Luise Westkirch
Der Todfeind
Luise Westkirch

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Drittes Kapitel.

Es war am Abend des dritten November. Schwere Wolkenfetzen hingen tief vom Himmel herab. Der Westwind preßte sie zusammen wie Schwämme, daß sie kalte Regentropfen und einzelne Schneeflocken über den schmalen Landstrich zwischen Nord- und Ostsee niederschütteten. Grell zeichnete sich zwischen den gelb leuchtenden Buchenwipfeln und der düster glühenden Herbstpracht seiner Astern- und Georginenbeete das weiße Herrenhaus von Brake vom schwarzen Herbsthimmel ab.

In der weiten Küche im Kellergeschoß saß das Gesinde beim Nachmittagskaffee. Mamsell Fieken, die Wirtschafterin, hatte dem Leutetrunk eine handvoll Bohnen vom Herrschaftskaffee beigemengt.

»Der Herr, das is ja 'n Neumodscher, und die sind alle was genau. Aber unser gnädig' Frau, die is noch von den Alten im Lande. Die weiß, daß bei so 'n feuchte Witterung ein steifen Kaffee eine richtige Herzstärkung is, und die gönnt sich was und ihren Leuten auch.«

Valentin, der Diener, stippte seine Schwarzbrotschnitte in den heißen Trank. »Mamsell kennt gnädig' Frau all von lang her?«

64 »Ich bin doch zehn Jahr Mamsell bei den alten Ramins gewesen, was die Großeltern waren von unser gnädig' Frau. Und das muß wahr sein, ein kregeler und herzhafter lütt Fräulein is auf keinem adligen Gut im Lande herumgelaufen.«

Emma, die Kammerjungfer, zeigte ihre Mausezähne. »Was das anlangt, Mamsell – ich bin schon bei fröhlicheren Gnädigen in Stellung gewesen.«

Und Valentin brummte bewundernd: »Zehn Jahre! Sieh einer! Das is ein' Zeit! So lang sitzt bei unserem Herrn ja woll kein einzigster, nich mal ein Instmann. Der Wilm Meier hat sieben Monat gesessen.«

Mamsell überhörte diese Feststellung. Sie wandte sich mit strengem Blick an die Jungfer. »Das kannst nich verlangend sein, Emma, daß ein Mutter, die ihren einzigsten Jungen man knapp vor drei Monaten hat hingeben müssen, in ein beständig Juchhe und Hopsassa hinlebt.«

»Der Lütje is ja man sechs Wochen alt geworden,« sagte Marie, das Hausmädchen, leichtsinnig. »Und ein ganz kümmerlichen Bengel war er obenein. Gnädig' Frau hat bei's Begräbnis auch gar nicht geweint, wie ergreifend der Herr Pastor seine Worte setzen tat. Der Herr hat sich da viel mehr um gehabt.«

»Davon verstehst nix, Marie,« erklärte Mamsell. »Herrschaften plärren nich los wie unsereins. Die haben's innerlich mit das Grämen.« Abbrechend horchte sie auf. »Gnä' Frau! – Und ich hab' doch gar kein Wagen gehört.«

Schuldbewußt waren Valentin und Marie aufgesprungen. Alle lauschten. Die Haustür flog ins Schloß. Tritte tappten auf der Treppe zum Kellergeschoß hinab. Da löste sich die Spannung.

65 »Man bloß uns' junger Herr Tobi!«

Zu der ungestüm und laut aufgerissenen Küchentür schaute Tobis hübsches, leeres Gesicht herein. Das Haar war verweht. Regentropfen hingen drin. Neben ihm schob der Jagdhund sich durch die Türspalte.

»Don muß essen. Sch–Schnell, Valentin, gib gute Don sein Essen.«

Tobi blieb in der offenen Tür stehen, während Valentin das Futter mischte.

»Zwanzig – zwanzig Spatzen geschossen, Valentin! Immer los bautz – plumps! – Bautz – plumps!«

Er lachte stolz, und den Futternapf in der Hand, lief er singend die Treppe hinauf, gefolgt von Don. Bald hörten die in der Küche das taktmäßige Aufschlagen seiner Absätze über sich, dazu in regelmäßigen Zwischenräumen ein eigentümliches Poltern.

»Nu übt er sich wieder mit sein Turngerätens,« sagte Marie, das Zimmermädchen. »Spatzen schießen, turnen, mit 'n Hund spielen! Was is es für ein Leben für so 'n jungen Menschen!«

Mamsell hob die Hand. »St!«

Alle horchten. Durch das Sausen des Windes klang diesmal unverkennbar fernes Räderrollen.

»Gnä' Frau!«

Valentin, Marie und Emma liefen die Treppe hinauf zur Haustür, um der heimkehrenden Herrin beim Aussteigen behilflich zu sein. Das Coupé bog schon in die Allee von hohen Linden, die auf den Hof führte. In seiner hellbraunen Livree saß Kutscher Heinrich auf dem Bock, den spiegelnden Zylinder mit der bunten Kokarde steif auf dem Kopf, die Zügel der schweren Rappen in steinern unbeweglichen Händen. Im schärfsten 66 Trab nahm er den Bogen um das herbstlich nasse Grasrondell. Ein leiser Pfiff – haarscharf vor der Haustür stand das Gespann.

Valentin riß den Schlag auf.

Während der Wagen um den Grasplatz herum zum Stall fuhr, stand Anna von Heesemann auf der Schwelle ihres Hauses, starrte in den grellgelben Streifen, der tief am Westhimmel zwischen schwarzen Wolken brannte, so sehr im Bann übermächtiger Gedanken, daß sie das dienstwillig auf den Treppenstufen harrende Gesinde garnicht wahrnahm.

Endlich trat sie ein. Sie sprach, und es war, als müsse sie ihr Bewußtsein aus weiter Ferne zurückzwingen.

»Ist der Herr schon zurück, Valentin?«

»Nein, gnä' Frau. Der Herr hat den Wagen zu sieben Uhr fünfundvierzig Minuten nach Altenhagen an den Zug bestellt.«

»Zum Zug sieben Uhr fünfundvierzig Minuten, ja, gewiß, ich weiß.«

»Freilich weiß sie's!« dachte die Jungfer verwundert. »Zu was fragt sie bloß?«

Sie hatte ihrer Herrin den Mantel abgenommen. Durch deren Körper schien jetzt ein Schauer zu rieseln.

»Zünden Sie Licht an, Valentin, alle Lampen. In meiner Stube, in der Eßstube, auch in der Stube des Herrn – ja, auch in der. Und schließen Sie die Läden. Es ist gar so herbstlich heute.«

»Befehlen gnä' Frau, daß ich im Kamin in der Eßstube Feuer anmache?«

»Einheizen? – Aber es ist ja warm. Schwül 67 ist's gradezu.« Unwillkürlich legte sie die Hand an die Wange. Die brannte wie Feuer.

Was war denn geschehen? Neugier im Spitzmausgesicht huschte Emma hinter ihrer Herrin die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf.

Anna deutete auf die Leuchter vor dem Spiegel, auf die kleine Lampe auf dem ovalen Tisch vor dem Ecksofa. »Anzünden, Emma! Alles anzünden! Ich will Licht um mich haben.«

Dann saß sie mit verträumtem Gesichtsausdruck, während die Jungfer ihr die Stiefel aufknöpfte, Stiefel mit merkwürdig feuchten Sohlen für eine Wagenfahrt. Ja, sogar die Strümpfe fühlten sich naß an.

»Ich will andere holen. Gnä' Frau könnten sich erkälten.«

»Wozu? Steck' mir nur schnell das Haar wieder auf.«

Das war zerweht. Die dicken Flechten fühlten sich an, als hätten sie stundenlang die Nebelluft eingesogen – seltsam bei einer Fahrt im geschlossenen Wagen. Frau von Heesemann saß auch nicht in müder Ruhe, wie sonst immer. Unbezwingliche Unrast schien in ihr zu zucken. Sie ließ Emma kaum Zeit, ihr Werk zu vollenden.

»Es ist gut. Es ist ja gut. Gehn Sie nur!«

Die Zofe machte ein paar sehr laute Schritte auf die Treppe zu und ein paar ganz leise zur Tür zurück und legte ihr Auge an das Schlüsselloch.

Sie sah ihre Herrin in dem weiten Schlafzimmer auf und nieder gehen, auf und nieder. Die Lichter am Spiegel des Putztisches flackerten im Luftzug, so oft der schwarze Schatten durch das Sehfeld der 68 lauschenden Jungfer glitt. Nicht müde und schleppend wie in all den Monaten, seit Emma auf Brake war, rasch und federnd war der Schritt der Frau. So mochte das kregele, herzhafte Fräulein, von dem die Wirtschafterin erzählte, durch den Morgentau geschritten sein. Sie hob die Arme zum Himmel wie in Anklage oder Drohung, dann wieder breitete sie sie weit aus wie in unbändigem Jubel. Sie sprach auch. Aber umsonst mühte sich Emma, die hastig hervorgestoßenen Sätzchen zu verstehen. Ein Wort, das immer wiederkehrte, fing sie endlich auf: »Frei!«

Doch die elastischen und wie tanzenden Schritte näherten sich jetzt der Tür. Emma entschlüpfte.

In der Küche hatte sich mittlerweile Kutscher Friedrich eingefunden. Seine Frau war auf einer Kindtaufe. Mamsell Fieken labte ihn mit Kaffee, den er durstig trank.

»Das war heut man eine slechte Tour,« erzählte er. »Auf Seebergen waren die Herrschaften ja nicht zu Haus. Ich hatt' mich das gleich gedacht, weil doch bei den alten Seekamps auf Hohorst wieder eine Jagd stattfindet. Un gnä' Frau sagt, ich soll man den Neudorfer Weg fahren, sie will ein büschen aussteigen, weil daß sie das Seeberger Holz so gern mag. Un ich fahr' denn nu immer auf un ab, auf un ab, un denn regnet das, un denn stürmt das. Un ich konnt' auch nich auf eine einzigste Viertelstunde unterfahren, weil daß da kein Wirtshaus steht un gar kein Haus, bis denn nach so 'n guten Stund' gnä' Frau zurückkam. Wenn ich den Herrn von der Station abhol', werd' ich die Braunen vorspannen müssen, die Schwarzen können das nich mehr.«

69 »Ja, das Seeberger Holz, das hat gnä' Frau immer gern leiden mögen,« bestätigte Mamsell. »Man guckt da so nüdlich zwischen den Bäumen durch von oben auf die See runter. O du mein!«

Sie hätte fast ihre Kaffeetasse umgestoßen vor Schreck. Ein Krachen erschütterte das Haus, daß die Wände bebten. Zugleich schlug die Kuckucksuhr in der Küche sechs.

Alle waren erschrocken aufgesprungen. Mamsell faßte sich zuerst.

»Ich hab' dich das doch gesagt, Marie,« tadelte sie, »daß du im Schummern die Hoftür mit 'n Schlüssel abschließen sollst.«

»Aber ich hab' ihr abgeschlossen, gewiß und wahrhaftig!« verteidigte sich das Mädchen, lief aber doch hinaus nachzusehen.

»Es ist ein' zu unheimlichen, alten Kasten, das Haus,« klagte Mamsell, »besonders an so 'n Herbstabend wie heut, wenn der Wind übern Kanal fegt.«

Die Unterköchin, eine dicke Person mit runden Augen, die selten sprach, öffnete den Mund. »Dem Herrn sein Vater, der alte Heesemann, von den das viele Geld stammt, soll ein' auf dem Gewissen haben. Der hat sich die Strot abgeschnitten. Un nun kommt er des Nachts un klopft an die Fenster.«

»Mach' nich so 'n dummen Snack, Rieke«, schalt Mamsell. »Menschens mit abgeschnittene Strotens klopfen an kein Fensters mehr.«

Sie erschraken aber alle von neuem, als die Flurklingel anschlug und schwere Schritte ins Kellergeschoß hinabstampften.

Ein blonder Riese mit einem runden Gesicht und 70 langsamen Bewegungen trat grüßend auf die Schwelle und ließ seine scharfen, blauen Augen sorgfältig jeden Winkel des Raumes durchstöbern.

»Je, Schmied Carstens, sind Sie das? Was is denn los?«

»Man bloß nachsehen wollt' ich,« sagte der Mann, »ob der verflixte Bengel, der Konrad, sich hier herumtreibt. Das is nämlich all das zweitemal in ein' einzigste Woche, daß er mir vor Feierabend von sein' Arbeit wegläuft.«

»Er mag wohl nach Scharndorf gegangen sein,« riet Valentin. »Da haben die Sozialschen heut ein' Versammlung wegen der Wahl. Der Konrad Sedlinski is ganz gewiß 'n heimlichen.«

Carstens zuckte die Achseln. »Ich weiß man bloß, daß er ein tüchtiger Arbeiter is. Na, hier is er nicht, das seh' ich. Guten Abend mitsammen.«

Kutscher Friedrich ging mit Carstens hinaus, um anzuspannen. Ein Viertel nach sieben Uhr rasselte der Wagen zu der zwanzig Minuten entfernten Bahnstation. Bruno, der Bernhardiner, verkündete mit lautem Gebell die Abfahrt. Oben in des jungen Herrn Stube begleitete ihn Don um eine Oktave höher, bis das letzte Räderrollen sich zwischen den Knicken verlor.

Um acht meldete Valentin, daß angerichtet sei. Frau von Heesemann begab sich in den Speisesaal, der ganz in Weiß gehalten war. Der Tisch mit den drei Gedecken darauf verlor sich in dem weiten, hohen Raum. Kerzen brannten in silbernen Kandelabern und auf dem Kronleuchter. Von der Wand schaute Max Heesemann, von Künstlerhand gemalt, auf die 71 ein wenig zu neue und zu schwere Pracht, die rechte Hand auf die Brust gelegt, in der Haltung eines Mannes von Bedeutung, der sich seiner Position bewußt ist. Heesemann senior, der bis an sein Lebensende mit dem Messer aß und nie einen Frack trug, hatte nicht bewogen werden können, zu einem Ahnenbild zu sitzen. So war sein Sohn das erste und einzige Porträt im Saal.

Frau von Heesemann näherte sich eben ihrem Platz, als Tobi eintrat, zum Abendessen frisch gekleidet, mit reingewaschenen Händen und glattgekämmtem Haar.

»Furchtbar hungrig, Tante Anna,« sagte er, »aber furchtbar!«

Sie zwang sich zu sprechen.

»Nun, Tobi, wie hast du deinen Nachmittag zugebracht?«

Er lachte. »Sp–Spatzen geschossen, Tante Anna, lauter dicke, dumme Spatzen.«

»Ein Gedicht hast du nicht wieder gemacht?«

Er senkte den Kopf. »Mach' ich nicht mehr, nie!«

»Das ist schade, Tobi.«

»Spatzen schießen g–geht besser.«

Die Frau versank in Schweigen. Sie aß fast nichts. Tobi ließ sich den gebackenen Butt, die verschiedenen Salate, Schinken und Eier gut schmecken. Einmal fühlte Anna durch ihre tiefe Versunkenheit den Blick seiner hellen Augen scharf und forschend auf sich gerichtet. Sie erschrak. Sie nahm sich zusammen.

»Paß auf, Tobi, nun kommt Onkel Max bald zurück.«

»Ja, nun kommt Onkel Max zurück.«

72 »Bist du satt, Tobi? Dann könnten wir aufstehen.«

Nein, Tobi wollte noch rote Grütze essen. Rote Grütze war sein Leibgericht. Er häufte einen hohen Berg davon auf seinen Teller und löffelte ihn mit Behagen.

Ungeduldig wartete die Frau. In ihrem Zimmer stieß sie sogleich das Fenster auf und sog gierig die feuchte Nachtluft ein, während sie auf und ab ging, ruhelos auf und ab. Tobi kauerte auf einem Schemel neben ihrem Nähtisch nieder, nahm von den weißen Fäden ihrer Stickerei und begann, sie zu kleinen Zöpfen zu flechten. Draußen sang der Herbststurm sein Lied. Zwischen schwarzen Wolkenfetzen funkelten einzelne Sterne. Wie zwei Schnüre von Lichtperlen zogen sich in schön geschwungenem Bogen die Gaslaternen an den Ufern des alten Kanals durch die tiefe Finsternis. In der Ferne flimmerten die Lichter eines Zuges, der eben über die Hochbrücke fuhr.

Endlich das Rasseln des Wagens. Valentin meldete:

»Der Herr ist nicht gekommen, auch kein Bescheid von ihm. Kutscher Friedrich läßt fragen, ob gnä' Frau meinen, daß er noch mal zu dem Zug um halb elf zur Bahn fahren soll.«

»Wenn der Herr nicht mitgekommen ist, so bleibt er wahrscheinlich die Nacht in Hamburg. Aber ja! Kutscher Friedrich soll nur immerhin noch einmal zum letzten Zug fahren.«

Frau von Heesemann begann wieder auf und ab zu wandern. Das hübsche, blöde Knabengesicht störte sie.

»Du solltest zu Bett gehen, Tobi.«

73 »Nein, ich warte, Tante Anna. Ich w–warte auf Onkel Max.«

Anna setzte sich vor ihren Schreibtisch, stützte stumm die Stirn in ihre Hände. Stumm flocht Tobi seine Fäden.

Um zehn Uhr fuhr der Wagen wiederum zur Bahn, kurz vor elf kehrte er zurück. Der Herr war auch diesmal nicht mitgekommen.

»So wollen wir zu Bett gehen.«

Mamsell Fieken kam noch herauf. »Ich bin so unruhig, gnä' Frau. Wenn nur dem Herrn nix zugestoßen is! Es is gar nich sein' Art, daß er wegbleibt und gibt kein Bescheid.«

Frau Anna stand schon auf der Diele, die brennende Kerze in der Hand.

»Zugestoßen?« Es klang fast höhnisch. »Der Zug ist doch heil hereingekommen. Und der Herr ist äußerst – äußerst besonnen. Was soll ihm denn in einer Stadt wie Hamburg zustoßen?«

Sie stieg die Treppe hinauf.

Die Lichter erloschen im Braker Herrenhaus, das Licht in den Zimmern der Herrschaft, das Licht in Tobis Kammer. Mamsell Fieken vergaß ihre Ahnungen in erquickendem Schlaf. Und auch in Schmied Carstens Haus oben auf dem Hof wartete kein brennendes Lämpchen auf den etwa heimkehrenden Gesellen.

Als die Hähne zum ersten Male krähten, die Mägde in der Meierei gähnend bei Laternenschein ihr Tagwerk begannen, fuhr im schärfsten Trab ein Wagen die lange Lindenallee herauf. Gleich darauf klang schrill die Hausglocke.

74 Valentin, der, eine Kerze in der Hand, schlaftrunken öffnete, sah sich zwei Herren gegenüber. In dem einen erkannte er staunend den Staatsanwalt Brockmann, in dem andern den Polizeileutnant von Olten. Beide hatte er bei Gesellschaften und Jagden auf Brake schon gesehen. Aber jetzt trugen die Herren keinen Besuchsrock, und es war auch keine Besuchszeit.

»Geben Sie der gnädigen Frau unsere Karten, Valentin,« sagte der Staatsanwalt ernst. »Wir müssen die gnädige Frau sogleich sprechen.«

Mit zitternder Hand zündete der Diener die Flurlampe an. Er vergaß vor Schreck, die Herren in die Stube zu nötigen. Sie hörten ihn die Treppe hinauflaufen, an der Schlafzimmertür droben klopfen. Gleich darauf kam er zurück.

»Gnä' Frau läßt bitten, einen Augenblick zu warten.«

Er stieß jetzt die Tür zu Annas Wohnstube auf und setzte eine brennende Lampe auf den Tisch. Auf dem Nähtisch lagen noch die weißen Zöpfchen, die Tobi geflochten hatte; Mappe und Löscher auf dem Schreibtisch waren verschoben von den Ellbogen der Frau, die davor geträumt hatte.

Nach wenigen Minuten kam Frau von Heesemann. Ihr Gesicht war totenhaft weiß, und unnatürlich groß brannten die Augen darin. Beiden Herren blieb die Bewegung des Entsetzens unvergeßlich, mit der sie, halb angekleidet, über die Schwelle stürzte.

»Mein Mann? Um Gottes willen sagen Sie mir – mein Mann? – –«

»Ja, gnädige Frau, es handelt sich um Ihren 75 Herrn Gemahl. Wir sind gekommen, Sie vorzubereiten. Ein Unfall ist ihm zugestoßen. Seien Sie mutig.«

Sie stand wie zur Bildsäule erstarrt. Nur die Augen lebten. Bis zum Wahnsinn gesteigerte Angst sprach aus ihnen. Und die Lippen regten sich mehrmals vergeblich, um zu reden, die Zunge versagte den Laut. Drei Worte sprach sie endlich mit fremder Stimme:

»Ist – er – tot?«

»Fassen Sie sich, gnädige Frau. Bahnarbeiter fanden ihn auf den Schienen zwischen Scharndorf und Altenhagen. Der Vorstand hat sofort an das Gericht telegraphiert. Wir haben noch in der Nacht mit dem Amtsrichter und dem Kreisphysikus zusammen den Tatbestand aufgenommen, und ich habe die schnellstmögliche Überführung Ihres Herrn Gemahls nach Brake angeordnet. Wir sind vorausgekommen, um Ihnen seine Ankunft zu melden.«

Anna setzte sich schwer auf einen der buntgeblümten Stühle.

»Tot – tot!«

»Herr von Heesemann muß während des Fahrens aus dem Zuge gestürzt sein – gestürzt oder gestürzt worden sein. Die Besichtigung des Schauplatzes hat noch keinen sicheren Anhalt ergeben, ob ein Unglück vorliegt oder ein Verbrechen.«

Da fuhr die Frau aus ihrer Betäubung auf mit einem Aufschrei, mit abwehrend ausgestreckten Händen. »Verbrechen? Nein – nein – nein!«

»Die Möglichkeit liegt vor, gnädige Frau. Allerdings, ein Raubmord ist nicht anzunehmen, Herr von Heesemann hatte mehrere Tausende an Banknoten und 76 Wertpapieren unversehrt bei sich in der Brieftasche. Es müßte sich um einen Racheakt handeln.«

»Nein – nein! Barmherziger Gott – nein!«

»Liebe, gnädige Frau, fassen Sie sich. Die Männer, die Ihren Herrn Gemahl bringen, müssen gleich hier sein. Sie brauchen all Ihre Kraft und Besonnenheit.«

Aber Anna hörte nicht. Sie war in die Knie gesunken. Die Hände vor dem Gesicht schrie sie schluchzend ihr sinnloses Nein unaufhörlich durch die lauschige Rokokostube, in der das gelbe Lampenlicht mit der fahlen Morgendämmerung kämpfte. Der Polizeileutnant und der Staatsanwalt sahen einander an.

»Wir hätten den Physikus mitbringen sollen.«

Olten zog die Klingel. »Wecken Sie die Mamsell, die Jungfer, Valentin, daß sie der gnädigen Frau beistehen. Dem gnädigen Herrn ist ein Unglück zugestoßen. Wir müssen zum Frühzug nach Altenhagen zurück – dienstlich.«

»Gnädige Frau, zürnen Sie uns nicht, daß wir Ihnen solch traurige Botschaft bringen mußten, und entschuldigen Sie unseren eiligen Aufbruch. Gott helfe Ihnen.«

Anna stand nicht von den Knien auf, nahm nicht die Hände vom Gesicht, wandte nicht den Kopf. Blind und taub für alles um sie her schrie sie ihr Nein. Als die Tür hinter den beiden Herren ins Schloß fiel, gellte ihnen noch dies schrille Nein nach.

Im Hause wurde es jetzt lebendig. Von allen Seiten strömte die Dienerschaft herbei. Die fremden Männerstimmen, das wilde Schreien der Gnädigen 77 trieben sie aus den Betten und Kammern. Valentin wurde bestürmt. Schlotternd vor Entsetzen berichtete er. Der Herr war tot. Er war einer von denen, die niemand sich tot vorstellen kann. Einen solch breiten Raum hatte er im Leben eingenommen, so schwer hatte er auf seiner Umgebung gewuchtet! Konnte ein solch Lebensvoller plötzlich weggewischt sein aus der Welt? –

Schon scharrten schwere Füße vor der Haustür. Sechs starke Männer trugen die Bahre herein. Eine Wolldecke verhüllte das Gräßliche, das sie barg. Barmherzig und umsichtig übernahm Mamsell Fieke die Führung. Sie wollte den Herrn in eine Fremdenstube betten. Erst dann sollte seine Witwe ihn sehen.

Aber die Träger hatten kaum den Treppenabsatz erreicht, da stand Anna neben ihnen. Befehlend deutete sie auf die Tür des Schlafzimmers. »Hier hinein!«

Sie hörte auf keine Vorstellungen. Sobald die Männer die Bahre niedergesetzt hatten, griff sie nach dem verhüllenden Tuch und schlug es zurück.

Ruhig und würdig lag Max von Heesemann da. Der lange Reisemantel verbarg seine von den Rädern des Zuges verstümmelten Füße. Um die zertrümmerte Schädeldecke hatten barmherzige Hände ein Tuch geschlungen. Sein Gesicht war ruhig. Der Tod mußte sofort und ohne Kampf eingetreten sein. Nur etwas wie Mißbilligung lag um die geschlossenen Lider, die fest aufeinandergepreßten Lippen, aber eine würdevolle Mißbilligung, die tadelt, ohne sich zu ereifern.

Was Lebendiges im Herrenhause weilte, drängte sich um die Bahre; sogar die Hunde schlichen herein, 78 scheu die Luft einziehend und leise winselnd vor Grauen. Hier und da schluchzte eine der Frauen, weniger weil der Herr besonders beliebt gewesen war, als weil einem Gestorbenen Tränen zukommen.

Die Witwe weinte nicht. Sie stand wie steinern neben der Bahre, die Augen ungläubig auf ihres Mannes Gesicht geheftet. Minutenlang stand sie. Endlich hob sie langsam die Hand, näherte sie dem Toten, als wolle sie seine Stirn anfühlen, ob die wirklich, wirklich kalt sei, und ob die herrischen, raschen Gedanken dahinter tot seien. Aber sie berührte sie nicht. Mit einem Aufschrei warf sie sich vor der Bahre auf den Boden.

»Ich will das Licht des Tages nicht mehr sehen!« 79



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