Luise Westkirch
Der Todfeind
Luise Westkirch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Olten lag die Nacht schlaflos. Er rang danach, ruhig zu werden. Er wußte: nicht mit dem Gemüt, mit eiskaltem Verstand, mit durch nichts beirrter Logik werden die Gespinste entwirrt, die Verbrechen verdecken. Er aber zitterte für Ilefeld, als wäre es sein Bruder. Und Frau von Heesemanns Bekenntnis hatte ihn keineswegs beruhigt. Ilefeld leugnete zwar den Mord. Aber er leugnete auch, daß er Frau von Heesemann am Nachmittag des Mordtages gesprochen habe. Aus Schonung für die geliebte Frau tat er das. Konnte er nicht auch aus Schonung für sie, deren Leben an seiner Schuld zerbrechen mußte, diese Schuld leugnen – lieber das Martyrium der Selbstverachtung durch alle künftigen Jahre schleppen? Gerade in hochgemuten Seelen geht das Gefühl für Pflicht oft seltsame Wege, verwirren sich die Grenzen von Heroismus und Verbrechen. Dazu drängte den Polizeileutnant sein eigener Ehrgeiz zum Ziel zu kommen, den Schuldigen zu ergreifen. Die ganze Provinz schaute aufgeregt auf die Maßnahmen der Polizei, begehrte fieberhaft Sühne für die freche Ermordung eines ihrer hervorragendsten Männer. Schon begann der Polizeichef nervös zu werden. Ein Ende mußte werden, ein rasches Ende.

216 Sobald der Tag graute, stand Olten auf. Unbezwingliche Unrast trieb ihn aufs neue auf den Schauplatz des Mordes. Er fuhr nach Scharndorf. Auf dem Bahnhof fragte er den Vorsteher: War ihm noch nachträglich ein besonderer Umstand aufgefallen, der sich am Mordabend ereignet hatte? Hatte er eine neue Entdeckung in bezug auf den Mörder gemacht? – Nein? – Aber vielleicht entsann er sich noch einer Person, die mit dem Siebenuhrzuge gefahren war und die nicht auf der von ihm aufgestellten Liste stand?

Ja, das tat der Vorsteher. Es war ihm eingefallen, und der Zugführer hatte es ihm bestätigt, im letzten Augenblick vor Abfahrt des Zuges war der Baron Krastel eilig in ein Abteil gesprungen, so eilig, daß er nicht Zeit gehabt hatte, eine Fahrkarte zu lösen.

Baron Krastel! Vor Oltens Augen stand das blaurote Gesicht des alten Mannes und seine in halbem Irrsinn funkelnden Trinkeraugen. Baron Krastel! Ja, der hatte am dritten November vermutlich auch gewußt, daß Heesemann es war, der ihn um Margretenhof gebracht hatte.

»In welcher Wagenklasse fuhr der Baron?«

»Der fährt immer dritter Klasse, seit er von Margretenhof fort ist.«

»Fuhr er an jenem Abend auch dritter Klasse?«

»Ja. Der Schaffner, der ihm nachträglich die Fahrkarte löste, sagt, er sei dritter gefahren.«

»Wissen Sie, in welchem Wagen er saß?«

»Im letzten vor dem Packwagen. Er konnte keinen anderen mehr erreichen. Der Zug fuhr schon an.«

217 »Und der Wagen zweiter Klasse, in dem der Mord geschah, fuhr direkt hinter dem Postwagen?«

»Ja.«

Oltens Hoffnung sank. Schwerlich hatte der unbeholfene, alte Mann während der Fahrt den ganzen Zug entlang auf dem Trittbrett bis zu dem Abteil erster Klasse gehen können.

»War der Wagen, in dem der Baron fuhr, besetzt oder leer?« fragte er.

»Alle Wagen dritter Klasse waren an dem Abend besetzt.«

»Wissen Sie, wer im selben Abteil mit dem Baron fuhr?«

»Der Schaffner wird es wissen. Es waren fast lauter Leute aus dem Lande hier.«

»Und wo stieg der Baron aus?«

»Er fuhr durch bis Flensburg. Er wohnt ja jetzt dort.«

»Sagen Sie dem Schaffner, daß er sich besinnen möge, wer im selben Abteil mit dem Baron reiste. Er soll die Namen aufschreiben und mir die Liste geben.«

Dann wandte er sich noch einmal zurück: »Wissen Sie, auf welcher Station Herr von Ilefeld am Abend des dritten Novembers ausgestiegen ist. Ich meine, hat ein Beamter ihn aussteigen sehen?«

»Der Zug läuft eben ein, Herr Polizeileutnant. Sie können Schaffner Wehrhahn, der am dritten November mit Zug fuhr, selbst befragen.«

Olten wandte sich an den Mann. Nein, Herr von Ilefeld hatte Fahrkarte nach Föhrde. Aussteigen sehen hatte der Schaffner ihn nicht dort noch auf einer andern Station.

218 Olten bestellte einen Wagen und fuhr nach Hohorst zu den alten Seekamps. Dort hatte das Unheil begonnen mit dem Wiedersehen von Wolf Ilefeld und Anna von Ramin an jenem Jagdtag. Dort hatte sich der Streit zwischen den Rivalen entsponnen, der die von Heesemann abgelehnte Forderung veranlaßte, hier saß Pastor Roßmüller, der Urheber des Artikels in der Morgenzeitung.

Der alte Herr von Seekamp empfing Olten mit der äußersten Zurückhaltung. So willkommen er ihm war, wenn er als ehemaliger schleswigscher Husar kam, so peinlich empfand er seinen dienstlichen Besuch.

Frau von Seekamp vollends fühlte sich in ihrem vornehmen Empfinden bis zu körperlicher Krankheit verletzt von der Ungehörigkeit und Häßlichkeit der Vorgänge, in die ihrem Herzen nahestehende Personen ihres Standes verwickelt waren.

Roßmüller allein war guten Mutes in seinem unerschütterlichen Gottvertrauen.

»Wenn ich wirklich ein wenig voreilig gewesen sein sollte, wie Sie anzunehmen scheinen, mein lieber Herr Leutnant,« sagte er in seinem breiten Dialekt auf Oltens Vorhaltungen behaglich, »so hat das unser Herrgott in seiner Weisheit eben zugelassen zur Erfüllung seiner Absichten, die nicht unsere Absichten sind. Habe ich die Wahrheit nicht gefunden, wie Sie behaupten, so bin ich doch sicher ein Werkzeug in der Hand des Höchsten gewesen, Ungerechtigkeiten zu strafen und die Gerechten aufzurichten. Ich getröste mich zu ihm. Er wird's wohl machen.«

Nicht klüger, als er gekommen war, fuhr Olten von Hohorst fort. Die Rede des Horster Gutsherrn 219 ging ihm wieder durch den Kopf: ein politischer Mord. Aber sein Instinkt verneinte. Die Tat war mit der Würdelosigkeit heißer, intimer Rachsucht ausgeführt worden. Politische Morde weisen vornehmere Aufmachung auf.

Er versteifte sich darauf, daß in dem Dreieck zwischen Seebergen, Horste und Brake des Rätsels Lösung liegen müsse, und er beschloß, dies Revier nach ihr zu durchpirschen wie der Jäger nach dem Bock.

In Scharndorf aß er zu Mittag. Dann schlenderte er die Landstraße entlang in den Wald von Seebergen. Gelb und rot lag das Laub am Baden. Durch die fast kahlen Äste schimmerte in dunklem Blau die See. Er erkannte den Weg, auf dem das Liebespaar auf und ab gewandelt war, den jungen Tannenschlag, in dem die Lauscherin gekauert haben wollte. Es stimmte. Alles stimmte, wie Hete es bei ihrer Vernehmung vor dem Staatsanwalt angegeben hatte. Er bog die Tannenzweige auseinander und meinte, noch den Eindruck ihres Körpers zu sehen. Aber die Spur von Ilefelds und Annas Füßen stand nicht mehr auf dem von welkem Laub bedeckten Weg. Der starke Regen in der Mordnacht hatte sie weggewaschen. In den schwarzen Ästen der Buchen sauste der Wind, die schneegeladenen Wolken hingen tief vom Himmel herab. Und Einsamkeit war ringsum.

Olten wanderte quer durch das Holz, die grasbewachsenen, ehemaligen Dünenhügel hinauf und hinab. Er kam nach Horste an den Bruch, wo der Schmiedegeselle mit seinem Kumpan die Schlinge für das Reh gelegt haben wollte. Nach einigem Suchen fand er die Stelle. Zwischen zwei Stämmchen war sie 220 befestigt gewesen. Hier hatten die Läufe des Tieres den Boden aufgescharrt. An der Rinde hingen noch einzelne Haare seines Felles. Und die Spuren schwerer Nagelschuhe standen im moorigen Boden – scharf eingeschnitten, Spitze und Absatz. Olten betrachtete diese Spuren. Die Spitzen erinnerten ihn seltsam an die stumpfen Eindrücke zwischen den Schienen. Er nahm sein Taschenbuch, maß und zeichnete die Spur. Der Wald hatte sein Geheimnis, der Wald sollte es ihm herausgeben! Und immer weiter ging er quer durch das Gestrüpp, wo es am dichtesten war, lautlos, das Knacken jedes Zweiges vermeidend, aufmerksam auf jeden Laut und all das, was stumm ihn umgab. Plötzlich blieb er stehen, den Atem anhaltend. Ein schmaler Jägerpfad schnitt dicht vor ihm durch die Büsche. Auf diesem Pfad kam einer, leise, wie er selbst. Jetzt bog der andere aus dem Buchenschlag. Mit einem raschen Schritt trat Olten vor. Er stand vor dem Schmiedegesellen.

Den Bruchteil einer Sekunde stutzte der Bursch. Dann verzog ein breites Grinsen sein Gesicht. Olten meinte, in den Schielaugen höhnischen Triumph zu lesen.

»Guten Abend, Herr Kommissär, Herr Kommissär sind wohl verwundert, daß ich mir hier so frei herumbewege? An den Herrn Kommissär hat es auch nich gelegen, daß ich das kann.«

»Ich wundere mich wirklich, wohin Sie auf diesem Wege gehen wollen, Sedlinski.«

»Heim, Herr Kommissär. Wohin denn sonst? Das heißt, was unsereiner so heim nennt. Nach Brake, zu mein' alten Meister will ich hin.«

221 »Den nächsten und bequemsten Weg haben Sie dazu nicht gewählt.«

Sedlinski zuckte die Achseln. »Ich bin 'n Naturfreund, Herr Kommissär. Der Herr Kommissär hat sich ja auch diese entlegene Waldecke zu sein' Spaziergang ausgesucht.«

»Ich bin hier dienstlich.«

»Ja, der Herr Kommissär sind eifrig. Ich trag' das dem Herrn auch gar nicht nach. Jedereiner muß sein' Schuldigkeit tun an sein' Ort – ich an mein' Amboß und der Herr Kommissär hinter die Spitzbuben und Mörders her. Aber mit mir, da hat der Herr Kommissär sich mal verhauen. Das passiert dem Besten.«

»Sie sind wohl wieder im Begriff, Schlingen zu legen?«

»Aber kein Gedanke. Der Herr Kommissär können mich durchsuchen. Da.« – Er krempelte seine Taschen um, daß das Futter heraushing. –»Wie ich aus dem Kittchen komme, so stehe ich hier. Bloß ein bißchen frische Waldluft wollte ich schnappen. Darf ich nu mein' Weg fortsetzen, weil daß ich's eilig habe, nach Haus zu kommen?«

»Ich halte Sie nicht.«

»Danke, Herr Kommissär. Und ich wünsche Herrn Kommissär aufrichtig, daß er mit das nächste Mal den Richtigen zu fassen kriegt. Guten Abend auch.«

Er ging vorüber, und obgleich er im Fortschreiten Olten den Rücken zukehrte, meinte der den Spott und die Schadenfreude zu sehen, die den Mann förmlich schüttelten. Aus dem Wiegen seiner Schultern sprachen sie, aus der Art, wie er in fast tanzender Bewegung über das Brombeergerank die Füße setzte.

222 »Irgendwie, mit irgendwas hat der Kerl das Gericht betrogen,« sagte er sich. »Was kann es gewesen sein?«

Er verfolgte die Richtung, aus welcher der Schmied gekommen war. Der Pfad machte eine scharfe Biegung und lief auf den Gutshof zu. Hatte Sedlinski vielleicht Hete Meier besucht? Olten beschloß, sich die Dirne noch einmal genau anzusehen.

Meiers saßen beim Abendbrot, als er eintrat. Von seinem Ehrenplatz am oberen Tischende stand der Hausherr auf, die meerblauen Augen getrübt vom Ausdruck des Verdrusses, würdevoll abweisend, ein kleiner König, der dem Eindringling sein Reich verwehrt.

»Guten Abend!« grüßte Olten. »Ich denke, Sie kennen mich noch, Meier.«

»Woll, Herr Kommissär. Aber daß mir Ihr Besuch eine Freude wär', das kann ich nicht lügen. Wir haben unser Tag mit das Gericht nix zu schaffen gehabt. Ich hab' auch fest gemeint, wir wären nu einmal damit durch, nach all dem Kummer, den wir unschuldig erlitten haben.«

»War der Konrad Sedlinski eben bei Ihnen?« fragte Olten.

»Bei uns? Nee, der is ja wohl noch gar nicht aus der Untersuchung heraus.«

»Doch! Also bei Ihnen war er nicht? Ihre Tochter ist auch nicht mit ihm gegangen oder zu ihm?«

»Zu Frau Martens in Kolbe is unser Hete gegangen,« mischte Frau Meier sich ein. »Wir waren ja beis Plätten. Aber ich hab' ihr gern gelassen. Es is ein zu swere Zeit für ihr gewesen. Seit der Herr 223 Kommissär das erstemal hier war, kriegt sie alle Tage Zustände. Und das arme Mädchen hat sich doch gar nichts zuschulden kommen lassen. Der Schmied aus Brake ist kein verheirateten Mann un Hete kein Ehefrau. Und ins Gras beißen hat da auch kein um müssen.«

»Wenn ich meine Meinung sagen darf, Herr Kommissär,« fügte der Mann scharf hinzu, »die Meinung von ein' einfachen aber rechtlichen Menschen, so finde ich das nich in der Ordnung, Herr Kommissär, nich in der Ordnung finde ich das, daß so 'n armes Mächen mit Verhören und Verdächten zuschanden gemacht wird, wo die, die an dem Mord schuld sind, doch ganz wo anders sitzen un das Gericht da gut um Bescheid weiß.«

»Sie können sicher sein,« sagte Olten, »daß das Gericht die Schuldigen, wenn es sie kennt, auch greifen wird, ohne Ansehen der Person.«

»Das will ich hoffen, Herr Kommissär,« antwortete der Arbeiter finster. »Ja, das will ich sehr hoffen.«

Olten stand auf. Aus den verbitterten Leuten war nichts herauszubringen, und die Tochter, um die sein Mißtrauen unverscheuchbar kreiste, fehlte. Er erwog, ob er ihr nach Kolbe zu entgegengehen solle. Doch gab er es auf. Die frühe Winterdämmerung sank schon dunkel auf die Wälder von Horste, und Hoffnungslosigkeit senkte sich in Oltens Herz. Einen ganzen Tag lang auf der Jagd nach dem Mörder – und nichts erreicht und nicht die schwächste Spur aufgedeckt!

Er ging den Fußweg zur Station zurück. 224 Mühsam hielt er die Richtung. Er gelangte zu dem jungen Tannenschlag, bis zu dem Hete Heesemann begleitet haben wollte. Unwillkürlich blieb er stehen, prüfte die Örtlichkeit. Undurchdringlich schien das Gewirr der eng ineinander verfilzten Zweige. Viel konnte sich bergen in dem undurchdringlichen Schatten, Menschen und Geschehnisse.

Während er reglos stand, seinen Betrachtungen nachhängend, klang von jenseits der Tannen ein leises Lachen von einer Frauenstimme, ein Flüstern, Tuscheln, Rascheln. Jetzt ein gedämpfter Aufschrei und ein lauterer:

»Hilfe!«

Die Sicherung der Browningpistole lösend, die er immer bei sich trug, drang Olten durch das Dickicht vor.

»Halt! Steht! – Wer ist dort?«

Bei der ersten Bewegung, die er machte, schlug ein Hund an, und: »Faß – faß!« zischte eine zornige Stimme.

Eine dunkle Masse stürzte in weiten Sprüngen auf Olten zu. Der drückte ab. Mit einem Aufheulen knickte der Hund zusammen.

Ein heiseres Aufkreischen der Wut und der Angst antwortete, und eine Gestalt warf sich über den am Boden liegenden Hund. In der tiefen Dämmerung sah Olten wie eine Vision goldig leuchtendes Blondhaar, ein schmales, feines Gesicht. Wo hatte er das schon gesehen? – Halb in das Tannengestrüpp gedrückt aber stand ein Mädchen. Das kannte er gut: Hete. Und jetzt entsann er sich auch des blonden Knabengesichts. Der junge Tobias Heesemann war das, der Neffe des Ermordeten, der Schwachsinnige.

225 Wie ein Rad drehten sich die Gedanken in Oltens Kopf. Unerwartet, fremd, unbegreiflich war, was er sah. Er wußte es nicht gleich zu ordnen, einzureihen, aber gleichgültig – gleichgültig für seine Sache war dies Abenteuer sicher nicht.

»Guten Abend, Fräulein Meier«, sagte er. »Es scheint, ich bin eben zu rechter Zeit gekommen, um Sie zu beschützen.«

Sie rückte das Tuch zurecht, das der Griff des jungen Menschen verschoben hatte, und strich über ihr hochgebauschtes Haar.

»Ach ja, Herr Kommissar. Schönen Dank. Sie sind sehr gütig. Das heißt – schlimm war das ja nicht. Der junge Herr Tobi ist doch man ein Kind!«

»Sie riefen aber um Hilfe.«

»Ich hatt' mich verjagt. Er stand da so mit eins im Dunklen. Aber – aber zum Fürchten is der ja nich.«

»Hat er Ihnen denn schon öfters hier im Wald aufgelauert?«

»Was denken der Herr Kommissar! Niemals. Das is doch so 'n weiten Weg von Brake nach Horste. Ich weiß gar nich, wie er bloß daher kommt.«

Das war auch Olten ein Rätsel. »Aber früher, als Sie noch in Brake waren – da hat der junge Herr Tobias Sie mit Liebesanträgen belästigt?«

»Och nee, eigentlich nich. Er snackte woll ab und an mal dumm' Zeug, Herr Kommissar, ganz wirrigen Kram. Recht verstehen konnt' ich das keinmal.«

»Was sagte er denn heut' abend zu Ihnen?«

Sie strich den Saum ihrer Schürze glatt. »Och, Herr Kommissar, das war ganz was Dummes.«

226 »Wiederholen Sie die Worte.«

»Er sagte, weil daß er nu Herr auf Brake wär', müßt' ich alles tun, was er wollte –«

»So? Das sagte er? Und was antworteten Sie darauf?«

»Ich hab' ihn ausgelacht. Was sollt' ich sonst tun?«

»Er aber?«

»Er wurd' zornig und faßt' mir an, und ich schrie auf – und da kamen Sie, Herr Kommissar.«

Olten wandte sich zu dem jungen Menschen, der noch immer, taub und blind für alles um ihn her, am Boden kniete und seinen verwundeten Hund liebkoste.

»Herr Tobias!«

Da fuhr der Junge auf, hob die geballte Faust. Olten erschrak vor dem Feuer von Haß und Wut in seinen Augen. Sie schienen in ihrem eigenen Licht zu phosphoreszieren.

»Sie – Sie haben mein' Don geschossen – Sie! – Wenn mein Don stirbt – Sie!« Die Stimme überschlug sich und brach in Aufregung.

»Hetzen Sie ihren Hund nicht auf Leute, denen Sie Achtung schuldig sind, dann geschieht ihm kein Leid.«

Tobi sprang stumm auf, bückte sich nach etwas im Dunklen. Olten erkannte den Lauf der Vogelflinte. Blitzschnell schlug er ihn beiseite und rang mit dem jungen Menschen um das Gewehr. Er war ein starker Mann. Doch mußte er all seine Kraft einsetzen, und vielleicht nur dem Umstand, daß Tobi in seiner blinden Wut über eine Tannenwurzel stolperte, dankte der Kommissar es, daß er ihm die Flinte entreißen konnte.

227 »Allen Respekt, junger Mann! Sie haben mehr Kraft, als man Ihrem schmächtigen Bau zutraut. Diese Flinte konfisziere ich. Ich finde nicht, daß Sie sittlich reif genug sind, um Ihnen eine Feuerwaffe anzuvertrauen. Und jetzt antworten Sie mir!«

»Sie – Sie sollen – – Meinen Don will ich wiederhaben,« stammelte Tobi. Tränen traten ihm in die Augen.

Olten sah ein, ehe er über Dons Schicksal beruhigt war, würde der Schwachsinnige nicht Rede stehen. Die Browningpistole in der einen Hand, und immer Tobis Flinte im Auge behaltend, untersuchte er vorsichtig die Verletzung.

»Ein ganz leichter Streifschuß am Oberschenkel. Ihr Don wird auf seinen Füßen heimlaufen können, wenn auch nur auf dreien. Nun antworten Sie mir. Wie kommen Sie hierher?«

Tobis Gesicht nahm einen verstockten Ausdruck an. Er sah stumm über Olten weg ins Waldesdunkel.

»Wie kommen Sie hierher?«

Da lachte Tobi und begann zu singen: »Geh' du man immer wieder hin, wo du gewesen bist.«

Olten faßte ihn am Arm, schüttelte ihn. »Sie stehen vor Ihrer Obrigkeit. Spielen Sie nicht den Blödsinnigen! Antworten Sie!«

»Herr Kommissar,« flüsterte Hete, »wenn er sein Schauer hat, so wie jetzt, so kann kein mit dem Herrn Tobi was anfangen.«

Im selben Augenblick riß sich Tobi mit einem gewaltigen Sprung nach rückwärts los und warf sich, einen gellen Pfiff ausstoßend, in die Büsche. Auf den Pfiff hin schnellte der Jagdhund vom Boden und rannte 228 auf drei Beinen seinem Herrn nach. Wie ein Spuk verschwanden beide im Dickicht. Nach kaum einer halben Minute hörten die Zurückbleibenden auch nicht mehr das Aufsetzen ihrer Füße noch das Rauschen der von ihnen gestreiften Zweige.

»Wohin läuft er denn?« fragte Olten in einem Gefühl von Verantwortlichkeit für den Schwachsinnigen.

»Nun, nach Brake, nach Haus, mit sein kranken Hund.«

»Findet er denn dorthin?«

»Aber gewiß doch. Er is gar nich so dumm, der Herr Tobi, wie ein glaubt.«

»Das scheint so.«

Nachdenklich sah Olten in die Richtung, in der der junge Heesemann verschwunden war.

»Ich muß man machen, daß ich heimkomme,« sprach unterdessen neben ihm das Mädchen. »Mutter wird all schelten. Nochmals schönen Dank, Herr Kommissar, und guten Abend.«

»Guten Abend, Fräulein Meier.«

Die Lust, sie auszufragen, war ihm vergangen, erstickt in der Flut von neuen Vorstellungen, die auf ihn eindrangen, ihn verblendeten, verwirrten mit nie durchdachten Möglichkeiten. Wie kam der Schwachsinnige auf diesen Fleck, fast zwei Wegstunden von Brake entfernt? Um den Weg im Dunklen finden zu können, mußte er ihn kennen. Um ihn zu kennen, mußte er ihn schon gegangen sein. Ließen Heesemanns den jungen Menschen unbeaufsichtigt durch die Wälder streifen? Oder wußte man in Brake nichts von diesen Ausflügen? Aber man mußte es doch merken, wenn er fehlte. Beim Abendessen mußte man es zweifellos 229 merken. Um acht wurde in Brake gegessen, und bis acht Uhr konnte Tobi das Gut Brake nicht erreichen, selbst wenn er lief.

Und wie kam er zu dem Mädchen? Hatte er Hete aufgelauert? Der Fortzug der Familie Meier sollte ihn nicht aufgeregt haben, sagte die Dienerschaft, sagte Frau von Heesemann. Nie wieder hatte er nach der Dirne gefragt. Und nun im Dunkel des Waldes von Horste stand er plötzlich neben ihr, riß sie an sich, daß sie um Hilfe schrie. Er mußte also doch wissen, wo sie zu finden war. Und wer konnte sagen, was für Triebe, Instinkte in seinem verkrüppelten Hirn wachten und wühlten? Wer konnte wissen, wie gewaltig die Leidenschaft für die schöne Hete dem jungen Menschen im Blut tobte? Er war im achtzehnten Jahr und stark wie ein junger Bär. Noch schmerzte Olten der Arm vom Griff seiner Faust. Wenn des Knaben Sinne wild waren nach dem Mädchen, wenn der Oheim sie ihm nahm, hinterrücks, heimlich – wenn er gar Ursache hatte, eifersüchtig auf diesen Oheim zu sein! – – Ach nein, dies war Phantasie, nicht kühle Logik.

Aufwachend aus seinen Träumen, stand Olten still. Der Wald hatte aufgehört. Nur durch einen schmalen Wiesenstreifen von ihm getrennt zog der Bahndamm sich hin. Rasselnd brauste eben ein Zug drüber weg, eine lange, weiße Rauchfahne über der schwarzen Lokomotive, dann die Reihe der erleuchteten Wagenfenster – der Sieben-Uhr-Zug, in dem Max von Heesemann ermordet worden war.

Was bedeutete das? Er verlangsamte die Fahrt, hielt – hielt auf freiem Feld? – – Richtig, der 230 Polizeileutnant entsann sich: fast an jedem Abend hielt er ja hier eine, zwei Minuten, um den Eckernförder Zug, der meist Verspätung hatte, vorüberzulassen, um die Einfahrt in den Bahnhof Altenhagen freizuhaben.

Aber Olten stand vor dieser schlichten Tatsache wie vor einer Offenbarung. Daß niemand daran gedacht hatte! Diese eine Minute gewohnheitsmäßigen Haltens zerstörte für unantastbar gehaltene Alibibeweise, eröffnete eine Fülle neuer Perspektiven. Denn diese eine Minute Halt bedeutete die Möglichkeit, vom freien Felde aus in irgendein Abteil einzudringen. Der Mörder brauchte nicht auf einer Station eingestiegen zu sein, er brauchte keine Fahrkarte gelöst zu haben. Er brauchte nur den haltenden Zug abzupassen. Je nachdem sein Heim lag, bedurfte es dazu vielleicht nicht einmal einer langen Abwesenheit von Haus.

Olten beschloß, Tobi, der unter freiem Himmel seinen Fragen entlaufen war, in seinem eigenen Haus zu stellen. Mit dem Frühzug am nächsten Morgen fuhr er nach Brake.

Frau Anna empfing ihn mit einem Aufleuchten ihrer dunklen Augen.

»Sie bringen mir Gutes, Herr von Olten. Ich seh's.«

Er schüttelte den Kopf. »Nur den Wunsch, Ihnen zu helfen, gnädige Frau – nur das Verlangen, die Wahrheit zu finden. Beantworten Sie mir noch einige Fragen. Wie war das Verhältnis Herrn von Heesemanns zu seinem schwachsinnigen Neffen?«

»Das denkbar beste, Herr von Olten. Wenn Heesemann einen Menschen auf der Welt uneigennützig lieb gehabt hat, dann ist das Tobi gewesen.«

231 »Sind Sie dessen gewiß?«

»Es war nicht Heesemanns Art, sich aufzuopfern. Aber bei dem Jungen hat er die Nächte hindurch gewacht, wenn er krank lag. Und er mochte noch so ermüdet von seinen Geschäften sein, er hat die ganzen Abende Domino mit ihm gespielt, Domino bis zur Erschlaffung. Er verlangte das auch von mir. Ich konnte es mir aber nicht immer abzwingen.«

»Erwiderte Tobi diese Liebe?«

»Zärtlich. Was Onkel Max sagte, war Gesetz für ihn.«

»Hm. – Wie verbringt der junge Mensch seine Tage?«

»Ziemlich einförmig. Er turnt täglich ein paar Stunden, weil er hofft, seine schiefe Schulter auf diese Weise bessern zu können.«

»Er turnt?«

»Ja, er hat oben eine ganze Stube voll Geräte. Er übt mit Hanteln. Er schwingt sich am Reck, am Barren. Er schaukelt. Heesemann hielt ihm monatelang einen Turnlehrer.«

»Auch andere Lehrer?«

»Nein. Ich war dafür, es mit einem für den Unterricht Schwachsinniger ausgebildeten Hofmeister zu versuchen, aber Heesemann sagte, es sei verlorene Mühe.«

»Wer beaufsichtigt den jungen Mann denn?«

»Ja, das war eben der Grund, weshalb ich einen Hofmeister wünschte. Wie die Dinge lagen, ist Tobi mehr, als ich richtig fand, mit dem Diener und dem Kutscher zusammen gewesen, besonders mit dem Diener. Den mag er gern.«

232 »Unternimmt Ihr Neffe öfters allein weite Spaziergänge?«

»Weite? Nein. Ins Braker Holz geht er und schießt Spatzen.«

»Nur ins Braker Holz? Wissen Sie das gewiß?«

»Ich höre doch immer das Knallen seiner Schüsse. Es macht mich oft ganz nervös. Und dann seine Stimme, wenn er seinen Hund abrichtet. Wenn er einmal weiter geht, z. B. zu den Jahrmärkten, dann begleitet ihn Valentin.«

»Nimmt er die Mahlzeiten mit Ihnen zusammen ein, gnädige Frau?«

»Ja.«

»Und kommt er pünktlich dazu?«

»Auf die Minute. Heesemann hielt darauf.«

»Zum Beispiel gestern abend, ist er da zum Abendessen hier gewesen?«

»Gestern? – Nein, richtig, gestern kam er später. Da war was vorgefallen. Ein Wilddieb hatte ihm seinen Hund angeschossen.«

»Ein Wilddieb? So. – Und am dritten November? Wissen Sie das noch?«

»Da war er pünktlich. Er kam mit mir zugleich in den Eßsaal.«

Olten senkte enttäuscht den Kopf. – »Wenn es Ihnen recht ist, will ich den jungen Herrn jetzt selbst aufsuchen.«

»Er ist oben auf seinem Zimmer. Valentin soll Sie hinführen.« Anna zog die Klingel.

Olten folgte dem blassen Diener, der leise vor ihm die Treppe hinaufging. Er führte ihn in ein dreifenstriges Gemach, hell und sonnig und vollgepfropft 233 mit allem erdenklichen Turngerät. Schaukeln, Zugringe hingen von der Decke herab, Stangen stiegen dazu empor. Auf Tischen, Stühlen, auf dem Boden lagen Hanteln, Balancierstangen, Bälle, Holzlanzen zum Werfen. In einer Ecke war aus weichen Fellen und Decken für Don das Krankenlager hergerichtet. An einem der von der Decke herabhängenden Ringe baumelte Tobi Heesemann an einem seiner langen Arme und schaukelte sich wie ein Papagei. Als er den Polizeileutnant erkannte, verfinsterte sich sein Gesicht. Er sprang auf den Boden.

»Herr von Heesemann, ich denke, Sie werden mir heute die gestern verweigerte Antwort geben.«

Tobi kehrte ihm den Rücken, beugte sich zu dem Hund und streichelte seine verbundene Pfote.

»Sie haben Ihren ermordeten Onkel Max lieb gehabt. So werden Sie doch helfen wollen, daß der Mann, der ihn getötet hat, gefunden und bestraft wird.«

»Sie müssen dem Herrn Kommissär Antwort geben, Herr Tobi,« sagte Valentin, als Tobi verstockt schwieg.

Tobi sah auf, ohne den Kopf zu heben, aus dem äußersten Winkel der Augen. Und wie dieser tückische, versteckte Blick von unten herauf den Leutnant traf, kam ihm grell und scharf wie ein Blitz der Verdacht von gestern zurück Es gab noch keinen Beweisgrund dafür, nicht eine einzige Voraussetzung, die ihn rechtfertigte. Aber der Verdacht war da, so mächtig und zwingend, daß Olten die Frage, die er hatte stellen wollen, fallen ließ und kurz und scharf fragte:

»Wo sind Sie am Abend des dritten November zwischen sechs und acht Uhr gewesen?«

234 »He?« machte Tobi.

»Am Abend, als Herr von Heesemann ermordet wurde,« half Valentin ein.

»Weiß ich nich.«

»Besinnen Sie sich.«

»Weiß nich mehr.«

»Aber Herr Tobi, Sie kamen ja zehn Minuten vor sechs Uhr in die Küche und holten das Essen für Don und erzählten, daß Sie Spatzen geschossen hätten, zwanzig Spatzen. Erinnern Sie sich nicht?«

»Ja,« wiederholte der Knabe, »Spatzen hab' ich geschossen, ja, das ist wahr.«

»Das war um sechs Uhr, Valentin?«

»Kurz vor sechs Uhr, Herr Kommissär. Wir waren alle in der Küche, Mamsell, der Kutscher und die Mädchen.«

»Und nach sechs Uhr, Herr Heesemann – wo sind Sie da gewesen?«

»Weiß ich nich.«

»Der junge Herr sagte, er wollte noch mehr Spatzen schießen.«

»Haben Sie das getan?«

»Weiß nich. Kann sein.«

»Es war schon zu dunkel,« widersprach Valentin. »Der junge Herr ist auf sein Zimmer gegangen und hat geturnt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Das Zimmer hier liegt über der Küche, man hört es durch die Parterre-Etage hindurch, wenn der junge Herr hier oben turnt. Wir in der Küche haben ihn alle gehört. Die Jungfer machte noch eine Bemerkung darüber.«

235 Olten sah Tobi an. Der guckte über Don weg auf den Diener. Sein helles, blondes Gesicht war still und sanft wie ein Heiligenbild.

»Haben Sie denn von sechs bis acht Uhr geturnt?«

»Nein, so lange nicht,« antwortete wiederum Valentin. »Als um sieben Uhr der Wagen zur Bahn fuhr, um den Herrn abzuholen, saß der Herr Tobi hier an diesem Fenster und schrieb.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich hab' ihn sitzen sehen und Kutscher Friedrich auch. Die Hängelampe, diese Lampe da, brannte, und der Herr saß am Fenster ganz still und hatte seinen Hut noch auf. Und am anderen Fenster stand Don und bellte.«

»Warum bellte Don?«

»Weil er den Wagen hörte und Bruno auch bellte.«

Olten trat zu Tobi. – »Ist das so? Haben Sie um sieben Uhr hier am Fenster gesessen?«

Tobi lachte. »Valentin sagt's ja.«

»Und Sie selbst wissen es nicht?«

»Va – Valentin weiß viel besser, weiß alles besser.«

»Um wieviel Uhr wurde an jenem Abend gegessen?«

»Punkt acht Uhr, wie immer.«

»Haben Sie an jenem Abend mit Ihrer Frau Tante zu Nacht gegessen, Herr von Heesemann?«

»Weiß nicht mehr.«

»Gewiß, Herr Kommissär,« erwiderte Valentin. »Ich habe ja die beiden Herrschaften bedient.«

»Und Herr Tobias von Heesemann kam pünktlich ins Speisezimmer?«

»Ganz pünktlich.«

236 »Von seinem Zimmer – oder von draußen?«

»Er kam von seinem Zimmer, die große Treppe herunter.«

»Haben Sie in der Zeit zwischen sieben und acht Uhr mit dem jungen Herrn gesprochen?«

»Nein.«

»Sind Sie in seinem Zimmer gewesen?«

»Auch nicht. Ich wollte dem Herrn Tobi ein paar Gewichte zum Turnen bringen, die der Schmied für ihn ausgebessert hatte. Aber er hat mir die Tür nicht aufgemacht.«

»Nicht aufgemacht? Wie denn? Hatte er sich eingeschlossen?«

»Ja. Das tut er öfters. Der Herr sah es nicht gern. Er hat ihm einigemal den Schlüssel weggenommen. Dann spannte der junge Herr eine Kette vor oder schob den Kleiderschrank vor die Tür. Da ließ der Herr ihm den Schlüssel.«

»Hat Herr Tobias Ihnen geantwortet, als Sie klopften?«

»Nein.«

»Wie können Sie denn wissen, daß er in der Stube war?«

»Don schlug an. Der ist immer, wo der junge Herr ist. Und übrigens sah ich ihn ja von unten am Fenster sitzen.«

»Aber seine Stimme haben Sie nicht gehört?«

»Nein.«

»Warum haben Sie Valentin nicht geantwortet, Herr von Heesemann?«

Tobi hatte eine Schale mit Milch gefüllt und hielt sie Don vor das Maul. – »Nun so.«

237 »Was heißt das? Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht gestört sein wollten?«

»Ja. Nicht gestört sein. – Da! Er trinkt nicht. Er wird sterben. Wenn mein Don stirbt!« –

»Aber Herr Tobi,« mahnte Valentin, »Schmied Carstens sagt doch, Don wird in acht Tagen ganz gesund sein. Sie müssen dem Herrn Kommissär antworten.«

»Weshalb wollten Sie nicht gestört sein? Schrieben Sie vielleicht?«

»Ja, ja, ich schrieb.«

»Was schrieben Sie denn?«

»Weiß nicht.«

»War es ein Brief? Ein Brief an Hete Meier?«

»Nein, nein.«

»Aber Sie haben ihr gelegentlich geschrieben?«

»Nein, nein.«

»Wenn ich reden darf, Herr Kommissär,« mischte Valentin sich ein, »ich glaube bestimmt nicht, daß der junge Herr je an das Mädchen geschrieben hat. Er wußte ja gar nicht, wo sie war.«

»Er wußte nicht, wo sie war?«

»Sicher nicht. Meiers waren schon fort, als wir vom Jahrmarkt in Langenhagen zurückkamen, und der junge Herr hat nie wieder nach ihnen gefragt. Er sagte mir immer alles, was er auf dem Herzen hatte.«

»Meinen Sie? – Was schrieb er denn, wenn er schrieb?«

»Ach, das war lauter dummes Zeug, einzelne Sätze, oft nur Buchstaben oder auch Anfänge von Geschichten, die kein Ende hatten.«

238 Olten trat zu einem breiten Schreibtisch, in dessen Laden und Fächern die Schlüssel steckten.

»Herr von Heesemann, Sie gestatten, daß ich Ihre Papiere durchsehe.«

Tobi antwortete nicht. Er hatte Dons Kopf auf seine Knie gezogen und zerrte liebkosend an den langen Ohren des Jagdhundes.

Der Schreibtisch war der eines zwölfjährigen Jungen, ein paar Schulhefte, Bleistifte, Federhalter und Schulbücher lagen darin. Hie und da war ein Blatt beschrieben mit großen, ungeschickten Buchstaben, wie der Diener gesagt hatte: Sätzchen ohne Sinn, gekritzelte Bilder von Menschen und Dingen, wohl hundertmal der Name »Tobias von Heesemann«. Dann einzelne Bogen mit etwas wie Versen. Auch die waren wirr und abgebrochen. Aber ein Gedicht behielt Olten staunend in der Hand:

»Ich bin ein dunkler Nachtschmetterling.
Du bist wie die Rose von Saron.
Deine Haut ist wie Perlen und Elfenbein.
Zwei Diamanten sind die Augen dein. – –
          Leuchte nicht so!
Schmetterlinge fliegen ins Licht.
Oder – wenn du willst, –
          Verbrenne mich!
Verbrenne mich zu schwarzer Asche,
          Du Sonne!«

»Haben Sie das geschrieben, Herr von Heesemann?«

Der junge Mensch wandte den Kopf. Ein dunkles Rot färbte sein Gesicht. Er haschte das Blatt, zerriß es zornig in Fetzen. »Da! Da!«

»Ist das Gedicht von Ihnen?«

»W–was geht Sie's an? – Geht kei–keinen was an! – Ich will nicht! – W–will nicht!«

239 »Sagen Sie mir nur, ob die Verse sich auf Hete Meier beziehen?«

Aber Tobi schrie mit schäumenden Lippen: »Valentin! Er soll weggehen! Er hat Don geschossen. Was will er von mir? – Weg! – Weg!«

Krampfhaft schlug er mit den Fäusten um sich, die Augen voll Tränen. All seine Glieder zuckten.

»Herr Kommissär, nu kann kein' mehr was mit unsern jungen Herrn anfangen,« mahnte leise der Diener.

Olten nickte. Was sollte er auch noch fragen? Er mußte sich drein ergeben, seinen Verdacht zerrinnen zu sehen wie Schnee vor der Sonne. Wenn Tobi Heesemann am Mordabend um sechs Uhr zu Haus gewesen war, wenn Diener und Kutscher ihn noch um sieben Uhr am Fenster hatten sitzen sehen, wenn er um acht Uhr beim Abendessen war, so konnte er nicht zugleich nach der anderthalb Stunden entfernten Station Scharndorf gerannt, dort auf den Zug gesprungen sein und Heesemann ermordet haben. Freilich – warum antwortete er dem Diener nicht, als der klopfte? Warum saß er mit dem Hut auf dem Kopf in der Stube?

Während Olten neben dem Diener die Treppe zum Erdgeschoß hinunterstieg, fragte er: »Finden Sie es nicht auffällig, daß der Herr Tobi in der Stube seinen Hut trug?«

Valentin schüttelte den Kopf. »Das tut unser junger Herr oft, besonders abends. Sein Augens sind man schwach, und das Lampenlicht blendet ihn.«

»Wie betrug er sich bei der Todesnachricht?«

»Wie ein Kind, das er ja ist. Er weinte, und dann lachte er.«

240 »Hat er Ihnen gegenüber sich geäußert, daß er nun der Herr auf Brake sei?«

»Nee, Herr Kommissär, ich mein', da hat er nich mal an gedacht. Für ihn macht das ja auch nichts aus, nicht wahr? Vorher war der Herr von Heesemann sein Vormund. Nu ist's ein anderer. Mündig kann der ja nie werden.

»Sprach er jemals darüber, daß er heiraten wolle?«

»Er sagte früher woll mal: ›Wenn ich erst verheiratet bin.‹ Aber da hat er sich nix bei gedacht.«

»Wollte er nicht Hete Meier heiraten?«

»Nee, Herr Kommissär. Das war man bloß ein' Einbildung von Herrn von Heesemann. Er fragte gar nix nach das Mädchen.«

»Sind Sie dessen gewiß?«

»Mir würd' er's gesagt haben. Mir sagt er doch alles.«

›Ein versteckter Charakter, wie die meisten dieser Halbirren,‹ erwog Olten, ›geschmeidig wie ein Marder, kräftig wie ein Bär, voll wilder Leidenschaften und Instinkte. Er könnte der Mörder sein. Auch das Motiv wäre gegeben. Nach allen Gesetzen der Psychologie könnte er es sein. Nur daß der ganze äußere Tatbestand dagegen spricht.‹

Er ging in die Küche.

»Bitte, Mamsell, wiederholen Sie mir doch noch einmal, was Sie vom Abend des dritten November wissen.«

»Gott, Herr Kommissär, es war'n recht graulichen Abend, und es war mich so benaut, immer, als wenn sich'n Unglück ansagen wollt'.«

»Sie sind von sechs bis acht Uhr hier in der Küche gewesen?«

241 »I ja, ich mußt' doch für die Herrschaften das Abendbrot kochen.«

»Wissen Sie, wo der junge Herr Tobias sich an dem Abend aufgehalten hat?«

»Der kam kurz vor sechs Uhr in die Küche, weil Don Futter haben sollte, und denn ist er auf seine Stube gegangen und hat geturnt.«

»Haben sie ihn später noch gesehen?«

»Er saß ja bei der gnä' Frau in der Stube, als ich hinaufkam, weil der Herr mit dem Wagen nich mitgekommen war, nich das erstemal und das zweitemal auch nich. Ach du mein! Und da wußt' ich doch gleich, daß ein Unglück geschehen war.«

»Was sagte denn der junge Herr, als der Wagen leer zurückkam?«

»Uns' junger Herr? Der sagte gar nix. Der hatte so'n paar Fäden von gnä' Frau ihrem Stickkram in der Hand. Da flocht er Zöpfchen von. Aber gnä' Frau, die wurde böse und sagt', ich soll nich kindisch sein, wie ich ihr von mein slimme Ahnung sprach.«

»Was war denn nun so gruselig hier im Haus, daß Sie an ein Unglück dachten?«

»Ach, das war immer, als ob Stimmens sich melden taten. Und es sprach doch kein. Und einmal, da slug mit lautem Krach ne' Tür zu – und war doch kein Mensch aus dem Haus gegangen.«

Olten horchte auf. »Eine Tür? Was für eine Tür?«

»Die alte Tür nach'n Hofe. Es ist wahr, sie fliegt immer auf, wenn man ihr nich ganz fest ins Sloß slägt.«

»Zeigen Sie mir die Tür.«

242 Mamsell führte Olten zum Ende des unteren Flurs. Von der Vorderseite führte eine kleine Treppe hinab ins Kellergeschoß. Aber nach der Kanalseite hin lag der Ausgang in gleicher Höhe mit dem Fußboden. Es war eine ganz gewöhnliche Tür mit Klinke und Schloß. Wenn man sie öffnete, stand man einem kleinen Boskett gegenüber, an das auf der rechten Seite das Braker Holz sich anschloß.

»Um wieviel Uhr hörten Sie diese Tür zuschlagen?«

»Das war Schlag sechs Uhr. Ich war ganz ärgerlich auf unser Marie, weil daß sie im Schummern die Tür mit'n Slüssel abschließen soll. Sie machte Widerworte und sagt', sie hätt' abgeschlossen. Das sagen Derns immer.«

»Rufen Sie mir Marie.«

Das Hausmädchen kam.

»Sagen Sie, wie war es am Abend des dritten November mit dieser Tür? Hatten Sie sie abgeschlossen oder nicht?«

»Ich mein' für gewiß, daß ich ihr abgeschlossen hatt'. Aber so um sechs, da flog sie mit ein' mächtigen Krach zu. Da bin ich noch mal hin und hab' ihr fest zugeschlossen.«

»Als sie zuschlossen, haben Sie da jemand gesehen, der hinausgegangen sein könnte?«

»Nee, da war niemand, nich innen vor der Tür und nich draußen.«

»Wenn niemand hinein- noch hinausgegangen war, wie mag das denn zugegangen sein, daß die Tür schlug?«

»Es war ein' mächtigen Wind den Abend.«

243 »Sie sagen doch, Sie hätten mit dem Schlüssel zugeschlossen.«

»Ja, ich dacht' das.«

»Aber beschwören können Sie es nicht?«

Das Mädchen zögerte. »Ich mein' das für gewiß. Aber 'n Eid? Nein, da bin ich bange. Der Mensch kann sich irren.«

»Aber nachdem Sie gleich nach sechs Uhr zum zweitenmal abgeschlossen hatten, da ist die Tür verschlossen geblieben. Sie sind gewiß, daß an dem Abend, wer etwa durch diese Tür hinausgegangen wäre, jedenfalls durch diese Tür nicht wieder hineinkommen konnte?«

»Nein, das konnt' kein'.«

Olten ließ sich die Nebenräume aufschließen. Sie hatten enge, vergitterte Fenster.

»Haben Sie an dem Abend Schritte gehört, so als ob jemand leise an der Küchentür vorbeischliche?«

»Das war den ganzen Abend wie ein leises Schleichen und Schnaufen und Stöhnen. Aber wenn ein nachsah, dann war da nix.«

»Waren diese seltsamen Geräusche nur zwischen sechs und acht Uhr vernehmbar oder den ganzen Abend lang?«

»Am stärksten wohl zwischen sechs und acht Uhr, um die Zeit, als das Unglück geschah.«

»Wie erklären Sie das?«

»Ja, Herr Kommissär, Sie glauben das ja wohl nich, aber wir hier sind all der Meinung, der Herr hat sich angesagt.«

Olten fragte noch beim Kutscher nach, ob auch er den jungen Herrn Tobias um sieben Uhr am Fenster 244 seines Zimmers habe sitzen sehen. Und als der des Dieners Aussage bestätigte, fuhr er zur Station, ohne sich von Frau Anna zu verabschieden. Bitter enttäuscht fuhr er heim. Falsch war die Fährte, auf der er heut gejagt hatte.

In Scharndorf auf der Station wartete der Zugführer des Zuges, in dem der Mord geschehen war, auf den Polizeileutnant. Er brachte die Liste der Personen, die mit dem Baron Krastel zusammen bis Eckernförde gefahren waren. Einer davon war der Bäckermeister aus Scharndorf. Olten suchte ihn sogleich auf. Baron Krastel war an jenem Abend verspätet zur Station gekommen und gleich in den fahrenden Zug gestiegen. Der Bäckermeister kannte ihn gut, hatte früher oft Brot nach Margretenhof geliefert. Der alte Herr hatte aufgeregt über die Schlechtigkeit Heesemanns geschimpft. Er schien ein Glas über den Durst getrunken zu haben, wie das öfters vorkam. Das Abteil verlassen hatte er nicht, nicht auf den Stationen, nicht während der Fahrt, nein, nicht einen einzigen Augenblick. Und der Bäckermeister war mit ihm bis Eckernförde gefahren. Er wußte das genau, er konnte es beschwören.

Ganz zerschlagen kehrte Olten in seine Wohnung zurück. Dort erfuhr er, daß im Lauf des Tages der Staatsanwalt bei ihm gewesen sei, und sofort suchte er ihn auf.

»Neues in unserer Sache, Brockmann?«

»Ich hoffte, von Ihnen Neuigkeiten zu hören. Sie waren gestern und heute unterwegs.«

Olten fuhr sich verzweifelt mit der Hand über die Stirn.

245 »Einen so verzwickten Fall habe ich nie bearbeitet.«

»Der Fall ist einfach für den, der sehen will.«

»Nein.«

»Alle Tatsachen, die wir feststellen konnten, weisen auf einen einzigen.«

Olten schwieg eine Weile und sah düster vor sich hin.

»Warum war Heesemanns Portemonnaie leer?« fragte er plötzlich.

»Lieber Olten, ein so geringfügiger Umstand« –

»Der Umstand ist nicht geringfügig. Soll vielleicht Ilefeld den Ermordeten auch ausgeraubt haben?«

»Das Portemonnaie kann leer gewesen sein.«

»Leute wie Heesemann tragen keine leeren Portemonnaies in den Taschen. Übrigens haben Sie so gut wie ich bei der Hohorster Jagd das Zehnmarkstück mit dem Prägefehler gesehen, das Heesemann seinen Heckepfennig nannte. Wo ist das geblieben?«

»Ich gebe zu, dieser Zufall bedarf noch der Aufklärung. Indessen« –

Ein heftiges Läuten am Telephon unterbrach den Staatsanwalt.

Er ging zum Apparat.

»Hier Staatsanwalt Brockmann. Wer dort?«

»Polizeikommissär Hermann in Eckernförde. Herr Staatsanwalt, ist Polizeileutnant von Olten bei Ihnen? Auf dem Amt wurde mir der Bescheid.«

»Ja, er ist hier.«

»Ich möchte ihn sprechen.«

»Also, Olten, das Polizeiamt Eckernförde wünscht Sie.«

Eilig trat Olten herzu. »Hier Polizeileutnant von Olten. Wichtiges?«

246 »Ja. In der Heesemannschen Mordsache. Etwas, das vielleicht wichtig werden kann. Goldschmied Becker hat vor einer Stunde auf das Polizeiamt ein ungültiges Goldstück gebracht, das er für echt in Zahlung genommen hatte. Es entspricht genau der von Ihnen gegebenen Beschreibung des Goldstückes, das Herr von Heesemann bei seiner Ermordung bei sich getragen haben soll. Ein Zehnmarkstück mit dem Bildnis Kaiser Friedrichs. Das Ohr unter dem Haar fehlt.«

»Weiß Becker, von wem er das Goldstück bekommen hat?« fragte Olten aufgeregt.

»Das ist das Interessanteste. Der Schmiedegeselle aus Brake, der Konrad Sedlinski, der schon wegen Mordverdachts eingezogen war, hat es ihm für einen Frauenschmuck gegeben, einen kleinen Anhänger.«

»Das ist wirklich sehr interessant. Ich danke Ihnen aufrichtig, daß Sie mich gleich in Kenntnis setzen, lieber Kollege. Wann hat der Schmied den Schmuck gekauft?«

»Heut nach Feierabend.«

»Das ist äußerst interessant. Vielen Dank. Ich komme morgen früh selbst nach Eckernförde.«

Und er wandte sich ins Zimmer zurück, mit leuchtenden Augen. Jede Spur von Ermüdung war von ihm gewichen. »Haben Sie das gehört, Brockmann? Ich muß sofort zwei sichere Leute beordern, die den Schmied beobachten und auf den ersten Wink von neuem verhaften.«

Kopfschüttelnd sah Brockmann dem Davonstürmenden nach. Er teilte nicht dessen Zuversicht. 247



 << zurück weiter >>