Luise Westkirch
Der Todfeind
Luise Westkirch

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Elftes Kapitel.

Es war Spätnachmittag. Der Diener brachte die Lampe in das alte Herrenzimmer von Ravenhorst. Wolf Ilefeld war zu Haus. Er war an jenem Morgen nicht mehr zur Jagd gegangen – er hatte seine Wohnung nicht verlassen – er ordnete seine Papiere. Dann saß er untätig, in dumpfer Unruhe der Dinge harrend, die kommen mußten.

Ein Wagen fuhr vor. Wolf sprang auf. Die Gendarmen, die ihm den Verhaftungsbefehl überbrachten? Er war rasch, sein alter Kamerad Olten.

Da öffnete sich die Tür, und den alten Diener, der ihr öffnete, zurückdrängend, trat eine Dame über die Schwelle, eine große Gestalt in losem Mantel, das Gesicht hinter schwarzem Schleier verborgen. Ilefeld erkannte sie doch. Mit einer raschen Handbewegung schickte er den Diener fort und stand im selben Augenblick neben der Kommenden, griff nach ihrer Hand.

»Anna, Anna – du kommst zu mir?«

Sie schlug den Schleier zurück. Ihr Gesicht war blaß, dunkle Ränder lagen um ihre Augen, und eine eigene Hoheit war in Haltung und Miene.

»Laß die Türen schließen, verwahren, Wolf. Es mag sein, daß uns nur wenig Zeit bleibt.«

276 »Setz dich. Ja, es kann sein, daß uns nur wenig Zeit bleibt. Aber mag nun kommen, was will, ich werd's tapfer tragen, da mein Glück mich zuvor gegrüßt hat.«

Sie setzte sich erschöpft in den tiefen Sessel.

»Wolf, Wolf – was hast du getan?!«

»Was meinst du?«

»Ich bin nicht gekommen, dir Vorwürfe zu machen. Obgleich – o Wolf, wenn du es uns erspart hättest! – Nein, nein, ich mache dir keinen Vorwurf. Du bist wild und ungestüm, kennst keine Geduld und keine Mäßigung. Über sich selbst weg kann keiner. Das hätte ich wissen und bedenken müssen. Das ist meine große Schuld. Du warst die Hand – ich war der Antrieb – und darum gehören wir unlöslich zueinander.«

»Ja, Anna, Lieb, wir gehören zueinander für Zeit und Ewigkeit, in Glück und Leid. Wie ein Kind küsse ich deine Hände. Du weißt ja nicht, wie glücklich du mich machst dadurch, daß du zu mir kommst.«

»Schweig! Von Glück dürfen wir nicht mehr reden.«

Er riß sie in seine Arme. »Nicht von Glück reden, wenn ich dich endlich – endlich an meinem Herzen halte?«

Mit einem wilden Schluchzen riß sie sich los. »Und er – und er in seinem Grab?«

»Laß ihn. Glück und Liebe sind für die Lebendigen.«

»Ach, verstell' dich nicht mir gegenüber. Mach' dich nicht schlechter, als du bist. Ich versteh' dich wohl – ich versteh' dich auch hier. Von mir möchtest Du jeden Vorwurf wenden, darum spielst du vor der 277 Welt das unwürdige Spiel. Damit mein Leben glücklich sei, machst du dir deins zur Hölle; denn du kannst nicht atmen in der beständigen Lüge, kannst nicht leben mit dem Bewußtsein dessen, was geschehen ist. Ich kenne dich besser als du dich selbst. Wenn niemand auf der Welt dich anklagte, du, du müßtest dich verdammen.«

»Ja, ich gesteh' es, meine Gedanken waren böse. Vergib mir. Ich hatte Dich zu lieb.«

»Ich sag' dir's ja, ich bin nicht gekommen, dir Vorwürfe zu machen. Ich weiß, aus zu großer Liebe zu mir bist Du schuldig geworden. Aus Liebe zu mir hast du unser Beider Leben zerbrochen. Und wenn mich auch schaudert vor deiner Tat, – ich hab' dich lieb, Wolf. Was du auch begangen haben mögest, ich hab' dich lieb, lieb über Alles. Ich hab' nie einen Andern lieb gehabt vor dir, werde nie einen Andern lieb haben nach dir. Ich gehöre zu dir. Dein Los ist mein Los. Darum bin ich gekommen.«

»Anna! Anna! –Daß du mir das sagst, heut sagst in meiner Not, das gedenk' ich dir, so lange ich lebe.«

»Unsere Liebe war wohl zu groß für diese Welt. Sie mußte sündig werden an ihren Schranken und Gesetzen, an unserer Unvollkommenheit. Ich klage auch dich nicht an, Wolf, ich klage mich an, daß ich mich dir versagte, trotz meiner Liebe, aus Stolz, aus Frauenscham. Das war meine Schuld, die büß' ich nun.«

»Sag' das nicht, Lieb. Du hast keine Schuld. Keinen Vorwurf hast du dir zu machen. Du bist immer rechtschaffen und ehrlich gewesen gegen ihn, gegen mich. Was hättest du zu büßen?«

278 Sie horchte hinaus, sie sprang auf. »Kommen sie schon?«

»Wer, Lieb?«

»Die dich wegführen wollen. Wir dürfen sie nicht abwarten. Wir müssen ein Ende machen, bevor sie kommen.«

»Ein Ende?«

»Willst du dulden, daß andere Menschen das Urteil über uns sprechen? Wir selbst haben uns schuldig gesprochen. Laß uns groß sein und den Spruch vollziehen!«

»Was für einen Spruch denn?«

»Du fragst seltsam. Kann unser Urteil anders lauten als auf Tod? – Nimm deine Flinte, deine Pistole, was du zur Hand hast. Du bist ein guter Schütze. Du wirst mir nicht sehr weh tun.«

»Anna – –«

»Schnell! Schnell nur! Lebend dürfen sie uns nicht finden. Was zögerst du? Soll unser geheimstes Empfinden, jede Regung von Zorn, Groll und heißer Liebe, jedes Wort, das wir zueinander gesprochen haben, in den Gerichtssaal gezerrt werden? Sollen Tausende von Menschen mit Gier jeden Morgen wie einen spannenden Roman verschlingen, was unseres Lebens Bestes, Heiligstes war?! – Mach' ein Ende, Wolf! Mach' ein Ende!«

In höchster Erregung lief sie durch die Stube, prüfte die alten, ungeladenen Waffen an der Wand, rüttelte an dem verschlossenen Gewehrschrank.

»Aber so mach' doch ein Ende!«

Er folgte ihr. Er faßte ihre zuckenden Hände, hielt sie fest.

279 »Komm zur Ruhe, Lieb. Vor allem werde ruhig. Sag', wozu diese Hast? Woher weißt du überhaupt, daß ich verhaftet werden soll?«

»Einer, der es wissen muß, hat es mir verraten, – vielleicht gegen seine Pflicht, aus alter Freundschaft, aus Barmherzigkeit mit dir und mir. Enttäusche sein Gefühl von dir nicht. Geh den Weg, den er dir öffnet, – den einzigen, der unserer würdig ist. Sieh, wir gehen ihn zusammen. Auch das noch ist Glück. Küsse mich, Wolf! Und dann mach' ein Ende.«

»Ich küsse Dich. Aber ein Ende mache ich nicht. Begreife doch, vor uns liegt ein Leben voll Glück und Seligkeit.«

»Und Schuld! Unerträglicher Schuld.«

»Ich will mich von Schuld nicht frei sprechen. Ich habe mit Entsetzen erfahren, bis zu welcher Gewalttat mein heißes Blut mich hinreißen könnte. Ich habe Demut gelernt. Gott hat mich bewahrt. Den Tod habe ich nicht verdient. Und nicht aus Furcht vor Kampf und Ungemach werde ich ihn mir geben.«

»Wolf! – O, aus Barmherzigkeit! belüg' mich nicht in dieser Stunde! Belüg' nicht Dich selbst. Glaub' es mir, es gibt keine Rettung mehr für Dich, – nicht einmal vor der Verurteilung durch irdische Richter.«

»Anna, – so wahr ich Dich lieb habe, – so wahr ich ein ehrlicher Mensch bin, – ich habe keinen Teil an Deines Mannes Tod, sein Blut klebt nicht an meiner Hand.«

»Du hättest keinen Teil an seinem Tod? – Wolf, er haßte Dich, er stand im Begriff Dich von Ravenhorst zu vertreiben, er hat Dir Genugtuung in ehrlichem Kampf verweigert. Dann kam unsere 280 Unterredung im Seeberger Wald, die Unterredung, in der ich mich Dir versagte, bis ich frei sein würde. Und eine Stunde darauf lag er tot. Du bist im gleichen Wagen mit ihm gefahren, Du allein. Und die Beweise, all die Beweise, die gegen Dich sprechen –«

»Glaubst Du diesen Beweisen mehr als meinem Wort?«

»Vergib! Vergib! – Das Glück, das Du vor mir auftust, ist so groß, daß ich es nicht sogleich fassen kann. Ich kann so rasch nicht umdenken. Ich bin ja fast verrückt geworden in dem Zweifel, der Todesangst. Und dann kam – was ich für Gewißheit hielt. Todesqualen hab' ich durchgekämpft, ehe ich heut' zu Dir kam. Sag' es nochmals! Sag' es wieder, das Wort der Gnade! Du trägst keine Schuld an seinem Tod?!«

»Ich trage keine Schuld an Herrn von Heesemanns Tod, bei Gott nicht! Ich weiß nicht, wie er gestorben ist.«

Er führte sie zu einem Sessel und sie hörte ihm zu, seine Hand fest in ihren Händen haltend.

»Ich glaube Dir. Ich glaube Dir. Ach, Wolf, betrüg' meinen Glauben nicht.«

»So ist's gewesen, Anna. Ich kam nach Scharndorf, heiß vor Zorn, auch vor Zorn über Dich, weil Dein Wille unser Glück hinausschob. In wenigen Monaten mußte ich, für immer vertrieben von meiner Scholle, übers Weltmeer ziehn. Jahre konnten vergehen, bis ich Dich wiedersah. Derweil verblieb er in Deinem Besitz. Da stand ich auf dem Bahnhof plötzlich vor ihm. Ich riß die erste beste Latte aus der Erde und wollte ihn niederschlagen. Botho Seekamp und 281 Tielen hielten mich fest. Sie wollten mich auch verhindern in demselben Wagen mit Heesemann zu fahren.

Ich konnte mich nicht entschließen ihm zu weichen. Im letzten Augenblick stieg ich dann in ein Abteil zweiter Klasse. Weiß nicht, ob Heesemann mich überhaupt gesehen hat. Jedenfalls tat er nicht desgleichen. Zu meinem Unheil war das Abteil, in dem ich saß, leer wie jedes Abteil des Wagens bis zu dem erster Klasse, in dem Heesemann saß. Und wie der Zug hinrüttelte und stieß, stieg die Wut wieder in mir auf. Mit Übergewalt packte mich das Verlangen vor ihn hinzutreten, eine Auseinandersetzung zu erzwingen, hier im Zug, wo er mir nicht ausweichen, keine seiner Hilfstruppen auf mich hetzen konnte, wo wir allein einander gegenüberstanden Mann gegen Mann. Da wollte ich meine Klitsche von ihm fordern, von der er mich verdrängte, Dich wollte ich von ihm fordern, die er mir nahm. Er sollte mir herausgeben, was mein war. Und wenn er sich weigerte, – wenn er sich weigerte –! Ja, was dann geschehen wäre, – es ist Demütigung, es dir zu gestehen, – aber was dann geschehen wäre, ich weiß es nicht. Mag sein, daß alles gekommen wäre, wie es heut' ist – und daß ich zur Pistole hätte greifen müssen, schon ehe du kamst. Unmöglich ist's nicht. Ich sah Blut vor den Augen, als ich die Tür zu seinem Abteil aufriß. So aufgeregt war ich, daß ich den Handschuh, den ich abziehen wollte, in Fetzen riß. Den haben sie vor der Tür gefunden.«

»Und dann, – als Du die Tür aufgerissen hattest, vor ihm standest – Wolf!?«

»Ich stand nicht vor ihm, Anna. Das ist das 282 Wunderbare, für das ich Gott danken werde, so lange ich lebe. Das Abteil war leer.«

»Es war leer? Leer, plötzlich, während der Fahrt?!«

»Der Zug hatte ein paar Minuten auf freiem Felde gehalten um einen anderen vorüberzulassen. Ich dachte, daß Heesemann gemerkt haben würde, daß ich im selben Wagen mit ihm fuhr, ich ganz allein, und daß er bedenklich geworden wäre. – Mut war nicht seine hervorstechendste Eigenschaft. Ich dachte, er wäre während des kurzen Aufenthaltes umgestiegen, hätte in einem der dichtgefüllten Wagen dritter Klasse sein Leben in Sicherheit gebracht.«

»So hast nicht du ihn getötet! Nicht du!«

»Nein. Als ich kam um Rechenschaft von ihm zu fordern, hatte ein andrer schon seine Abrechnung gehalten.«

»Gönne mir Zeit, was du sagst zu fassen! Gönne mir Zeit! Freispruch vom Tod ist's buchstäblich. Nicht Du hast ihn gemordet! Nicht ich bin die Ursache seines Todes! Unschuldig sind wir beide! – Aber so liegt das Leben ja licht und freudvoll vor uns. Wir dürfen glücklich sein!«

»Ja, Anna.«

»O, du –! Wenn du wüßtest – – Horch! Ist das nicht ein Wagen? Ja, sicher diesmal ein Wagen. Sie kommen! Ach, wo hatte ich meine Gedanken in meinem Taumel von Seligkeit? Sie kommen. Sie holen dich, sperren dich ein. Wenn sie dich verurteilten trotz deiner Schuldlosigkeit?!«

»Sei ruhig. Ich werde um meine Freisprechung kämpfen im Vertrauen auf Gott, der mich gnädig 283 vor Schuld bewahrt hat. Aber dich braucht niemand hier zu sehen. Geh durch diese Tür. Geh hinauf, bevor sie kommen.«

»Wenn du schuldlos bist, fürchte ich nichts auf der Welt mehr. Ich gehöre zu dir.«

»Geh dennoch, Lieb. Wozu ein Schauspiel geben? Auf ein Wiedersehen in Freuden.«

Er drängte sie aus der Tür und rief den Diener.

»Hält der Wagen der gnädigen Frau hier vor der Tür?«

»Nein, gnädige Frau sind ausgestiegen. Der Wagen hält hinter dem Park am Waldrand.«

»So ist's gut.«

Jetzt knirschten deutlich Räder im Sand. Man hörte dazwischen das leise Aufschlagen der Hufe. Der Wagen hielt. Schwere Schritte auf der Diele, Stimmen. Der Diener öffnete die Tür. Blanke Litzen und Knöpfe schimmerten im Rahmen. Hinter den Gendarmen stand Polizeileutnant von Olten.

Er hob sich ein wenig auf den Zehen. Er war nicht sehr groß. Flüchtig und scheu sahen seine scharfen Augen ins Zimmer und verharrten sich weitend erstaunt und ungläubig auf der großen breiten Gestalt Ilefelds. Nicht aufrecht hatte er den zu finden erwartet. Wußte er etwa noch nicht, daß er verloren war? Olten hatte Frau Anna doch Zeit gelassen.

Aber da war ein Ausdruck von Verträumtheit in Ilefelds Zügen, eine heimliche Glückseligkeit, die er kaum verbarg. Und ein schwarzer Handschuh lag auf dem Teppich im Schatten neben dem niedrigen Sessel, ein schmaler, schwarzer Frauenhandschuh. Olten sah es deutlich – sie war bei ihm gewesen. Er wußte. Und 284 er stand da lebendig und aufrecht. Und eine ungewollte Würde lag in der Haltung des großen Menschen. Sieht so einer aus, der mit der reinlichen und hochgemuten Vergangenheit Wolf Ilefelds auf des Lebens Mittagshöhe plötzlich hinterrücks seinen Feind erwürgt hat?

»Herr von Ilefeld, auf Grund schwerer Verdachtsgründe gegen Sie in der Heesemannschen Sache habe ich die peinliche Pflicht, Sie zu verhaften.«

»Ich stehe zur Verfügung.«

Olten winkte einem Gendarmen, der vortrat.

»Bringen Sie den Gefangenen in das Untersuchungsgefängnis in Kiel. Ich möchte Ihnen die Fesselung gern ersparen, Herr von Ilefeld.«

»Ich mache keinen Fluchtversuch. Auf Ehrenwort.«

»Mir liegt noch ob, gemeinsam mit dem Wachtmeister eine genaue Haussuchung in Ravenhorst vorzunehmen.«

Ilefeld wandte sich an den Diener. »Friedrich, geben Sie dem Herrn Polizeileutnant die Schlüssel zu all meinen Schränken.«

Olten hatte den Schreibtisch geöffnet, kramte zwischen den Papieren. Es waren meist Briefe ungeduldiger Gläubiger, geschäftliche Mitteilungen des Rechtsanwalts. Von Frau von Heesemann keine Zeile. Überhaupt kein Brief von Frauenhand. Er rief Friedrich herbei. Der Wagen mit dem Gutsherrn fuhr langsam vom Hof.

»Friedrich, wann ist Herr von Ilefeld am Abend des dritten November nach Hause gekommen?«

»Das war Glock neun. Der Kutscher hat ihn um acht Uhr zehn von Föhrde abgeholt. Ich bin mitgefahren.«

285 »War Herr von Ilefeld gleich auf dem Bahnhof anwesend?«

»Ja, gewiß. Als der Zug hielt kam er durch die Sperre.«

»Hm! Schien er sehr erhitzt oder aufgeregt oder irgendwie anders als sonst?«

»Wenn ich sagen soll – ich mein', er war in kein' guten Stimmung. Aber sein' Stimmungens wechseln oft.«

»Hat er in der Nacht geschlafen? Oder ist er aufgestanden? War er unruhig?«

»Er hat fest geslafen bis in den lichten Morgen.«

»Waren Sie zugegen, als Ihr Herr von Herrn von Heesemanns Ermordung erfuhr?«

»Nee, dabei bin ich nich gewesen.«

»Wer hat ihm die Nachricht gebracht?«

»Ich mein', er hat das im Abendblatt gelesen.«

»Wie benahm er sich denn, als er es wußte?«

»Er war ganz ersroken, wie wir alle, ja, das war er. Aber daß ihn das besonders traurig machen tat, nee, das will ich nich lügen.«

»Haben Sie seine Kleidungsstücke am Abend des dritten November nachgesehen?«

»Das tu ich jeden Abend. Er is was flüchtig, der Herr, und hält doch auf sein' Anzug. Da muß ein aufpassen.«

»Ist Ihnen an jenem Abend etwas Besonders an des Herrn Kleidung aufgefallen?«

»Sein' Stiefels waren ganz mit Lehm besmiert. Aber das sind sie oft.«

»War kein Stück zerrissen? Ich meine etwa der Mantel? Fehlte da nicht etwa an einem Vorderteil ein Stückchen?«

286 »Sein Mantel war heil.«

»Was für ein Mantel war's?«

»Das war so 'n grauen mit 'n Kragen und ohne Ärmel. Der Herr Leutnant hat ihn ja mitgenommen. Aber heil war er.«

»Denken Sie genau nach. Sie werden ihre Aussage beschwören müssen.«

»Will ich gern tun. Der Mantel war heil.«

»Könnten Sie nicht das Fehlen eines kleinen Fetzens übersehen haben?«

»Ich hab' dem Herrn seine sämtlichen Mäntels noch kürzlich vorgehabt, auf ein Brett gelegt, gebürstet, mit Benzin abgerieben. Da ist kein zerrissener beigewesen.«

»Wann haben Sie diese Reinigung vorgenommen?«

»Das waren am Sonnabend genau acht Tage.«

»Friedrich,« sagte Olten, »Sie haben den Ilefelds ein paar Menschenalter treu gedient. Ich weiß, wie sehr Sie ihrem Herrn ergeben sind. Aber auch die Treue darf Sie nicht zu einem Meineid verleiten. Denken Sie an ihre in Ehren ergrauten Haare und sagen Sie die Wahrheit.«

»Der Mantel is Sonnabend vor acht Tagen noch heil gewesen. Da will ich zehn Eide auf schwören.«

»Ist zwischen dem zehnten November und vorgestern eine fremde Person in der Kammer des Herrn gewesen?«

»Eine fremde Person? Nee, Herr Leutnant. Wie sollt' das woll angehn?«

»Ich meine, heimlich. Haben Sie keine verdächtige Spur gefunden – kein Geräusch gehört?«

»Diebens und Einbrechers sind hier bestimmt nich gewesen.«

»Haben Sie auch keine fremden Leute hier herumlungern sehen? Einen Mann – oder ein Mädchen?«

287 Der Diener schüttelte den Kopf. »Ich hab' hier man bloß die Menschens gesehen, die hierher gehören.«

»Sie können gehen.«

Olten zog die letzte Lade des Schreibtisches auf. Darin lag, in Seidenpapier gewickelt, ganz allein eine Photographie, das Bild Annas von Ramin im Ballkleid – das Bild Annas von Ramin, nicht das der Frau von Heesemann. Er legte es an seinen Platz zurück.

Als er den Kopf hob stand das Original vor ihm.

»Ich sollte mich nicht zeigen, Herr von Olten. Ich zeige mich Ihnen doch. Sie wissen ohne dies, daß ich hier bin.«

»Ja, ich weiß es, gnädige Frau.«

Er wies auf den Handschuh am Boden.

»Herr von Olten, er ist unschuldig! Gott sei Dank – er ist unschuldig!«

Olten schüttelte den Kopf: »Der Ring der Beweise erscheint lückenlos geschlossen.«

»Der Schein trügt. Retten Sie ihn, Herr von Olten! Sie darum anzuflehen, zeig' ich mich Ihnen, Wenn einer, so vermögen Sie's. Retten Sie ihn! Einen seiner Art am Leben zu erhalten, ist der Anstrengung eines edlen Menschen wert, nicht wahr? Sie werden den Fehler in den Beweisen gegen ihn finden, wenn Sie richtig suchen, die Lücke im scheinbar geschlossenen Ring. Denn ich weiß es jeden jetzt über Zweifel gewiß: ein anderer hat meinen Mann erschlagen. Ich flehe Sie an, Herr von Olten, finden Sie diesen andern!«

»Ich will noch nicht aufhören, ihn zu suchen, gnädige Frau. Das ist das einzige, was ich Ihnen versprechen kann.« 288



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