richtige sei. Herr Rivinius muß also von fremder Hand ermordet worden sein?«

»Wahrscheinlich ahnungslos überfallen,« nickte der Bezirksarzt. »Dafür spricht der Mund des Toten, die Lippen, die wie im Aufschrei der Überraschung erstickt und offen geblieben sind.«

»Dafür spricht auch diese Zigarre, die brennend auf den Teppich herabfiel und erst dort erlosch. Haben Sie das alles, Herr Sekretär?« wandte sich Euler nach dem Protokollführer um.

Die Feder flog in kratzender Hast über das Papier. »Sogleich, Herr Amtsrichter.«

In der entstehenden Pause wandte Martin Euler seine Aufmerksamkeit dem Teppich zu. Er sah stellenweise wie zertreten und zusammengerollt aus, die Stühle waren verschoben, während sich im übrigen Zimmer nicht die geringste Unordnung zeigte. »Auf diesem Fleck muß sich alles abgespielt haben –« schloß er, »der Täter, der durch das Fenster eingestiegen ist, kann nicht weiter gekommen sein, als bis hierher, und muß den gleichen Weg zurück genommen haben.«

Ungeduldig sah man der vollen Tageshelle entgegen, um den Garten nach den Fußspuren des Mörders untersuchen zu können.

In der letzten Stunde war ein leichter, nebelartiger Regen gefallen, aber er konnte nach der vorhergegangenen tagelangen Trockenheit etwaige Tritte, soweit sie sich dem harten Boden eingeprägt, unmöglich verwischt haben. Bis die Sonne ganz herauskam, blieb noch Zeit, die Gärtnersleute zu vernehmen.

Die beiden Alten, ganz niedergeschlagen von der schrecklichen Begebenheit, kamen zögernd herein.

Der grauhaarige Mann zitterte beim Anblick der Leiche am ganzen Körper und stellte sich so verwirrt, daß keine zusammenhängende, vernünftige Antwort aus ihm herauszubringen war. Offenbar bildete er sich ein, man habe ihn als Mörder im Verdacht, und das raubte ihm völlig den Verstand.

Die Frau dagegen, die immerfort die Hände rang und, sobald sie auf den Toten blickte, zu schluchzen begann, zeigte sich den Fragen gegenüber gefaßter.

»Gewiß und wahrhaftig, Herr Amtsrichter, gehört haben wir gar nichts.«

»Sie sind wohl sehr zeitig zu Bett gegangen?«

»Um zehn Uhr, wie alle Abend, nachdem wir die Gartenpforte und die Tür des Häuschens sorgfältig verschlossen hatten. Herr Rivinius besaß zu allem Schlüssel, aber er pflegte nie zuzusperren.«

»Ob Ihr Mieter nachts oft lange die Lampe brannte, können Sie also wohl nicht wissen?«

»Oh, doch, wenn sie am Morgen ganz ausgebrannt war.«

»Kam das öfters vor?«

»Nur selten. Herr Rivinius war viel im Theater und abends fast immer auswärts. Wann er heimgekommen, haben wir nie gehört.«

Der Amtsrichter legte die tödliche Waffe, die er noch immer in der Hand gehalten, an den früheren Platz zurück und sah durch das Fenster. »Es ist hell genug, Siedler, ich denke, Sie können Ihre Nachforschungen beginnen. Zuvor aber telephonieren Sie noch Herrn Kriminalkommissar Schild, da es sich ja zweifellos um ein Verbrechen handelt. Er soll so rasch wie möglich kommen, vier Augen sehen besser als zwei.«

»Darf ich jetzt gehen, Herr Amtsrichter?« fragte die Gärtnersfrau, die unter der Angst ihres Mannes mitlitt und sehnlich auf den Augenblick, loszukommen, wartete.

»Noch nicht. Zuvor habe ich noch verschiedene Fragen an Sie zu richten. Hat Herr Rivinius öfter Besuche empfangen?«

»Fast gar nicht.«

»Auch keine Damen?«

»Ich wüßte nicht, wann.«

»Er wird aber doch Freunde, Bekannte in der Stadt gehabt haben?«

»Nur einen. Aber das war bloß in der ersten Zeit.«

Martin Euler horchte auf. »Und wer war das?«

»Der Herr Menacher.«

»Der Chemikalienhändler und Hofdrogist in der Auenstraße?«

»Derselbe. Und wenn er nicht selbst kam, hat er seinen Burschen geschickt.«

»In der letzten Zeit ist das also nicht mehr geschehen. Wissen Sie, warum?«

»Darüber kann ich nichts sagen. Sie müssen sich wohl gestritten haben. Die Leute reden so allerlei.«

»Hm. Was reden sie denn zum Beispiel?« fragte der Amtsrichter, der allmählich auf eine Spur zu kommen glaubte.

»Daß der gnädige Herr es mit dem Fräulein Heinloth vom herzoglichen Theater habe und der Herr Menacher ihm deshalb böse sei.«

»Eifersucht also. Ist die Dame auch einmal hier gewesen?«

»O nein.«

»Aber Ihr Mieter ging ihretwegen sehr viel ins Theater, vielleicht auch gestern abend?«

»Gestern abend, gewiß.«

»Hat er mit Ihnen davon gesprochen?«

»Ja, weil ich ihm doch am Nachmittag habe ein Billett an der Kasse holen müssen.«

»Tat Herr Rivinius das nicht selbst?«

»Sonst schon. Aber gestern konnte er nicht. Er sagte, er müsse ausfahren.«

»Wissen Sie, wohin?«

»Nein. Aber er hat das Rad genommen und ist, wie mein Mann gesehen hat, zum Brunnentor hinaus.«

Der Alte brachte es fertig, auf die Frage des Amtsrichters zustimmend zu nicken. »Jawohl.«

»Und ist er lange fortgeblieben?«

»Zwei Stunden können es schon gewesen sein.«

»Sie haben ihn dann wiederkommen gesehen?«

Beide Alten bejahten. »Es war kurz, ehe er zum Theater ging.«

»Ist Ihnen da etwas aufgefallen?«

»Aufgefallen?« wiederholte der Gärtner, der den Sinn der Frage nicht zu verstehen schien.

Die Frau, die einen Augenblick nachgedacht, kam ihm zu Hilfe. »Der Herr war sehr erhitzt vom Fahren, aber doch blaß. Er schien aufgeregt und ärgerlich zu sein.«

»Den Grund hat er Ihnen nicht gesagt?«

»Er hat überhaupt nicht mit uns gesprochen und ist gleich auf seine Zimmer gegangen.«

Der Amtsrichter ließ eine Pause eintreten, um sich selbst einige Notizen zu machen. Während er noch damit beschäftigt war, kam der Schutzmann wieder herein.

»Ist der Herr Kriminalkommissar schon da?« fragte aufblickend Euler.

»Er wird in einer Viertelstunde kommen und gleich den Polizeihund Lady mitbringen.«

»Gut. Haben Sie selbst etwas gefunden?«

»Zu Befehl, Herr Amtsrichter. Eine Fußspur, gar nicht weit vom Fenster. Sie zieht sich gegen das Gitter zu und hört dort auf.«

»Der Mann müßte also über den Zaun gestiegen sein?«

»Er kann auch an demselben entlang gegangen sein, denn bis zur Pforte ist Kies gestreut, in dem sich Tritte nicht abprägen.«

»Haben Sie aber nicht vorhin gesagt, die Pforte sei geschlossen gewesen?«

»Zugemacht wohl, aber nicht mit dem Schlüssel gesperrt, ebenso wie die Türen hier im Gartenhause.«

Martin Euler überlegte. Der Dieb, wenn es ein solcher gewesen, mußte, nachdem er zum Fenster eingestiegen, es so eilig gehabt haben, daß er nicht nur die Lampe zu löschen, sondern auch Tür und Fenster zu schließen vergessen hatte. Vorläufig aber mußte festgestellt werden, ob in dem Zimmer des Ermordeten überhaupt etwas geraubt war. Die peinliche Ordnung, in der sich alles zu befinden schien, sprach dagegen.

Er ließ Siedler den Sekretär öffnen, aber hinter der Klappe zeigten sich verschlossene Fächer und Schubladen. Nur eine der letzteren war offen und enthielt einen kleineren Schlüsselbund.

Der Schutzmann probierte die einzelnen Schlüssel, aber sie paßten nicht.

Die Gärtnersfrau erklärte auf Befragen, daß sie zu der Kommode, dem Spiegelschrank und der Tischschublade gehörten.

Aber als man sie öffnete, zeigte sich nirgends die geringste Unordnung und Verwirrung. War ein Einbrecher in der Wohnung gewesen, so hatte er hier jedenfalls nicht nachgesucht.

»Und die Schlüssel zu den Innenfächern des Sekretärs?« fragte der Richter.

»Die pflegte der Herr in der Tasche zu tragen.«

Siedler sah nach und brachte in der Tat einen kleineren Schlüsselbund zugleich mit einem wohlgefüllten Portemonnaie zum Vorschein.

Kopfschüttelnd prüfte Martin Euler den Inhalt. Neben ein paar kleineren Banknoten fanden sich Geldsorten aller Größen, darunter einige Zwanzigmarkstücke, so daß das Ganze eine Summe von mehr als hundert Mark ausmachte. Wie konnte einem Raubmörder diese Nächstliegende, so wertvolle Beute entgangen sein?

Während der Schutzmann aus den übrigen Taschen noch ein Notizbuch, Uhr, Zigarrenetui, einen Bleistift und andere Kleinigkeiten hervorzog, trat Kriminalkommissar Schild ein, der seinen vierfüßigen Begleiter vorläufig im Hausflur zurückgelassen hatte.

Der schmächtige, unscheinbar aussehende Beamte mit den zu lang geratenen Händen und Füßen, der mit seinem blassen Gesicht, dem dünnen Bartanflug über den aufgeworfenen Lippen, dem glatt anliegenden Haar und der gebeugten Körperhaltung eher einem Sträfling als einem Polizisten glich, und dessen schmalem Kopfe nur die kalten, durchdringenden Augen einen charakteristischen Ausdruck verliehen, untersuchte nochmals die Leiche und ließ sich von dem Bezirksarzt die nötigen Erklärungen geben.

Martin Euler öffnete unterdessen die einzelnen Fächer des Sekretärs, die nichts irgendwie Wichtiges enthielten. Auch sie schien keine fremde Hand berührt zu haben. In einer Schublade fanden sich sogar abermals Silbermünzen, Banknoten und Gold, wenn auch kein hoher Betrag.

Ein vielsagendes Lächeln glitt um die unschönen Lippen des Kommissars. »Der Mörder scheint sich eben nicht mit Kleinigkeiten abgegeben zu haben.«

»Sie glauben noch immer an einen Raubmord?« meinte etwas verwundert der Richter.

»Solange wir kein anderes, irgendwie glaubbares Motiv entdecken, allerdings.« Unvermutet wandte er sich zu der Gärtnersfrau um. »Herr Rivinius soll reich gewesen sein. Ist Ihnen bekannt, ob er nicht oft größere Geldsummen im Hause hatte?«

»Darum habe ich mich nicht gekümmert. Nur gestern –«

»Gestern, was war da?«

»Da muß er gleich zehntausend Mark gehabt haben.«

»Woher wissen Sie denn das?«

Die Alte fuhr bei dem scharfen Ton ganz eingeschüchtert zusammen.

»Weil er's selber gesagt hat.«

»Ihnen?« mischte sich der Amtsrichter verwundert ein.

»Ja, – gestern vormittag war's, da hat er erzählt, daß er beinahe zehntausend Mark, die er gerade von der Bank geholt und in seiner Brieftasche gehabt, verloren hätte, wenn sie ihm ein ehrliches Mädchen nicht wiedergebracht hätte.«

»Hat er den Namen des Mädchens genannt?« fragten Richter und Kommissar fast gleichzeitig.

»O ja, – das Nettchen, die Zofe von dem Fräulein Heinloth.«

Andreas Schild notierte sich den Namen.

»Darf ich fragen, Herr Amtsrichter, wieviel Geld sich bisher vorgefunden hat?«

»Etwas über dreihundert Mark.«

»Was für die Tagesausgaben berechnet war. Die große Summe also fehlt!«

»Wenn wir sie nicht finden.«

Siedler mußte noch einmal so vorsichtig wie möglich, um die Lage nicht zu verändern, die Kleider des Toten durchsuchen.

Im Futter der Weste fand sich noch eine seiner Aufmerksamkeit bisher entgangene Tasche, in der eine dünne, braune Brieftasche steckte. Sie konnte nur Kassenscheine enthalten.

Mit hochgradiger Spannung folgten die Blicke aller Anwesenden der Hand des Kommissars, die die Brieftasche öffnete.

Sie war leer, bis auf die Photographie einer Dame und einige Legitimationspapiere. Von Banknoten fand sich keine Spur vor.

»Jetzt wissen wir, was der Mörder gesucht – und gefunden hat,« sagte triumphierend Andreas Schild. »Daß er das Übrige unberührt ließ, war schlaue Berechnung.«

Ein wenig beschämt und verlegen, daß dem Kommissar die entscheidende Entdeckung vorbehalten war, trat Martin Euler an den Schreibtisch, schlug das deutliche Blutspuren zeigende Stilett in starkes Papier ein und verschloß das Paket mit dem amtlichen Siegel.

»Und jetzt zu Ihrer Entdeckung im Garten, Siedler.«

Nachdem Schild die deutsche Schäferhündin noch in das Zimmer geführt und die Witterung hatte nehmen lassen, ließ man die Leiche unverändert, verklebte die Tür mit Siegeln und begab sich in den tiefen, von schattigen Bäumen überragten, mit mehreren üppigen Blumenbeeten durchzogenen Vorgarten.

Die Gärtnersleute, gegen die von Anfang an kaum der Schatten eines Verdachtes vorgelegen, waren endlich entlassen, zogen es aber vor, zu bleiben, um etwa gewünschte Auskünfte zu geben.

Noch ehe der Schutzmann sie ihm zeigte, hatte Schild bereits die für ein geübtes Auge jetzt im hellen Tageslicht deutlich erkennbaren Spuren bemerkt.

Es waren die Abdrücke eines breiten, kräftigen Männerfußes, die in ziemlicher Nähe des Fensters plötzlich abbrachen und dann deutlich wieder gegen das Gitter zurückführten.

Vor dem Fenster mußte der Einbrecher sich einen Schwung gegeben haben, um die niedere Brüstung, über die man leicht in das Innere gelangen konnte, zu erreichen. Ohne Benutzung der offenen Türen hatte er dann nach vollbrachter Tat den gleichen Rückweg genommen.

Der Kommissar beugte sich nieder, um die Tritte genauer zu untersuchen.

»Es ist kein Mitglied einer internationalen Verbrecherbande gewesen,« äußerte er bestimmt.

»Woraus schließen Sie das?« erkundigte sich Doktor Eller ein wenig ungläubig.

»Aus den Schuhen, die einen Mann des Volkes verraten. Elegante Spitzbuben, die sich in Salons und teppichbelegten Hotelzimmern bewegen, tragen ungenagelte Schuhe. Die des Täters aber hatten am Absatz einen Kranz von Nägeln, die sich deutlich abgedrückt haben. Nur am rechten Schuh fehlen zwei solche in der Mitte. Danach muß der Täter unzweifelhaft festzustellen sein.«

»Der Täter,« ergänzte der Amtsrichter, »der jedenfalls um die zehntausend Mark und die Brieftasche als Aufbewahrungsort derselben wußte.«

Andreas Schild nahm wie immer, wenn er nachdenken wollte, den grauen Filzhut vom Kopfe und strich sich mit der Hand langsam über das kurze, glatte Haar. »Da dürfte wohl nur das Personal der Bank in Frage kommen, bei der das Geld erhoben wurde. Ein Diener vielleicht, der zufällig Zeuge war –«

»Oder jemand, dem die uns genannte Kammerzofe von ihrem Funde erzählte. Ich werde zunächst in dieser Richtung recherchieren,« meinte der Richter. »Siedler, Sie laden mir das Mädchen noch für den heutigen Nachmittag auf mein Amtszimmer.«

»Zu Befehl, Herr Amtsrichter, – und das Fräulein?«

»Was für ein Fräulein?«

»Ich meine die Herrin des Mädchens, die Schauspielerin.«

»Vielleicht ist ihr das Bankhaus bekannt, das die Geschäfte des Ermordeten besorgte. Ich werde die Dame später noch in einer ihre Gefühle schonenden Weise danach fragen lassen. Vorläufig genügt die Aussage der Zofe. Und nun, Herr Kommissar, wollen Sie Ihrer Lady nicht noch Beschäftigung geben?«

»Sie hat die Spur schon aufgenommen. Ich denke, wir brauchen ihr nur zu folgen.«

Der sonst in seinen Voraussetzungen so sichere Beamte schien sich diesmal getäuscht zu haben.

Nach kurzer Zeit schon wurde es der Kommission, die dem eifrig schnuppernden Hunde auf dem Fuße folgte, klar, daß das sonst so kluge Tier diesmal versagte.

Während die Pforte geschlossen und ein von Siedler herbeigerufener zweiter Schutzmann als Posten davorgestellt wurde, lief Lady winselnd und eifrig suchend voraus.

Aber nur eine kurze Strecke. Schon an der Ecke der Mauerstraße, wo nach der Entdeckung des Mordes die Neugierigen sich zusammengedrängt hatten, machte sie halt und begann, offenbar irre geworden, sich im Kreise herumzudrehen.

Erstaunt verfolgte der Kommissar jede Bewegung des Hundes. Hier in nächster Nähe des Tatortes, auf offener Straße, konnte der Mörder unmöglich längere Zeit verweilt haben.

Wirklich schien auch der Hund sehr bald seinen Irrtum zu erkennen. Die Nase am Boden, lief er sprungweise in die Prinzenpromenade, zunächst rechts, kehrte dann aber wieder um und in die im spitzen Winkel abbiegende Auenstraße ein.

Beim dritten Hause blieb er stehen und gab Laut. Als die Nachkommenden ihn erreichten, sahen sie sich vor Menachers Geschäft.

Aber während sie sich noch betroffen und ungläubig ansahen, änderte der Hund schon wieder sein Gebaren. Als fühlte er selbst, auf falscher Spur zu sein, schoß er mit langen Sätzen die Prinzenpromenade zurück, blieb wieder an der Ecke der Mauerstraße stehen und wendete sich dann in toller Unrast in verschiedene Straßen, um schließlich mit einem planlosen Umherirren zu enden.

»Nein, Lady,« rief der Kommissar, geärgert und an dem Erfolg verzweifelnd, indem er den Hund zurückpfiff und an die starke Schnur legte, »hast deinen schlechten Tag. Mit dir ist heute nichts zu machen.«

»Hoffentlich habe ich mit dem ersten Zeugenverhör mehr Glück,« sagte der Amtsrichter, als die Kommission auseinanderging, »und sobald sich der geringste verdächtige Anhaltspunkt bietet, werde ich die weitere Ausnützung desselben Ihrem Scharfsinn überlassen.«

Andreas Schild verbeugte sich geschmeichelt und selbstbewußt zugleich. »An mir soll es nicht fehlen, Herr Amtsrichter.«


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