Johann Carl Wezel
Belphegor
Johann Carl Wezel

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Während der Mahlzeit entwickelte es sich bald, daß der vermeinte Derwisch ein Europäer war. – »Ein Europäer!« rief Belphegor voll Freuden. »Und aus welchem Lande?« »Aus Frankreich«, antwortete jener und seufzte. »Aus Frankreich, das mich mit vielen seiner Söhne undankbar ausstieß. Ich bin der Bruder der unglücklichen Markisinn von E.« – »Der Markisinn von E.!« unterbrach ihn Belphegor. »Der unglücklichen Markisinn, die die gräulichen Türken in vier Stücken spalteten, daß sie großmüthig den Prinzen Amurat bey sich aufgenommen hatte!« – »Ein Zug ihres Charakters! die gute Schwester!« sagte der Alte. »Freund! erzähle mir die Geschichte, daß ich höre und in meinen weißen Bart dazu weine.«

Belphegor gehorchte ihm; und sein Zuhörer hörte ihre widrigen Schicksale mit gerührter Aufmerksamkeit, erhub bey dem Ende der Erzählung seine Augen gen Himmel, indessen ihm etliche Thränen die Wangen heruntertröpfelten. »Diese«, sprach er, »weine ich dir!«

»Aber«, fieng Belphegor nach einer kleinen Pause an, »wie konnte dich, ehrwürdiger Vater, deine Flucht in diese himmlische Einsiedeley, so weit von deinem Vaterlande führen? Du flohest Frankreich.«

»Um einer Ursache willen«, unterbrach ihn der Alte lebhaft, »die die Menschheit mit ewigen Flecken brandmalt – Flecken, die keine Thränen auswaschen können. Wir wurden Opfer der Ruhmsucht eines stolzen Monarchen, des eingewurzelten Vorurtheils, politischer Ränke und des Privathasses und wurden, nach dem öffentlichen Vorwande, der Religion, der Rechtgläubigkeit geopfert. Ich floh nach Deutschland mit einigen meiner vertriebnen Mitbrüder, um es zu bereichern und poliren zu helfen. Ich floh, aber mein Herz blieb in Frankreich, oder es irrte vielmehr mit meiner S** herum; denn unmöglich konnte ihre Liebe sie in einem Lande zurückbleiben lassen, das ihren zärtlichen Freund verstossen hatte. Ich lebte indessen nur zur Hälfte: ich bin von jeher ein Geschöpf gewesen, das mehr in der Imagination als in der Wirklichkeit lebte, glücklich und unglücklich war. Meine verlaßne Liebe erzeugte bald mit Hülfe meiner Einbildungskraft eine Melancholie in mir, die mich von aller Gesellschaft entfernte: ich lebte, dachte und fühlte in der tiefsinnigsten Einsamkeit, und ich dachte nichts als meine S** und fühlte nichts als meine Liebe. Geschäfte und andre Verbindungen zwangen mich häufig, meine Einsiedeley zu verlassen: ich that es mit Widerwillen, mit dem größten Widerwillen, weil keine andre S** in der ganzen schimmernden Gesellschaft, in welcher ich, wie ein Gespenst, täglich herumwanderte, anzutreffen war. Keine, auch nicht die schönste, auch nicht die bewundertste, bewegte den Perpendickel meines Herzens nur um eine Sekunde schneller: alles waren mir steife, unnatürliche Kreaturen, die den Mangel des natürlichen Reizes durch Kunst und Anstand ersetzen wollten, aber ihn für mein Gefühl unendlich wenig ersetzten, durch den falschen Anstrich nur desto mehr vermissen ließen; mein Herz fand nirgends anziehende Kraft und allenthalben Widrigkeiten. Je weniger mein Gefühl gleichsam ausgefüllt wurde, desto mehr verstärkte es sich! und zuletzt war gar nichts mehr übrig, das nicht, so zu sagen wie ein leichter Span auf einem Weltmeere, darauf geschwommen hätte: gar nichts drückte sich ihm ein. Geschwind zerriß ich alle Banden, die mich an die Menschen fesselten, und floh eine Gesellschaft, wo ich allzeit Gelegenheit zum Misvergnügen fand, weil kein Vergnügen meinen Foderungen gleich kam.

Nicht lange nach dieser Entfernung von den Menschen that ich einstmals eine kurze Ausflucht in die Gesellschaft: ich fand ein Mädchen, das gleich bey dem ersten Anblicke eine mehr als magnetische Kraft für alle meine Sinne hatte. Mein Gefühl, das in meiner einsamen Periode mit der Einbildungskraft in genauere Vertraulichkeit gerathen war, erhob sich plözlich zu einer solchen Stärke, daß ich mir selbst sagte: ›Ich habe sie gefunden!‹ – Ein Mädchen voll der süßesten Naifetät, mit der aufrichtigsten Mine, die mit der Zunge und dem Herze in Einer vollkommnen Harmonie stund, ohne Zwang, ohne studierte Höflichkeit, ohne galante Grimassen, voll Natur, voll der unschuldigsten Natur, ohne glänzenden Wiz, aber mit einem feinen Verstande und den gesundesten Grundsätzen geziert – alle diese Züge leuchteten mir auf einmal mit vereinigter Kraft in die Augen. Mein Herz wankte, alle meine Kräfte bis zu den innersten wurden erschüttert, meine Empfindungen vom Grunde aufgewiegelt, mein Kopf schwindelte, die Augen wurden trübe, ich schwärmte, ich schwatzte wie im Phantasieren des hitzigen Fiebers, ich taumelte und sank – durch eine geheime Veranstaltung des Schicksals – an ihren Busen, an den Busen des Mädchens, das jenen Tumult in mir erregte. – O edler Freund! mein altes Herz schlägt noch itzt hurtiger, wenn ich an das Erwachen gedenke, das auf jenen Fall erfolgte. – Das unschuldige Mädchen entsagte aus natürlichem Mitleide allen Foderungen des Wohlstandes und ließ mich an ihrem Busen liegen, trieb alle zurück, die mich von ihr reißen wollten. ›Er ruhet hier sanft‹, sprach sie mit dem naifsten Tone der Gutherzigkeit, ›er liege, bis er wieder erwacht.‹ – Alles sagte sie, ohne zu wissen, daß sie das brennbarste Herz an das ihrige drückte und ein Feuer einsaugen ließ, das nie die Vernunft wieder löschen würde. Ich lag an sie gelehnt; und an sie gelehnt erwachte ich. Himmel! welche Empfindung, als ich um mich blickte! als ich bey meiner ersten Bewegung mit ihrem Blicke zusammentraf! Ich war nicht mehr mein: sie verstund meine Verwirrung, wollte sie mindern und vermehrte sie. Endlich ermannte ich mich; ich sprang auf und gieng hinweg.

Das gute Mädchen merkte genau, daß sie die Ursache meiner Unruhe und meiner Entfernung war. Aber unglücklich, daß diese Bemerkung sie selbst in die schrecklichste Unruhe stürzen mußte! Sie war schon verlobt: das ist mit Einem Worte alles gesagt. Meine natürliche Melancholie wuchs zu der höchsten Stärke an, ohne daß ich das Hinderniß meiner Liebe wußte. Alles war mir schwarz: ich quälte mich mit selbstgeschaffnen Schwierigkeiten; ich marterte mich mit Kummer, daß ich zu dem Besitze meiner Geliebten nicht gelangen konnte, ohne mich im mindesten erkundigt zu haben, ob ihr Besitz unmöglich oder schwer zu erlangen sey. Sie war arm, und eine kleine Ueberlegung wäre zureichend gewesen, meine traurigen eingebildeten Schwierigkeiten zu zerstreuen; allein mein schwermüthiges Gefühl ergötzte mich; die Vernunft würde mir meine Glückseligkeit geraubt haben, wenn sie es wegräsonnirt hätte. Oft genug unterbrachen es meine Geschäfte, auf die ich zürnte und die ich doch gut abwarten mußte, wenn ich nicht an meinem Einkommen leiden wollte. – ›Gott!‹ dachte ich oft in meinen einsamen Stunden, ›warum ordnetest du deine Welt so an, daß tausend geschmacklose Geschäfte, Millionen mit der Empfindung nicht zusammenhängende Dinge den Menschen im Wirbel herumdrehen, daß elende Berufsarbeiten die Zahl der Stunden verringern müssen, die er in dem süßesten Schlummer des Gefühls und der Einbildung verträumen könnte?‹ – Freund! hast Du nie einen Mangel in Deinem Leben empfunden, der jede fühlende Seele unvermeidlich treffen muß? – Die Natur hat eine unendliche Menge Anlässe zur Empfindung in die Welt ausgestreut, aber zu einzeln ausgestreut, jeder Mensch trift auf seinem Wege nur selten einen an: der große Haufe, dessen Gefühl vom Sorgen und Geschäften zusammen gepreßt ist, vermißt nichts; er läßt sogar die aufstoßenden Veranlaßungen vorübergehn, ohne daß eine sich an seinem Herze einhängt und es auf sich zieht. Aber der Mann, bey dem Gefühl alle seine übrigen Kräfte überwiegt, bey dem sich, so zu sagen, alles in Empfindung auflöst, was soll der thun, wenn er allenthalben Sättigung sucht, wenn er seine Glückseligkeit gern haufenweise verschlingen möchte und sie ihm doch nur gleichsam in einzelnen Bissen zugezählt wird: muß ein solcher nicht bey der gegenwärtigen Einrichtung der Welt einbüßen? Konnte die Natur unsern Planeten und seinen Bewohner nicht so anlegen, daß er, mit wenigem, mit dem Nothdürftigen zufrieden, seine Bedürfnisse niemals erweiterte, niemals in die tolle Geschäftigkeit sich hineinwarf, zu welcher ihn itzt unzählige, unvermeidliche Nothwendigkeiten hinreißen? Wäre die Welt gleich weniger thätig, weniger lebhaft geworden, wäre sie nicht dafür glücklicher? Was nützt es, daß itzt jedermann eilfertig nach seinem Vortheile läuft, rennt und andre wegstößt? Nimmt man diese unglückliche Geschäftigkeit der Welt, diese Mutter so unzählbarer Uebel hinweg, müssen nicht alsdann alle die unseligen Leidenschaften wegfallen, die itzt Menschen von Menschen trennen und selbst den empfindenden Zuschauer dieses allgemeinen Kampfjagens der Welt das Leben verbittern? Die Menschheit ist gewiß nichts dadurch gebessert, daß sie sich zu den gegenwärtigen Bequemlichkeiten und dem Ueberflusse der Europäer emporarbeitete, daß man nicht mehr Eicheln, sondern die mannichfaltigen Schmierereyen der Mundköche genießt, daß man nicht mehr auf Stroh, sondern Matratzen oder Federbetten schläft, daß man statt des klaren Bachs in einen französischen oder venezianischen Spiegel sieht: gewiß im Grunde nichts gebessert, nichts glücklicher! Alles hierinne bestimmt die Gewohnheit: diese machte es, daß vormals englische Lords auf einem Schneeballen so sanft ruhten als itzt ein englischer Zärtling auf dem seidnen Kopfküssen. Nach meinem Wunsche und meiner Einbildung sollte der Mensch mitten auf seinem Wege zur Verfeinerung stehen bleiben, wenn er auch gleich nicht auf der ganz untersten ewig seyn wollte: die Materialien der Geschäftigkeit und der Begierden, die ihn itzt herumtreiben, sollte vor ihm verborgen und er ein ruhiger, sanfter Hirte, höchstens ein Ackersmann bleiben. Die Erde wäre nicht zu enge für die Beybehaltung dieser Lebensart gewesen, wenn nur die Menschen nicht die tollen Begierden besessen hätte, über und neben einander her zu kriechen. Und, Freund! bey jener geringen, mittelmäßigen Geschäftigkeit sein Leben unter dem Schatten der Empfindung ohne Politik, ohne Oekonomie, Jurisprudenz, Handel und andre Vervollkommungen, die den Menschen zum kalten, fühllosen Geschöpfe, leer von Imagination und Empfindung machen, ordentlich und ruhig hinwandeln, welch ein Glück! Welch eine Herrlichkeit, wenn ich damals für mich und meine Lucie die Erde so hätte umschaffen können! Wahr ist es, ich hätte geträumt. Aber süßer Traum ist doch besser als bittres Wachen. Meine Geschäfte verbitterten mir wirklich mein Leben außerordentlich: sie störten meine Melancholie und wurden von meiner Melancholie gestört; und am Ende meines Härmens erfuhr ich, daß Lucie verlobt und gar verheirathet war, daß sie an einen der verächtlichsten Männer des Landes verheirathet war. Welch ein Donnerschlag für einen trübsinnigen Liebhaber! Ich empfieng täglich die schrecklichsten Nachrichten von seinem Betragen gegen sie. Der Unmensch, das unsinnigste Geschöpf des Erdbodens, das gar nicht aus der Hand Gottes gegangen seyn kann, quälte sie aus Eifersucht und zuletzt aus bloßem tyrannischen Muthwillen: er merkte, daß auf dem Boden ihres Herzens eine Zuneigung lag, die durch die aufgezwungene eheliche Pflicht nur niedergedrückt, aber nicht getödtet war. Er merkte dies blos, weil seine angeborne Eifersucht oder vielleicht das Bewußtseyn seines Mangels am Verdienst ihn voraussetzen hieß, daß sie ihn nicht ganz und jeden andern mehr lieben müßte. Ohne die mindeste Veranlassung zu diesem Argwohne behandelte er sie als wenn er völlig bewiesen wäre. Er foderte eine Bedienung von ihr, die er kaum der niedrigsten Magd zumuthen konnte: sie mußte ihn auf seinen Befehl die Speisen auftragen, auf seinen Befehl fasten oder essen, ihn ankleiden und ausziehn und die schlechtesten Dienste verrichten, indessen daß die Aufwärterinn, die im Müßiggange zusah, von ihm geliebkost wurde und die Rechte der Frau genoß. Der Barbar wollte sich an seiner unschuldigen Ehefrau auf diese Art, gleichsam wie durch Repressalien, rächen; und da sie ohnmächtig, empfindlich, zärtlich und schwach zum Wiederstande war, so verdoppelte der Unbarmherzige seine Martern, jemehr er wahrnahm, daß sie dadurch niedergeschlagen und gekränkt wurde. Sie kam in die Wochen, sie wurde gefährlich krank; und während daß sie nach Troste und Wartung schmachtete, hetzte der Bösewicht Dachse mit seinen Hunden im Hause, ließ seine Pferde im Hofe unter ihren Fenstern herumführen und dazu trommeln, des Nachts, oder wenn sie sonst schlummerte, plözlich Töpfe oder Flaschen vor ihrem Zimmer entzweyschlagen oder ein andres heftiges Geräusch erregen, das sie aufwecken mußte – kurz, er marterte sie auf alle ersinnliche Weise und studierte darauf, sie nicht allein zu quälen, sondern jede Qual noch mit einer Bitterkeit zu begleiten, die stärker als die Qual selbst schmerzte. Er nahm ihr das Kind und übergab es fremden Händen, wo sie es ohne die ängstlichste Besorgniß nicht wissen konnte, da es unter den ihrigen die beste Erziehung, den nützlichsten Unterricht hätte genießen können. Sie bat, sie flehte auf den Knieen: der Tyrann lachte. Sie fiel ihm um den Hals, sie badete sein Gesicht mit Thränen, sie beschwor ihn bey der Wohlfahrt seines Kindes, bey seiner eignen Glückseligkeit, sie nicht von ihrem eignen Herze zu trennen, das allzeit mit ihrem Kinde an Einem Platze wohnte. Der tückische Bösewicht verbarg die Empfindung, die ihm eine solche Bitte wider seinen Willen aufdrang; er verließ sie, gab zwar Befehl, ihr das Kind zu überliefern, wiederrief ihn aber gleich, ehe es noch gebracht wurde. Seine Launen waren gewiß die einzigen unter dem Himmel: er war ihr beständiges Spiel und wurde von ihnen von einer Entschließung zur andern herumgeworfen; ehe er eine ausführte, riß ihn eine andere hin, so eine dritte, und nach einem weiten Zirkel kam er wieder auf den ersten Fleck. So gieng es ihm hier: seine Tochter blieb in den Händen, denen er sie zu ihrer Verwahrlosung anvertraut hatte, und ihre Mutter eine betrübte, ungetröstete Mutter.

Von allen diesen Drangseligkeiten empfieng ich Nachricht, so wie sie geschahen; und was denkst Du, das ich thun sollte, Freund?«

»Dem Henker den Kopf zerbrechen!« rief Belphegor und stampfte, »ihn erwürgen und mit dem unglücklichen Schlachtopfer auf dem Arme davon fliehn!«


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