Luise Westkirch
Der Todfeind
Luise Westkirch

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Zweites Kapitel.

Das langgestreckte zweistöckige Herrenhaus von Brake lag auf hohem Ufer über einem Arm des alten Kanals, der durch den neugeplanten ersetzt werden sollte. Heesemann sen. hatte das wild wuchernde Buschwerk auf der Böschung weghauen und durch ein saubergehaltenes Blumenparterre ersetzen lassen. Er ließ die freigelegte Front blendendweiß tünchen und mit ein paar malerischen Veranden versehen. So gewann, wer auf einem der kleinen Kanaldampfer vorüberfuhr, auf Minuten den Einblick in ein Stückchen Paradies inmitten der eintönigen Landschaft, der nur die grünen Knicke mit ihren hohen Haselnußhecken eine Art von Charakter gaben. Hinter dem Hause ging der waldartige Park bald in das Braker Holz über, das unter den vorigen Besitzern des Gutes berühmt gewesen, von dem älteren Heesemann aber zur Hälfte niedergehauen und in Ackerland verwandelt worden war. Der Hof lag ein wenig seitwärts vom Haus, und in weiten Abständen zogen sich am Waldrand hin das Schulhaus und die Instwohnungen, lauter neue Steinbauten mit großen Fenstern, der Stolz des Gutsherrn.

Der Tag nach der Jagd auf Hohorst war ein 37 klarer Oktobertag, ein milder Nachglanz des entschwundenen Sommers. In der Strohhütte, unter den im Sonnenschein wie Gold schimmernden Buchenkronen des Parks saß Anna auf einem Schaukelstuhl und stickte. In müdem Takt zog sie den Faden aus, umränderte ohne Eile, ohne Rasten Loch um Loch in der weißen Leinwand. Heesemann haßte diese automatenhafte Bewegung, diese endlosen, farb- und ausdrucklosen Stickereien. Hätte er den Zorn, die Enttäuschung, den Haß sehen können, die seine Frau Stich um Stich seit drei Jahren hineinstickte, kann sein, daß ihm vor der Farbigkeit ihres Ausdrucks gegraut haben würde.

Am Eingang der Strohhütte auf einem Schemel kauerte ein hübscher blonder Jüngling. Seine linke Schulter stand ein klein wenig höher als die rechte, sonst schien sein Körper kraftvoll und geschmeidig. Aus einem seinen, wie eine Kamee geschnittenen Gesicht schauten Augen blau und leer wie der Himmel. Um seine Lippen spielte beständig ein törichtes Lächeln.

Er hielt ein Stück Papier auf den Knien und malte emsig mit einem Bleistift Worte darauf, während die Frau schweigend ihren Faden zog und aus den Buchenwipfeln ein goldenes Blatt nach dem andern lautlos niederschwebte. An seine Füße geschmiegt lag ein weiß und braun gefleckter Hühnerhund mit lang auf die Schultern fallenden Ohren und weit geschweiften Lefzen. Mit seinen zärtlichen braunen Augen verfolgte er jede Bewegung seines Herrn. So oft der Schreibende den Blick vom Papier auf den Hund senkte, klopfte der Schwanz auf dem Boden freudige Antwort.

38 Plötzlich legte der Jüngling den Bleistift nieder. Ein Kampf malte sich auf seinem kindischen Gesicht.

»T–Tante – Tante Anna!«

Es war, als ob beim Sprechen seine Zunge gegen ein Hindernis stieße. Doch boten's nicht Gaumen noch Zahnfleisch. Es saß viel tiefer in dem armen, verkrüppelten Hirn.

Mit gütigem Blick sah Frau von Heesemann auf.

»Was denn, Tobi?«

»S–soll ich dir mal was z–zeigen, Tante Anna? Ganz was F–Feines?« Er kicherte leise.

»Kann Don ein neues Kunststück?«

Tobi schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich – ab–aber nicht lachen! – Ich z–zeig's auch nur dir, Tante Anna. Ich – ich hab' 'n Gedicht gemacht.«

»Ein Gedicht? – Das möchte ich hören, Tobi.«

Ungeschickt vor Verlegenheit und blutrot im Gesicht schob Tobi Anna das Stück Papier auf den Tisch. »Ich – ich sch–schäm' mich so.«

Er versteckte das Gesicht in den Händen.

Anna las:

»Ich bin ein dunkler Nachschmetterling.
Du bist wie die Rose von Saron.
Deine Haut ist wie Perlen und Elfenbein.
Zwei Diamanten sind die Augen dein.
          Leuchte nicht so!
Schmetterlinge fliegen ins Licht.
Oder, wenn du willst, –
          Verbrenne mich!
Verbrenne mich zu schwarzer Asche,
          Du Sonne.« –

39 Erstaunt sah Anna auf die unorthographisch geschriebenen Zeilen.

»Aber – das ist ja hübsch. Hast du das gemacht, Tobi?«

»Ach, du! So was m–macht man ja überhaupt nicht. D–das kommt über einen – zu Z–Zeiten.«

Und nach einem Augenblick, sehr verlegen: »Du – Tante Anna – m–mit meiner Schulter – sieht man das immer noch?«

»Wenig, Tobi. Es ist viel besser geworden.«

»M–Meinst du nicht, daß es noch einmal g–ganz weggeht? Ich turne doch den ganzen Tag. Gib!«

Er nahm ein Handspiegelchen aus dem Stickkorb und betrachtete sich.

»Wenn ich so stehe wie eben, s–sieht man's kein b–bißchen.«

Annas Gedanken weilten noch bei den Versen. »Mir scheint, Tobi, Onkel Max hat zu früh deinen Lehrer weggeschickt. Wenn du dir nur Mühe gegeben hättest, du würdest gewiß eine Menge gelernt haben.«

»Nein, nein!«

»Du solltest wieder anfangen, Unterricht zu nehmen. Du willst doch nicht dein ganzes Leben lang Spatzen schießen und den Hund dressieren.«

»Doch, doch! Ich bin dumm. Ich bin ein T–Trottel. Ich brauch' nichts zu lernen. Onkel hat's gesagt.«

Mit einer der sonderbaren, fahrigen Bewegungen, die ihm eigen waren, riß er das Blatt mit dem Gedicht wieder an sich und versenkte es in seiner Tasche. »N–nicht Onkel zeigen!«

40 »Warum denn nicht? Onkel würde sich freuen.«

Tobi schüttelte den Kopf.

»Onkel hat dich lieb, das weißt du. Er hat dir Don geschenkt und das hübsche Gewehr, mit dem du die Spatzen schießest und all deine Turngeräte und gibt dir jede Woche eine Menge Taschengeld, damit du Karussell fahren kannst.«

Tobi liebkoste den Jagdhund, der an ihm aufgereckt stand und lachte töricht vor sich hin.

»Nicht wahr, Tante Anna, m–mein toter Papa, d–das war Onkel sein Bruder?«

»Das weißt du ja.«

»Un G–Großvater Heesemann war der Papa von beiden. Un wenn der noch ein Gut g–gehabt hätte außer B–Brake, dann hätte das mein Papa bekommen – oder ich« –

»Aber Tobi, was wolltest du mit einem Gut? Du hast ja nicht einmal ordentlich schreiben und lesen lernen wollen. Von der Landwirtschaft verstehst du gar nichts. Fühlst du dich denn nicht viel behaglicher bei uns?«

Die Augen Tobis wurden dunkel. »Sch–schon. Aber ich könnt' doch – ich könnt' doch – h–heiraten« –

Jetzt mußte Anna lachen. »Du, ich glaube, das hat noch ein bißchen Zeit. Du bist ja erst siebzehn Jahre alt.«

Da begann auch Tobi zu lachen, laut und unbändig. Er schlug sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Die Tränen liefen ihm aus den Augen. »So 'n Spaß! So 'n Spaß! Hast du's geglaubt? Tante Anna, hast du's wirklich geglaubt? Heiraten! Tobi! Der 41 dumme Tobi – hei–hei–heiraten! Haha!« Und ganz plötzlich zornig werdend, stand er vor ihr mit gerunzelter Stirn, mit geballten Fäusten.

»Wenn du – du Onkel ein Wort von dem Ge–Gedicht sagst, dann – dann – dann« –

Angewidert nahm Anna ihre Stickerei wieder auf.

»Ich sag' nichts, wenn Du nicht willst.«

Tobi wandte sich kurz um. »Don! S–Spatzen schießen! Spatzen schießen! Hussah!«

Zwei Minuten darauf hörte Anna den leisen Knall des Teschings, das Stürzen des Vogels, die Sprünge Dons nach der Jagdbeute. Langsam zog der Lärm sich tiefer ins Gehölz, bis er ganz erstarb.

Sie seufzte. Im Anfang ihrer Ehe hatte sie sich in warmem Mitgefühl des geistig zurückgebliebenen Neffen ihres Mannes angenommen. Ihre Mühe war so vergeblich gewesen wie all ihr anderes Mühen. Das winzige Etwas, das im Hirn des hübschen Knaben verschoben war und ihn zu ewiger Kindheit verdammte, ließ sich durch keine Kunst und keine Geduld zurechtschieben. Nun war sie des zu dummen wie des zu klugen Heesemann müde. Sie sank zurück in ihre Gedanken, ihre Träume, wilde, böse Gedanken, unerfüllbare Träume – und lockend doch wie der Apfel im Paradies.

Max von Heesemann stand inzwischen an seinem Telefon und ließ sich zum dritten Male an diesem Tage mit Hamburg, dem Geldmakler Jonathan von Strauß verbinden.

»Hier: Max von Heesemann auf Brake. Wer dort?«

»Moritz Mandelbaum.«

42 »Ist Ihr Chef von seiner Geschäftsreise nun heimgekehrt?«

»Bedaure. Nein.«

»Wissen Sie auch nicht, ob er heute noch heimkehrt?«

»Es ist unbestimmt. Aber wenn der Herr Baron möchten etwas Dringendes – der Herr von Strauß hat mich mit seiner Vertretung betraut. Und ich kenne doch den Herrn Baron von Heesemann. Ich weiß, daß des Herrn Baron Vater selig hat schon Geschäfte gemacht mit meinem Chef.«

Nach kurzer Überlegung entschloß sich Heesemann. Die Sache war dringend. Er gab seine Order.

Eben hatte er befriedigt »Schluß« gerufen, als nach kurzem Klopfen Valentin, der Diener, eintrat.

»Der Herr hat befohlen, daß ich gleich Bescheid bringe.«

»Waren Sie auf Horste?«

»Da ist der Brief vom Herrn von Quast.«

»Es ist gut.«

Heesemann las den Brief und schob ihn befriedigt in seine Tasche. Er nahm seinen Hut und ging aus dem Haus. Über den Hof schreitend, rief er den Vogt vom Futterboden.

»Halten Sie heute abend um sieben Uhr zwei Bauwagen und Gespanne bereit.«

Ohne seinen Befehl zu erklären, ging er weiter am Schulhaus und der Schmiede vorüber den Waldessaum entlang. Zehn Minuten von den übrigen Katen entfernt, hinter einem Ausläufer, den der Wald in das Ackerland hinausstreckte, lag noch ein Insthäuschen. Heesemann schritt zwischen der jungen Menschenbrut, 43 die im Sand vor der Pforte krabbelte, hindurch und trat in die offene Küchentür.

Vater, Mutter und die älteste Tochter saßen beim Vesperbrot; der Vater, ein echter Holsteiner, mit breiter Brust und treuen Blauaugen, die Mutter verarbeitet, früh verblüht, die siebzehnjährige Tochter, nicht Vater noch Mutter gleichend, schlank, rassig, mit einem Mund, so groß und so rot wie eine reife Kirsche, und einem Paar Augen, die mit der Glut kleiner Sonnen jedem Mannsbild ins Gesicht flammten.

Mit einer Handbewegung wehrte Heesemann der Frau, die ihn in die gute Stube nötigte, und mit einer anderen hielt er die Tochter zurück, die bescheiden aus der Haustür schlüpfen wollte.

»Bleiben Sie, Hete. Was ich sagen will, geht Sie mit an.«

Heesemann sprach nie platt, er duzte auch nie seine Leute, wie Ilefeld und die Seekamps taten. Er polterte nicht und fluchte nie. Vielleicht war das einer der Gründe, weshalb seine Arbeiter kein Zutrauen zu ihm fassen konnten.

Er setzte sich auf den Stuhl, den die Instfrau mit der Schürze abwischte, und schlug mit dem Stock gegen seine Stiefel, während seine Augen unter ihren schweren Lidern hervor unverwandt Hete beobachteten.

»Nämlich – Wilm Meier, Sie können hier auf Brake nicht bleiben!«

Das Blut stieg heiß in das braune Gesicht des Instmannes.

»Ich hab' mir nichts zuschulden kommen lassen, Herr. Der Zettel für den Sozialschen bei der Nachwahl – der war nich von mir.«

44 »Darum handelt sich's nicht. Ihre Hete ist eine schmucke Deern, eine sehr schmucke Deern. Und mein Neffe Tobias ist ein unglücklicher junger Mensch. Und wenn ich alle Strohdächer auf dem Hof habe abreißen lassen, um einer Feuersbrunst vorzubeugen, dann können Sie sich wohl denken, daß ich auch alles tun werde, damit in meiner Familie kein Großfeuer entsteht. Sie müssen ziehen, Meier, heute noch!«

Die breite Brust des Mannes begann heftig zu arbeiten. Seine schwerfällige Zunge suchte nach Worten. Ziehen! Binnen wenigen Stunden! Wie man einen Strolch ausweist. Das hatte er nicht verdient! Das brauchte er nicht zu dulden.

Frau Meier schluchzte in die Schürze. Nur Hete stand schlank und keck, flammte mit ihren unnatürlich großen Augen Heesemann an und fand die Worte, nach denen ihr Vater suchte.

»So hart wird der Herr nicht mit uns verfahren. Können wir dafür, wenn der Herr Tobias – nun, wie so junge Herren sind. Ich hab' mich genug vor ihm gefürchtet. Ich bin immer zu Mutter gelaufen, wenn ich den jungen Herrn von weitem hab' kommen sehen. Ist's nicht wahr, Mutter? Aber kränken durft' ich ihn doch auch nicht, weil er krank ist. Wir haben nie vergessen, was wir dem Herrn schuldig sind, kein' von uns! Der Herr wird Vater nicht den Schimpf antun, daß er uns Knall und Fall auf die Landstraße jagt.«

»Davon ist nicht die Rede. Ich weiß, Meier, daß Ihr Kontrakt noch bis Ostern läuft. Was ich vorschlage, liegt ebensosehr in Ihrem wie in meinem Interesse. Da« – er zog den Brief aus der Tasche, 45 den Valentin ihm vor einer halben Stunde gebracht hatte – »auf Horste beim Baron von Quast steht eine Instwohnung leer. Die Leute, die lange drauf saßen, haben sich eine kleine Hofstelle gepachtet. Auf meine sehr warme Empfehlung nimmt Baron von Quast Sie sofort auf. Die Bedingungen sind die gleichen wie hier, die Wohnung ist vortrefflich. Und ob Oktober oder April, kann Ihnen einerlei sein, denn ich würde jedenfalls für Ostern kündigen. Nur würde ich dann nicht für eine gute Unterkunft sorgen wie jetzt. Das Gespann zum Umzug stelle ich Ihnen kostenfrei. Meine einzige Bedingung ist, daß unsere Abmachungen geheim bleiben.«

Wilm Meiers Kopf war verwirrt von der Plötzlichkeit des Schlages. »Ich weiß nicht, Herr, ob das woll angehn kann. So bald« –

»Nicht angehn?« fragte Heesemann scharf. »Wollen Sie warten, bis es zu spät ist? Mein Neffe ist kein Mann, der heiraten kann. Könnte er's, so würde er nicht Ihre Hete heiraten.«

Er stand auf. »Ich schicke Wagen und Pferde heute abend um sieben.«

Vor Hete blieb er stehen, faßte sie unter das Kinn. Man brauchte nicht schwachsinnig zu sein, um von diesen Reizen unterjocht zu werden.

»Kleine Hexe! Soll ich mal kommen und nachsehen, wie es Ihnen in Horste geht?«

»Um mich wird der Herr sich gerad' bemühen!«

»Wer weiß? – Ich mein's gut mit Ihnen – sehr gut.«

Er drehte sich noch einmal in der Tür um. Wie sie gelächelt hatte, mit einem Mundwinkel nur! Und 46 der Schelmenblick dazu. Ein Feuerteufel, das Mädchen! Ein Weib, wie Gott sie den Männern zur Freude hier und da auf der Welt noch wachsen läßt. Aber für den Jungen war das nichts. Je eher sie ihm aus den Augen kam, um so besser.

Als Heesemann jetzt durch den Wald der Strohhütte zuschlenderte, in der eben der blasse Valentin das Damasttischtuch für den Nachmittagskaffee auslegte, hörte er aus der Höhe eines Baumwipfels rufen:

»Onkel M–Max! Onkel Max!«

Gewandt wie ein Eichhörnchen glitt Tobi am glatten Baumstamm herab. »Kann ich nich fein klettern, w–was?«

Fast mit Zärtlichkeit ruhten Heesemanns Augen auf dem Knaben. Sein halbes Vermögen hätte er drum gegeben, wenn dieser Heesemann als ein vollwertiger Mensch in der Welt gestanden hätte, der Heesemannschen Familie zu Stolz und Ruhm. »Bist vergnügt, mein Jung?«

Tobi nickte eifrig, und klug sah das weiße Kameengesicht zwischen dem hellen Blondhaar hervor.

»Don ap–portiert schon alles, was ich verliere, T–Taschentuch, H–Handschuh, alles!«

»Hör', Tobi, in Langhagen ist heute Vogelschießen. Möchtest du nicht den Kasperl sehen und den Tanzbären? Du kannst mit Valentin hingehen.«

Tobi schrie auf vor Freude. »Onkel Max! O–Onkel Max! Hei! Tobi geht zum V–Vogelschießen! Tobi geht mit Valentin zum V–Vogelschießen!«

»Warte doch. Du mußt Geld haben für den Kasperl, für das Karussell.«

Heesemann zählte fünf Mark in Tobis 47 ausgestreckte Hand in lauter Markstücken und kleinen Münzen.

Gierig sah Tobi auf jedes Stück. Die Hand schloß er nicht.

»Noch mehr möchtest du? Was willst du denn so Teures kaufen?«

Tobis helle Augen waren dunkel vor Verlangen. »K–Kaufen – ja kaufen!«

»Ein Marktstück für Hete!« dachte Heesemann und freute sich, daß er eingegriffen hatte. Er fügte nach fünf Mark hinzu.

Gierig stopfte Tobi das Geld in die Tasche und rannte Valentin nach, gefolgt von dem vor Eifer bellenden Don. Heesemann und seine Frau blieben allein miteinander.

Seit der Heimfahrt gestern herrschte eine schwüle Stimmung zwischen ihnen. Heesemanns Herz war bis zum Rand gefüllt mit Groll. Aber dem gleichmütig müden Gesicht Annas gegenüber wurde es ihm schwer, den Anfang zu der ersehnten Auseinandersetzung zu finden. Irgendwie mußte er doch seiner Erbitterung Luft machen.

»Du könntest dich wohl ein bißchen mehr um Tobi bekümmern,« sagte er verdrießlich.

Sie sah flüchtig von ihrer Stickerei auf.

»Ich habe dir schon immer gesagt, du solltest ihm einen geschickten Hofmeister geben. Ich bin überzeugt, daß aus dem Jungen noch etwas zu machen wäre.«

»So – du bist überzeugt?! Die berühmtesten Professoren haben seinen Zustand für hoffnungslos erklärt. Du aber bist vom Gegenteil überzeugt. Ganz Frauenart.«

48 Sie antwortete nicht.

»Wodurch bist du denn überzeugt?« drängte er zornig.

»Tobi hat sich in den letzten Wochen verändert. Er ist aufgeweckter, froher, auch manierlicher.«

Mit einem kurzen, bitteren Auflachen antwortete Heesemann. »Das glaub' ich. Weil er verliebt ist. Die erotische Aufregung bewirkt ein krankhaftes Aufflackern all seiner geistigen Funktionen, das mit einem um so tieferen Niedergang enden muß. Mit der Hete Meier hat er eine Bändelei angefangen. Und das mache ich dir zum Vorwurf. Das hättest du merken und verhindern müssen.«

Anna goß mit langsamen Bewegungen den Kaffee in die Tassen.

»Wenn die Liebe einen vernünftigen Menschen aus ihm macht, so ist's ja gut. Und wenn nicht – nun, dann ist der arme Junge einmal in seinem Leben glücklich gewesen.«

»Erlaube. Da sind meine moralischen Anschauungen doch etwas strenger. Ich habe die Familie soeben vom Hof geschickt. Wenn Tobi vom Vogelschießen zurückkommt, findet er sie nicht mehr.«

Und da Anna schweigend sich im Schaukelstuhl wiegte, setzte er erregt hinzu: »Ich begreife nicht, daß du den Vorfall so ruhig aufnimmst! Man hat doch ein Gefühl von Verantwortung.«

»Du hast es ja glücklich abgewandt, daß eine Hete Meier den Namen von Heesemann trägt.«

»Vergiß nicht, daß du selbst diesen Namen trägst!« brauste er auf. »Und betrag' dich danach.«

»Heesemannsch? – Ich zweifle, ob mir das liegt.«

49 »Geziemend! Wie ich's von meiner Frau fordern kann – so lange sie meine Frau ist.«

»Das werde ich bis an mein Lebensende sein, bester Max. Der öffentliche Skandal einer Scheidung ist nicht – Heesemannsch.«

»Rechne nicht zu bestimmt darauf. Unter gewissen Umständen würde ich unerbittlich sein.«

Die Frau hob langsam die Augen von der Stickerei, die sie wieder aufgenommen hatte.

»Fährst du in diesen Tagen nach Hamburg?«

»Wieso? – Warum? – Wie kommst du darauf?«

»Falls du hinfährst, tätest du gut, der – Persönlichkeit, die dich hinzubestellen pflegt, zu sagen, daß sie für ihre Zuschriften anstatt offener Postkarten lieber die Form geschlossener Briefe wählen soll.«

»Durchstöberst du etwa jetzt meine Korrespondenz?«

»Sie interessiert mich nicht. Aber die Mamsell, der Diener lesen natürlich die Karten, wenn sie die Post aus dem Kellergeschoß heraufbringen.«

»Und mißverstehen den Inhalt! Und hinterbringen dir alberne Verleumdungen! Das ist ja unerhört!«

»Rege dich doch nicht auf!« sagte Anna. »Ich verstehe es gut, daß du dich langweilst zwischen einem schwachsinnigen Jungen und einer Frau, die – anders ist, als du sie dir gedacht hast.«

Heesemann lief aufgeregt auf dem Kies der Strohhütte auf und ab. Endlich blieb er vor seiner Frau stehen. »Das ist wahr, Anna,« begann er ernsthaft, »daß unsere Ehe nicht so ist, wie sie sein sollte« –

»Lieber Himmel! Wieviele Ehen sind das?«

»Und die Schuld daran trägst du!«

50 »Ich? – Also gut, wenn du willst, ja, ich trag' die Schuld. Aber was hilft es, darüber viel zu reden?!«

»Man muß doch über eine Sache reden, wenn man sie ändern will. Als du vor Jahren mir dein Jawort gabst – da mußtest du mich doch leiden mögen. Oder was zwang dich zu der Heirat mit mir?«

»Das Schicksal.«

»Das sind Redensarten. Unser Schicksal liegt immer in uns selbst. Zum Beispiel in diesem Fall. Ich habe Tag und Nacht gearbeitet für dich, für das Kind, das uns leider sogleich wieder entrissen wurde. Der Zukunft meiner Familie dienen die vielen Geschäftsreisen, die zu machen ich gezwungen bin. Und wenn ich müde heimkehre, empfängt mich zu Haus eine Frau, die den Mund kaum anders öffnet als zu spitzen Worten. Und geh ich mit dieser Frau in Gesellschaft, so ist's noch schlimmer, so stellt sie mich öffentlich bloß.«

»Das tu ich nie!«

»Erlaube! Das hast du gestern getan. Das hast du vom ersten Tag unserer Ehe an getan!« Er begann zu rekapitulieren. Er hatte nun den Anfang gefunden. Der Ärger über die verräterischen Postkarten gab ihm Schwung.

Sie öffnete nicht mehr die Lippen. Umständlich und sorgfältig begann sie die Stickerei in ihr Nähkörbchen zu räumen. Heesemann sah's kommen, daß sie schweigend von ihm fort ins Haus gehen würde, wie schon oft, wie jedesmal, wenn er's versuchte, einen Auftritt herbeizuführen. Und der Zorn stieg ihm heiß in die Kehle. Man kann einer Frau beikommen, die 51 widerspricht, die rast, die tobt. Aber unüberwindlich ist die hartnäckig schweigende Frau. Ein wildes Verlangen packte ihn, sie gewaltsam auf den Stuhl niederzudrücken, sie zu zwingen, ihn zu Ende zu hören. Aber plötzlich brach er mitten im Satz ab, hob den Kopf. Auch Anna ließ lauschend die Hände sinken. Leises Räderrollen wurde vernehmbar. Hufe knirschten im Kies der Auffahrt. Und schon kam Valentin vom Haus her, zwei Visitenkarten auf silbernem Teller präsentierend.

»Die Herrschaften möchten den Herrn Baron sprechen.«

»Botho von Seekamp, Karl von Tielen,« las Heesemann. »Führen Sie die Herren in der gnädigen Frau Zimmer. Wir kommen gleich.«

»Die Herrschaften haben nur nach dem Herrn gefragt.«

Ein Stutzen malte sich auf Heesemanns Gesicht. Sollte Ilefeld? Unsinn!

»Also führen Sie die Herren in mein Zimmer,« befahl er und wandte sich zum Haus.

Langsam folgte ihm Anna.

Vor der Tür stand ein eleganter Selbstfahrer, das Geschirr der Pferde, die Livree des Dieners – höchste Gala. Botho Seekamp pflegte bei seinen Freunden bescheidener vorzusprechen. Im Hausflur traf Frau von Heesemann die Jungfer.

»Haben Sie die Herren vorfahren sehen, Emma?«

»Ja, gnädige Frau, und gar nicht gekannt hab' ich sie. Ich hab' gemeint, es sind Offiziere aus Schleswig. Sie waren ja beide in Uniform.«

Anna ging vorüber in ihre Stube. Also eine 52 ganz offizielle Sache. Ach, was kümmerte das sie? Was gab's überhaupt auf der Welt, das sie noch kümmerte? Ihr Schicksal war abgeschlossen. Damals hatte sie's besiegelt, verdorben, als sie ganz klug sein wollte. Ach, daß sie den Mut gehabt hätte, sich zu verschwenden, den Mut, zum Schicksal zu sprechen: »Da hast du mich. Zerzause mich. Laß mich leiden, was Menschenlos ist, was Weibeslos ist. Ich will lieben! Ich will geliebt sein! Nach nichts anderem frag' ich!« Sie hatte sicher sein wollen vor den Wechselfällen des Lebens – und sicher war sie nun davor, wie die Mumie in ihrem Steinsarg.

Da traten die Herren schon aus der Tür, bestiegen den Wagen. Keinen Blick warfen sie nach dem Haus zurück. Die Pferde zogen an. Die Räder knirschten im Sand. Ein kurzer Besuch war das gewesen.

Max Heesemann kam in die Stube, das Gesicht blaß von mühsam beherrschtem Grimm.

»Da haben wir nun die Folgen deines unqualifizierbaren Betragens!«

Anna hob fragend die Augen.

»Eine Frau hat die Pflicht, die Stellung ihres Mannes zu stützen. Du – du legst es darauf an, deines Mannes Stellung zu untergraben. Unmöglich im ganzen Land machst du mich durch dein Benehmen.«

»Ich versteh' dich wirklich nicht.«

»Ich hab's ja nicht gehört, was du zu Ilefeld gesagt hast im Nebel hinterm Knick während der Jagd. Aber nur ein weitgehendes Entgegenkommen von deiner Seite konnte ihn veranlassen, bei unserer Abfahrt in dieser impertinenten Weise sich gegen mich als deinen 53 Ritter aufzuspielen. Jetzt treibt er die Unverschämtheit so weit, daß er mir seine Zeugen schickt. Seine Zeugen! Der!«

Anna wurde sehr rot und dann sehr blaß. Ihr Herz wollte aussetzen in seinem Schlag.

»Du willst dich mit Ilefeld schießen?«

Heesemann drehte sich heftig um. »Erlaube, nein. Ich werde mich nicht mit ihm schießen. Soviel Rückgrat hab' ich, Gott sei Dank, daß ich mich nicht durch das Belieben eines bankerotten Junkers von der Richtschnur meiner wohlerwogenen Grundsätze abdrängen lasse. Es mag Beleidigungen geben, so schwer, daß sie einem Mann die Pistole in die Hand zwingen. Aber wegen einiger im Rausch gesprochener Worte sein Leben aufs Spiel setzen, das halte ich für frivol! Einfach für frivol! Ich weiß, meine Anschauungen in dieser Sache sind nicht die Anschauungen der Menschen, unter denen ich lebe, und ich werde schwer dafür büßen müssen, daß ich meine Überzeugung nicht den herrschenden Vorurteilen opfere. Nun, ich bin gewohnt, meine Pflicht zu tun, entstehe daraus, was mag. Aber die ganze Kette von peinlichen Konflikten, die mir nun bevorstehen, all die Bitternisse, Demütigungen, den tödlichen Verdruß – ich verdanke sie dir! Deine taktlose Koketterie allein hat mich in diese Lage gebracht.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, warf er die Tür hinter sich ins Schloß.

Anna stand wie im Traum. Die Wände drehten sich um sie, die bekannten Gegenstände verschwammen. Und ihre Glieder waren starr, und die Zeit schien still zu stehen, gebannt von dem unbegreiflichen Wunder. Da war einer, der liebte sie! Der liebte sie so einfach, 54 dumm, rückhaltlos, daß er sein Leben dransetzte. Es war töricht. Es war unmoralisch. Es war auch zwecklos. Aber es war unbegreiflich schön. Oh, verschwenderischer, göttlicher Leichtsinn! Sie hoffte nichts. Was denn hoffen? Sie war die Frau eines, der sie nie freigeben würde – er vielleicht bald ein Heimatloser. Es war nur so köstlich, zu wissen: »Da ist einer, der denkt an dich. Dem bist du nicht gleichgültig.« Einsam war sie gewesen in der Welt, wie ein Wesen von einem anderen Stern. Und da war einer, der gehörte zu ihr. Der hatte sie lieb!

Das Verlangen kam unwiderstehlich über sie, sich auszusprechen mit diesem einen, einmal, ein einziges Mal! Sie ging in ihr Ankleidezimmer, mit schwebenden Schritten, mit dem Gang der alten Anna von Ramin, schloß die Tür mit dem Schlüssel, nahm ihre Schreibmappe und schrieb – und schrieb sich die Seele frei. Es dämmerte, als sie den Brief schloß. Den würde sie nicht auf den Tisch legen, auf dem die anderen Briefe des Hauses lagen. Nicht ihr Mann, nicht Valentin, nicht die Mamsell würden diesen Brief sehen. Am Schulhaus war ein Postkasten für die Leute auf dem Hof, ein verschlossener Postkasten, den der Briefbote öffnete. Da hinein würde sie den Brief werfen.

Das Wetter war umgeschlagen. Ein kalter Wind wehte. Vorsichtig schritt sie durch die sinkende Nacht. Niemand sollte sie beobachten. Der Schulhof war leer. Am Fenster der Stube zeigte sich kein Gesicht. Sie näherte sich dem Kasten, zog, sich umschauend, den Brief aus der Tasche und schob ihn in die Oeffnung. Mit leisem Aufschlagen fiel er durch den Einschnitt. 55 Und jetzt ein anderer, kaum hörbarer Laut, wie das Rascheln eines dürren Blattes. Erschrocken wandte sich Anna.

Hinter ihr stand ein Mädchen. War die aus dem Erdboden gewachsen?

Die Dirne knickste ehrfurchtsvoll. Und jetzt erkannte Anna sie.

»Hete Meier! – Wollen Sie noch jemand besuchen auf dem Hof?«

»An den Schmied hab' ich eine Bestellung zu machen vom Vater, gnä' Frau.«

Frau von Heesemann ging vorüber. In die Büsche gedrückt, spähte Hete ihr nach, bis sie auf der Terrassentreppe verschwunden war. Dann huschte die Dirne über die Lichtung zur Schmiede.

Aus der Werkstatt leuchtete trüber Lichtschimmer. Das Herdfeuer brannte noch, und der Blasebalg fauchte. Hete brachte das Gesicht an die kleinen Scheiben. Der Meister wusch sich eben im Kühlbecken die Hände. Am Amboß hämmerte der Gesell. Das war ein Kerl mit den Muskeln eines Ringers auf mageren Armen und einem pechschwarzen Haardach, das ihm tief in die knochige Stirn hineinhing. Ein dichter, struppiger Bart verdeckte Kinn und Wangen. Die ganze rußgeschwärzte Physiognomie schien verkrochen in diesen üppigen Wald von Haaren, aus dem nur die ein wenig schief gegeneinander stehenden Augen in ihrem grellen Weiß und blitzenden Schwarz unheimlich hervorfunkelten.

Hete wartete, bis der Schmied durch eine Seitentür ins Haus gegangen war. Dann pochte sie leise ans Fenster.

56 Der Bursch warf sogleich den Schmiedehammer weg und riß den Fensterflügel auf. Leidenschaft lag in der Bewegung.

»Hete!«

»St! Komm heraus!«

Gleich durchs Fenster zwängte sich der Gesell. Er nahm sich nicht Zeit zu dem Umweg durch die Tür. Und er riß Hete an sich. Er drückte sie an die Brust mit der Kraft seiner Ringerarme. Vielleicht war's um dieser Arme willen, daß Hete dem schwarzhaarigen Halbpolacken den Vorzug gab vor den blonden holsteinischen Knechten, die ihr zu Gefallen gingen.

»Sei mal ein büschen sinnig, du!« flüsterte sie, nach Atem ringend. »Ich hab' gar un gar kein Zeit. Ich muß dich man bloß ganz notwendig was mitteilen.«

»Hat er dir wieder von Liebe vorgemaunzt, der drehkranke Kater? Der Herr soll ihn ins Trallhaus sperren, wohin er gehört. Sonst schlag' ich ihm noch mal sein letztes bißchen Hirn aus dem Schädel.«

»Pfui! Da sollt' ein ja angst und bang' werden. Du sprichst vom Schädeleinschlagen, als wär's 'ne Angewohnheit.«

»Angewohnheit wird so was ja nich,« antwortete der Schmied, »aber unterlaufen kann's schon einmal einem Kerl, der Blut in den Adern hat und nicht Seewasser.«

»Na, denn so sei friedlich. Wir zockeln heut!«

»Ihr zockelt?«

»Mit Kisten und Kasten nach Horste. Es soll kein drum wissen. Ich bin man hergerannt, dir 'nen Wink geben!«

57 »Nee. Wieso denn? Warum denn?«

»Nu so. Der Herr hat 'ne bannige Angst, der Herr Tobi könnt' mich zur gnädigen Frau machen wollen. Da kam er selbst angesetzt. Ich denk', Vater kriegt 'n Dalschlag, wie er mit sein Senf loslegt.«

Konrad Sedlinski ballte die Faust. »Hat er dir beleidigt – oder Vater?«

»Was du denkst! Süß wie 'n Honigkuchenmann auf 'n Weihnachtstisch war er. Will mich besuchen in Horste.«

»Er soll's bleiben lassen, wenn ihm seine heilen Knochen lieb sind.«

»Sei doch nicht so 'n gräsigen Bubaff. Über so 'n alten Bock lach' ich doch man bloß.«

»Nee, da versteh ich kein Spaß in, Hete. Horste is weit, un er is ein feinen Herrn un patscht man so in blanke Dalers, un Derns ihr Hirn is nich besser als das von Hühners. Wenn ich denk', er könnt' dich dumm machen, Hete, mit sein Kören un mit sein Dalers – ich – ich« – Er stammelte vor Grimm.

»Nu, sei endlich verständig!« unterbrach sie. »Ich bin kein Dern mit 'n Hühnerhirn, da kannst ruhig sein. Un – das wollt ich dich sagen: In Horste gibt's auch 'nen Schmied. Kannst nachzockeln, wenn du magst. Willst das?«

Konrad hob sie in seinen Armen auf. »Möchtest mich bei dir haben? Hast mich wirklich lieb, Hete?«

»Dummbax! Wegen was bin ich denn hier?«

»Wenn dich's freut – wenn dich's wirklich freut – denn komm' ich dich nach, gewiß un wahrhaftig! Und wenn ich als gemeiner Arbeiter bei'n Baron Quast in Dienst treten müßt'.«

58 Hete legte die Arme um seinen Hals und küßte ihn. – »Komm!« Und dann horchte sie nach dem Hof, von wo Pferdegetrappel herüberschallte.

»Da machen sie schon die Wagens klar. Ich hab' gar un gar kein Zeit mehr, mein Konrad. Gute Nacht – und komm! Komm nach Horste zu dein Hete!«

Sie riß sich los. Eilig und leise rannte sie durch den jetzt nächtig dunklen Wald ihrer Kate zu, wo ihre Familie zur Abreise rüstete.

* * *

Es war zwischen zehn und elf Uhr vormittags. Wolf Ilefeld schritt am Kieler Hafen entlang. Blaßblauer Himmel schaute durch schwarze Wolkenstreifen. In der matten Herbstsonne leuchteten die Flaggen der Schiffe. Die bewegten Wellen glitzerten und kräuselten sich zu blendendem Schaum vor dem Bug der weißen und bunten Dampfer und Barkassen, die eilig durch das dunkle Blau des Wassers schnitten.

Grade schiffte an der Reventlowbrücke ein Dampfer seine Fahrgäste aus. Mit den anderen stampfte Botho von Seekamp über die Brücke. Er hatte Karlchen Tielen bei sich, der, so oft er konnte, dem väterlichen Gut entfloh, wo die Seinen dem zum dritten Male Schiffbrüchigen den Lebenspfad nicht mit Rosen bestreuten.

Mit Ausrufen der Freude begrüßte sich das Trio.

»So 'n Zusammentreffen!«

»Müssen wir begießen!«

»Geh'n wir in den Nachtklub?«

Tielen war's da zu fein.

»Also setzen wir uns gleich hier in den ›Seegarten‹.«

59 Ilefeld ging voran, die Hände in den Taschen, den Kopf im Nacken. Er wiegte sich in den Hüften, als wollte er fragen: »Was kostet die Welt?«

»Haste eigentlich das große Los gewonnen?« brummte Botho Seekamp, nachdem er ihn eine Weile von der Seite betrachtet hatte.

»Nee. Viel was Besseres. Der neue Kanal läuft ausgerechnet mitten durch Ravenhorst!«

»Ich denk', das hast du vorigen Freitag schon gewußt, auf der Jagd bei meinem Alten in Hohorst.«

»Keinen Schimmer. Damals wollt' ich bloß den Braker ärgern. Aber nun ist's gewiß.«

»Dusel!« lobte Karlchen Tielen.

»Nicht wahr? Daß ich nicht aus dem Land fort brauche! Daß kein Heesemann Nr. 2 sich in den Räumen breitmacht, wo ich mit meinem lieben, alten Herrn gekneipt und geschwärmt habe!« Die Tränen traten ihm in die Augen. Er wandte sich ab. »Ihr müßt mir die Ehre tun, darauf mit mir anzustoßen.«

»Weißt du denn sicher, daß du Ravenhorst nun wirst halten können?« fragte Botho mißtrauisch und zwinkerte durch seine Kneifergläser.

»Zweifellos. Sobald die Kanallinie bekannt wird, prolongiert Strauß mir die Wechsel auf so lange ich mag. Er weiß doch, daß ich ein anständiger Kerl bin. Sobald der Fiskus dann zahlt, löse ich sie ein und lösche auch die dritte Hypothek auf Ravenhorst. Mit dem, was dann darauf stehen bleibt, den vierhunderttausend Mark auf der Landschaftskasse und den zwanzigtausend Mark bei Bankier Hamann will ich schon fertig werden. Ich kann wohl sparen und arbeiten und mich einschränken, wo mir's der Mühe 60 wert ist. Und jetzt ist mir's der Mühe wert. Ein Lump wäre ich, wenn ich nicht mein Bestes täte.«

Karlchen Tielen nickte. »Ja, an dem Stückchen Erde, das ihm gehört, hängt der Mensch, wenn er auch längst auf alles andere pfeift.« Er dachte an Schwenke, das sein jüngerer Bruder erben würde, während sein Vater ihn, das schwarze Schaf des Hauses, von neuem auf gut Glück in die Welt schickte.

Aber von der Veranda im Seegarten rief der alte Herr von Krastel jetzt die drei an. Seine Äuglein flimmerten. Er hatte schon stark gezecht.

Ilefeld bestellte Getränke. Leider konnte er nicht bleiben. Sein Rechtsanwalt hatte ihn auf elf Uhr gebeten. Er würde aber wiederkommen.

»Rechtsanwalt?« wiederholte Botho gedehnt. »Das klingt nicht gut. Hoffentlich keine Unannehmlichkeit.«

Ilefeld lachte. »Glück wie Unglück kommen nie allein. Ich hab' ein Pfand vom Schicksal. Mir kann augenblicklich gar nichts Zuwidres geschehen. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Mit weiten Siegerschritten ging er durch die Gartenpforte hinaus. Nach kaum einer halben Stunde kehrte er zurück, mit gesenktem Kopf, mit schleppendem Gang. Stumm warf er sich auf einen Stuhl und stieß die Faust auf den Tisch, so schwer, daß die Gläser klirrten.

»Hast Du ein Gespenst gesehen bei Deinem Rechtsverdreher?« fragte Seekamp.

Ilefeld antwortete langsam: »Ich muß weg von Ravenhorst.«

»Was? Wieso? Warum denn? – Wenn doch 61 der Kanal, wie Du sagst, durch die Klitsche geführt wird!«

»Der kommt im Herbst, verstehst Du? Ich muß im Mai weg. Die dritte Hypothek ist verkauft, gekündigt auf den ersten Mai. Auch meine Wechsel sind aufgekauft, alles von demselben, alles in einer Hand. Das war's, was der Rechtsanwalt mir zu sagen hatte.«

»Aufgekauft, die Wechsel? Die Hypothek gekündigt?« Die Herren riefen durcheinander vor Aufregung. »Ja, wer denn?! Wer hat denn das gemacht?! Wie heißt der Kerl?!«

»Er heißt: Max Heesemann auf Brake.«

Einen Augenblick wurde es ganz still. Verblüffend wirkte der Name.

»Pfui Deibel!« sagte dann Botho Seekamp.

Karlchen Tielen ergänzte: »Vor Ihrer Pistole kneift der Lump, und hinterrücks springt er Sie an. Meine Hyänen in Afrika sind anständigere Bestien.«

Aber Krastel stand aufgerichtet am Tisch, das Gesicht so blaurot wie seine Nase, schwankend wie eine Eiche im Sturm.

»Jetzt hab' ich ihn! Jetzt hab' ich den Schuft! Heesemann ist's gewesen. Heesemann hat auch mich zugrunde gerichtet!«

»Aber so 'ne Infamie kann man doch nicht schafsgeduldig hinnehmen!« sagte Seekamp. »Was fängt man denn nun mit so 'nem Kerl an?«

Ilefeld stand auf, furchtbar in seiner verhaltenen Wut. Er machte wortlos eine Bewegung mit der Hand.

»Nehmen Sie sich in acht!« mahnte Tielen. »Die Sorte ist von Gummi. Jeder Schlag, den man auf sie führt, prallt mit doppelter Wucht zurück.«

62 Mit grimmigem Lächeln sah Ilefeld auf seine Hände, die groß und ungewöhnlich kräftig waren. Er suchte nach einer Antwort, aber der Zorn war zu mächtig in ihm. Er fürchtete, jede Herrschaft über sich zu verlieren. Mit stummem Gruß wandte er sich und stampfte die Uferstraße hinunter.

Unfroh blieben die anderen zurück. Seekamp stand auf.

»Ich hab' plötzlich 'ne Sehnsucht nach meiner Grete,« sagte er, »nach meinen Alten – nach anständigen Leuten. Komm', Tielen.« 63



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