Luise Westkirch
Der Todfeind
Luise Westkirch

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Achtes Kapitel.

Polizeileutnant von Olten saß in seiner Wohnung über einen Stoß Akten gebeugt. Er hatte eben die Gasflammen angezündet, als sein Diener meldete:

»Eine Dame möchte Herrn Leutnant sprechen.«

»Dame? – Was für eine Dame? – Ich bin beschäftigt.«

»Sie wollte mir ihren Namen nicht nennen. Sie sagte, sie käme in einer dringlichen Angelegenheit. Ihr Gesicht war ja durch den dichten, schwarzen Schleier nicht zu erkennen, aber nach Figur und Haltung – wenn ich meine Meinung sagen darf« –

»Also?«

»Ich meine, Herr Leutnant, es möchte wohl die Witwe von dem ermordeten Herrn von Heesemann sein.«

Olten sprang auf.

»Führen Sie die Dame herein. Ich bin für niemand sonst zu Hause.«

»Sehr wohl, Herr Leutnant.«

Anna von Heesemann trat über die Schwelle, schlug den Kreppschleier zurück. Mit dem Ausdruck eines gehetzten Wildes funkelten ihre großen, braunen Augen den Polizeileutnant an.

Der trat auf sie zu, beide Hände ausgestreckt.

196 »Gnädige Frau – Sie – Sie kommen zu mir?!«

Sie hatte einen Augenblick stumm gestanden. Es schien sie Mühe zu kosten, die Lippen zu bewegen.

»Retten Sie mich!« sagte sie endlich.

»Was kann ich für Sie tun, gnädigste Frau?«

»Retten Sie mich vor mir selbst – vor meinen eigenen Gedanken! Und retten Sie ihn! Sie sind der einzige, der es vermag, der einzige, zu dem ich Vertrauen habe. Aus alter Freundschaft! Sie sind doch einmal mein Freund gewesen. Sein Freund sind Sie heute noch. Darum komme ich zu Ihnen. Meine andern Freunde sind lieb und gut zu mir. Aber was vermögen sie? – In Ihrer Hand liegen alle Fäden, Sie sehen durch all die unseligen Verkettungen. – Retten Sie uns!«

»Gnädige Frau, ich begreife, der plumpe Artikel im Morgenblatt hat Sie verstört. Bitte, setzen Sie sich in den Sessel da und versuchen Sie, vor allem ruhiger zu werden. Daß ich für das einstige Fräulein von Ramin tun werde, was in Menschenkräften steht, bedarf wohl keiner Versicherung. Ich bitte jedoch, zu bedenken, daß es Geschehnisse gibt, die ihre Entwicklung unabänderlich in sich selbst tragen. Ich will sagen, ich bin in diesem Fall nur ein Rad in der Maschine und muß meine Schuldigkeit tun, es sei mir lieb oder leid.«

Anna von Heesemann hatte sich auf den ihr gebotenen Stuhl gesetzt. »Ach,« rief sie außer sich, »wissen Sie's denn nicht klar und zweifellos, daß er kein Mörder ist?!«

»Wie soll ich das wissen?«

197 »Sie waren sein Kamerad, sein Freund! Sie kennen ihn wie wenige.«

»Gnädige Frau, Sie kennen ihn besser als irgend jemand. Dennoch war in dem Augenblick, als Brockmann und ich Ihnen die Nachricht von der Ermordung Herrn von Heesemanns brachten, der Verdacht gegen Herrn von Ilefeld Ihre erste Regung. Oder wollen Sie leugnen, daß Ihre Verzweiflung damals nicht dem Toten galt, sondern einem Lebendigen?«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht. »Ach, ich war wahnsinnig. Zu viel drang in wenigen Tagen auf mich ein, brachte mich um Besinnung und Verstand.«

»Sie müssen doch eine Veranlassung gehabt haben, gerade Herrn von Ilefeld für den Mörder zu halten.«

»Nein, nein!«

»Gnädige Frau, wenn ich Ihnen nützen soll, wie ich es von Herzen möchte, so ist die erste Bedingung, daß Sie rückhaltlos offen gegen mich sind.«

»Ja, ja, das will ich. Dazu komme ich ja zu Ihnen. Wenn ich an Sie geschrieben hätte, Sie angefleht hätte, zu mir zu kommen – Sie würden vielleicht gezögert haben. Und Sie müssen mir den Frieden der Seele zurückgeben – müssen mir Antwort geben, ehrlich, klar! Herr von Olten – nicht wahr, er kann das nicht getan haben?«

»Gnädige Frau, das weiß nur Gott und er.«

Sie rang die Hände. »Ich will es Ihnen erzählen von Anfang an, nichts auslassen, nichts beschönigen, damit Sie verstehen –«

»Vor allem beantworten Sie mir eine Frage: Herr von Ilefeld ist gegen eine Kaution von 198 200,000 Mk. auf freiem Fuß belassen worden. Der junge Seekamp bot diese Kaution dem Gericht im Namen einiger Freunde Ilefelds. Sind Sie's, die diese Summe hinterlegt hat?«

»Ja.«

»Ich dachte es.«

»Es ist mein Erbteil von den Großeltern. Meines Mannes Vermögen fällt bis auf einen geringen Bruchteil, den Großpapa mir bei meiner Verheiratung als Wittum ausbedungen hat, an seinen Neffen Tobias.«

»Also erzählen Sie, was Sie mir erzählen wollten, gnädige Frau, und bedenken Sie immer, daß Sie durch die strengste Wahrhaftigkeit Herrn von Ilefeld einen ebenso großen Dienst leisten wie der Justiz.«

»Sehen Sie, Herr von Olten, Sie fühlen's auch, daß Herr von Ilefeld einer von denen ist, die nur gewinnen, wenn man ihr Tun und Wesen klarlegt bis in seine verborgensten Triebfedern, während andere, wie mein unglücklicher Mann, im Gegenteil – aber von Heesemann wollte ich Ihnen nicht reden. Sie sind im Land geboren und haben all die Menschen gekannt, von denen ich Ihnen sprechen muß. Das ist's, was außer Ihren persönlichen Eigenschaften mir das unbegrenzte Vertrauen zu Ihnen gibt. Sie haben auch meinen Vater gekannt. Er war, was ich eine glänzende Persönlichkeit nennen möchte, ein schneidiger Offizier, ein ritterlicher Mann von bestrickender Liebenswürdigkeit gegen hoch und niedrig. Er ist viel bewundert worden. Seine Vorgesetzten haben ihn verhätschelt. Meine Mutter – ist an ihm gestorben. Ich hatte sie wenig beachtet, die arme, stille Frau mit den fast immer verweinten Augen, die überall 199 Schwierigkeiten, überall Grund zu Befürchtungen sah. Ich schwärmte für den lustigen Papa, der lebte und leben ließ. Es störte mich wenig, daß oft Leute ins Haus kamen, die mit groben Stimmen dies oder das forderten und dann von Papa in gutem oder bösem hinausbefördert wurden – wenig, daß nach üppigen Gesellschaften karge Wochen folgten – karg für Mama und mich, Papa hat nie mitgedarbt. Einmal kam Großvater Ramin angereist. Es gab laute Worte zwischen ihm und seinem Sohn, und dann trat er an Mamas Bett, die seit Tagen still und fast ohne sich zu regen lag, und streichelte ihre Hände und sprach so mild und schonsam, wie ich Großpapa nie vorher oder nachher zu einem Menschen habe sprechen hören. Da vernahm ich von ihm das Wort: »Er hat kein Gefühl für Verantwortung, dein Mann. Das ist sein und unser Fluch.« Meine vierzehn Jahre begriffen den Sinn der Worte nicht. Aber Großpapa, der sonst gar nichts Feierliches hatte, sprach sie mit solchem Nachdruck der Verdammung, daß ich ahnte, es müsse etwas Schreckliches sein. Ich begann, Papa zu beobachten. Etwas sollte ihm zur Vollkommenheit fehlen, etwas Wesentliches, sein eigener Vater sagte das. Und wirklich, Papa trug in diesen Tagen den Kopf gar nicht so hoch wie sonst. Ja, so oft Großpapa mit seinen scharfen Augen nach ihm hinsah, senkte er ihn tief und schob sich aus der Stube. – Zwei Tage darauf war Mama tot. Ich stand an ihrem Sarg, verwirrt, blöd' von dem ersten Sterben, das ich erlebte. Da hörte ich hinter der halboffenen Vorsaaltür unsere Köchin sprechen. Sie redete zum Burschen: »Gnädig' Frau – die hat der Herr Major auf dem Gewissen, das glauben Sie 200 man. Was die Herren Doktors ihrer Todeskrankheit auch für'n Namen geben, ich weiß es: bei kleinem hat er sie umgebracht.« Ich rannte in meine Kammer, ich steckte den Kopf in die Kissen, hielt mir die Ohren zu. Umsonst! Ich hörte die Worte immerwährend, immerwährend. Mein Papa, der Mama so lieb hatte, der so ritterlich zu ihr war, der ihr die Hand küßte zehnmal am Tag! – In dieser Stunde hab' ich die Kindheit von mir abgetan. Da hab' ich sehen gelernt. Ich lernte es bald noch besser. Denn zu mir kamen jetzt die Leute mit den groben Stimmen, forderten große Summen von mir, die ich keine Mark hatte, zankten, klagten an. Da erfuhr ich, daß mein Vater Mamas Mitgift vergeudet hatte und, was Großvater ihm zugesteuert hatte, vertan in fröhlichen Gelagen, auf der Rennbahn, am Spieltisch, verschleudert in unglaublichen Trinkgeldern, großspurigen Almosen, während daheim die Pfandsiegel an jedem Möbel klebten. An meinem fünfzehnten Geburtstag brachten sie ihn von der Jagd heim, mit einer kleinen, roten Wunde an der linken Schläfe. Er sollte gestürzt sein. Das Gewehr hatte sich im Sturz entladen, sagten seine Freunde. Die anderen sagten anderes. Großvater Ramin kam. Wieder hörte ich das Wort von dem fehlenden Verantwortlichkeitsgefühl. Dann gab's endlose Verhandlungen mit Leuten mit graden und mit krummen Nasen. Unsere Einrichtung wurde verkauft, ein gut Stück Raminer Prachtwald dazu. Großvater standen die Tränen in den Augen, als die Holzfäller den ersten Axtschlag taten. ›Aber das soll keiner sagen dürfen, daß die Ramins ihr Wort nicht einlösen.‹ Vier Kutschpferde wurden abgeschafft. Mich nahmen die 201 Großeltern mit nach Ramin. Sie hatten das Lachen verlernt um Papas Willen, den ich nur lachend gekannt hatte. – Wundern Sie sich nicht, daß ich Ihnen all das erzähle. Sie müssen es wissen, um zu begreifen, was dann geschah. Als frühreifes, von Kummer durchschütteltes Kind kam ich nach Ramin. Aber gesunde Jugend überwindet Trauer, Scham und Leid. Zwischen den vergrämten Großeltern wurde ich ein frohes, ein übermütiges Mädchen. Da begegnete ich einem, der war noch frohmütiger, noch sonniger, als mein armer Papa gewesen war. Wir hatten nicht viel Sonnenschein auf Ramin. All meine liebsten Jugenderinnerungen wachten auf. Alles, was nach Sonnenschein in mir drängte, kehrte sich dem Manne zu, der mir die verkörperte Lebensfreude schien. Das war die Zeit, als ich auf den schleswigschen Kasinobällen mit Wolf Ilefeld tanzte, die Zeit, da Sie mich kennen lernten, Herr von Olten.«

»Es war eine schöne Zeit, gnädige Frau. Ich habe nur den Abschluß nie begriffen.«

»Den Abschluß?! – Ja, nur aus meiner Kindheit ist er zu verstehen, aus meiner Angst vor dem Übermaß von Lebensfreude, die aus den Totenbetten meiner Eltern in mir aufgewachsen war, die seitdem in mir lauerte, tief im Herzensgrund, während mein ganzes Wesen doch nach Lebensfreude lechzte. Die Großeltern warnten mich vor Ilefeld. Er war nicht der Liebling der Gerechten im Lande. Aber sein persönlicher Zauber siegte über jedes Mahnwort. Es kam zur Aussprache zwischen uns. An dem Abend glaubte ich an ihn. So viel Zartheit war in seiner Leidenschaft, so viel Wärme in seinem Frohsinn! Mein Vater war kalt gewesen 202 – ungetrübt heiter, weil er anderer Leid, auch das seiner Nächsten, überhaupt nicht fühlte. Aber durch Ilefelds ungezügeltsten Übermut spürte man ein warmes Menschenherz. – Zwei Tage später erzählten gute Freunde mir, wie er den Abend verbracht hatte – den Abend, als er von mir kam.«

»Als ein vom Glück Berauschter, gnädige Frau. Ich war an seiner Seite an jenem Abend.«

»So hab' ich das damals nicht begriffen. Ich sah meinen Vater vor mir, am Tag als meine Mutter auf ihrem letzten Krankenlager lag, wie er, nur zwei Zimmer von ihr entfernt, den Champagnerkelch zwischen den Fingern emporhob, mit lustig blitzenden Augen seinen Freunden zutrank – und das meiner Seele eingehämmerte Grauen vor dem Leichtsinn reckte sich riesengroß in mir auf. Mein Empfinden fror zu Eis. In diesen Tagen nahm mein Großvater mich mit nach Brake. Gott verzeih's ihm. Er hat wohl geglaubt, es gut zu machen. Heesemann war gerade von seiner afrikanischen Reise heimgekehrt, hatte seines verstorbenen Vaters Besitz angetreten. Großpapa zeigte mir die Musterwirtschaft, die neuen Arbeiterwohnungen, all die protzigen Wohltätigkeitsstiftungen. Er zeigte mir Heesemann selbst, seinen Ernst, seine Arbeitsamkeit, seine Bedachtsamkeit. Und zwei Tage darauf sagte er mir, daß Heesemann um mich werbe. In mir brannte ein rachsüchtiges Verlangen, dem, der meine Neigung mißachtete, zu zeigen, daß ich der seinen entraten könne. – So wurde ich Frau von Heesemann.«

»Sie taten Ilefeld unrecht, gnädige Frau. Ob er in der Äußerung seines Gefühls immer taktvoll 203 gewesen ist, will ich nicht erörtern. Das weiß ich, daß sein Empfinden für Sie tief und echt war.«

»Ich glaub's! Ich weiß es heute. Oh, wie bald habe ich die Bedachtsamkeit hassen gelernt, die ein wohlanständig Mäntelchen um die häßlichsten Dinge breitet, das augenfällige Sichmühen im Dienst der Menschheit, wie mein Mann es übte, während er doch in Wahrheit keinen Menschen lieb hatte, keinen – seinen unglücklichen Neffen vielleicht ausgenommen. Mich hat er nur geheiratet, um sich mit einer der alten Familien im Lande zu versippen. Ich hab's bald begriffen.«

»So ist er Ihnen von Anfang an kühl begegnet?«

»Kühl begegnete Heesemann keinem gesunden Weib unter dreißig Jahren.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Ihr Gemahl Sie betrog?«

»Vom ersten Tag an – ja.«

»Gnädige Frau, in unserer Sache kann der scheinbar unbedeutendste Umstand entscheidend werden. Wenn Sie sich irgendwelcher Beziehungen Herrn von Heesemanns zu einer weiblichen Person erinnern könnten« –

Sie unterbrach mit einer Bewegung des Ekels. »Ich erinnere mich an nichts. Als ich meinen Mann erst kennen gelernt hatte, hab' ich gewaltsam die Augen weggewandt von allem, was er tat.«

Olten überlegte. »Es steht fest, daß Herr von Heesemann wenige Stunden vor seiner Ermordung seine Reise unterbrochen hat, um eine Instenfamilie aufzusuchen, die bis vor acht Tagen auf Brake gewohnt hatte. Die älteste Tochter der Familie ist ein auffallend schönes 204 Mädchen. Halten Sie es für glaubhaft, daß sie die Ursache dieses Besuches gewesen ist?«

»Sehr wahrscheinlich.«

»Aber in Brake selbst haben Sie nichts von einem besonderen Interesse Herrn von Heesemanns für das junge Mädchen bemerkt?«

»Ich wiederhole es Ihnen, ich hab' den Passionen meines Mannes nie nachgeforscht. Das nur hab' ich gehört, daß sein armer, junger Neffe eine schwärmerische Zuneigung zu der schönen Hete gefaßt hatte. Heesemann sagte mir, es sei der Grund, weshalb er die Familie Hals über Kopf vom Hof wegschicken müsse. Aber vielleicht war's gelogen. Er log meist.«

»Wie kommen Sie darauf, daß dies gelogen sein sollte?«

»Weil Tobi nie nach Hete Meier gesucht, nie wieder nach ihr gefragt hat. Ich redete ihn ein paar Tage später einmal darauf an. Sein armes Hirn schien kaum die Erinnerung festgehalten zu haben, daß die Familie auf dem Gut gewohnt hatte.«

»Hm. Von Herrn von Heesemanns geschäftlichen Beziehungen wissen Sie dann wahrscheinlich auch nichts zu sagen?«

»Nichts, nichts! Was hinter seinen feierlichen Reden steckte, war meist so beschämend, daß ich mich immer gefürchtet habe, nachzusehen.«

»Da Sie in Ihrer Ehe kein Glück fanden, gnädige Frau, haben Sie denn nie versucht die Scheidung durchzusetzen?«

»Nein, nie.«

»Auch nicht vor der Geburt Ihres Söhnchens?«

»Nein. Ich war zu müde, zu hoffnungslos, zu 205 gleichgültig. Das heißt – wenn Heesemann an jenem Abend lebend zu mir zurückgekehrt wäre, so würde ich allerdings die Scheidung verlangt haben – und durchgesetzt haben auch, um jeden Preis.«

»Dann würden Sie die Scheidung verlangt haben? – Ausgerechnet an jenem Abend? – Sie geben damit zu, daß kurz vor diesem Abend etwas Neues in ihr Leben getreten war.«

»Ja.«

»Das – mit Herrn von Ilefeld zusammenhängt?«

»Ja.«

»So kommen wir zu dem entscheidenden Punkt, Ihrem Verhältnis zu Herrn von Ilefeld – Ihrem Verhältnis nach seiner Rückkehr, wohlverstanden! Zu der Zeit, als Herr von Heesemann ermordet wurde. Verzeihen Sie, wenn mein Amt mich nötigt, Ihre Empfindlichkeit zu verletzen. Der Artikel im Morgenblatt nimmt an, daß dies Verhältnis ein sehr nahes gewesen sei – ein mit Ihren Pflichten gegen Herrn von Heesemann nicht vereinbares« –

»Das ist nicht wahr! Nie habe ich meine Pflichten als ehrbare Frau verletzt. Geklammert hab' ich mich an meine Frauenehre wie ein Pensionsmädchen – an das, was man Frauenehre nennt. – Was gäb' ich drum, hätt' ich's nicht getan!«

Sie war aufgesprungen. Durch den letzten, leise gesprochenen Satz klang eine Leidenschaft, die Olten erschütterte.

»Sprechen Sie ruhig, gnädige Frau. Sagen Sie mir ehrlich, was zwischen Ihnen und Herrn von Ilefeld vorgefallen ist. Hatten Sie während seiner Abwesenheit aus dem Lande Briefe mit ihm gewechselt?«

206 »Nein. Auch mündliche Botschaft ist nicht zwischen uns hin und her gegangen. Ich glaubte mich vergessen und wollte ihn vergessen. Nichts hab' ich von ihm gehört als hie und da ein Zufallswort – bis zu dem Jagdtag auf Hohorst.«

»Da haben Sie ihn wiedergesehen.«

»Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht wußte, daß er kommen würde. Mich verlangte nur fort aus meinem öden Haus, das noch öder war nach meines Kindes Tod. Mich verlangte nach den Gesichtern meiner alten Freunde. Ganz plötzlich standen wir uns gegenüber bei dem Jagdfrühstück, mitten zwischen dreißig Menschen. Er war erschrocken wie ich. Keiner von uns konnte ein Wort sagen. Aber im selben Augenblick wußten wir's beide, daß wir einander nicht vergessen hatten – er nicht mich und ich nicht ihn.«

»Sie haben ihn dann bei der Jagd allein gesprochen?«

»Gegen meinen Willen. Ich hab' ihn nicht gesucht. Ich suchte nichts als Frieden, Ruhe. Ich wollte heim. Da riß er mich aus der Schützenlinie, in die ich zufällig geraten war. Auf seinem Stand sprachen wir uns aus.«

»Verzeihen Sie, es wäre mir von Wichtigkeit, zu wissen, was Sie sprochen.«

»Nichts Verbotenes. Eine Abrechnung. Ein Abschied. Ich glaubte auch da noch, wir kämen voneinander los. Ich wollte es. Ich fürchtete Heesemanns Eifersucht. Ich war feig, müd. Ich wollte vom Leben nichts mehr als Frieden.«

»Sie sind aber nicht von einander losgekommen.«

»Es scheint das Verhängnis der Eifersüchtigen, zu fördern, was sie verhüten möchten. Heesemann, der 207 mich seit unserem Hochzeitstag mit grundlosen, ich schwöre es Ihnen, ganz unbegründeten Verdächtigungen gepeinigt hatte, ahnte Ungewöhnliches. Er war den ganzen Abend gereizt gegen Ilefeld, gegen mich. Er ließ sich hinreißen, mir rücksichtslos zu begegnen. Ilefeld trat für mich ein. Es wurden ein paar unfreundliche Worte zwischen den beiden gewechselt. Dann fuhren wir heim.«

»War nun ein heftiger Zank zwischen Herrn von Heesemann und Ihnen die Folge?«

»Zu einem Zank gehören zwei. Ich hab mich nie mit ihm gezankt.«

»In den drei Jahren Ihrer Ehe nicht? – Das Fräulein von Ramin, das ich kannte, war temperamentvoll – soviel ich mich entsinne.«

»In der ungeheueren Enttäuschung über meinen Mann war mein Temperament gestorben. Ich habe wie eine Tote neben ihm hingelebt – bis zu meinem Erwachen.«

»Ihr Erwachen? Was verstehen Sie darunter?«

»Ja, wie soll ich es Ihnen deutlich machen?! Ich hatte als junges Ding viel Herrliches vom Leben als mein gutes Recht erwartet. Als ich das Wesen des Mannes erkannte, den meine feige Vorsicht mich hatte wählen lassen, da wurde ich vor Entmutigung stumpf wie der Stein am Weg. Ich wagte nichts mehr zu wollen, zu planen. Ich liebte auch nichts mehr, nicht einmal mein Kind, denn es war Heesemanns Kind. So war es vor jenem Jagdtag gewesen. Am folgenden schickte Herr von Ilefeld meinem Mann seine Kartellträger. Verstehen Sie? Meinetwegen tat er das. Der kurze Wortwechsel zwischen ihm und 208 Heesemann war kein Grund – Heesemann blieb immer vorsichtig, auch in der Wut – nur ein Vorwand war's. Für mich geschah's. Begreifen Sie? – niemand hatte nach mir gefragt Jahre lang, niemand gehörte zu mir. Und da war nun einer, der liebste Mensch, den die Erde je für mich getragen hatte – der hatte mich lieb. Der setzte ohne Zögern sein junges, frohes Leben ein für mich – mich, die ich in meiner verbrecherischen Klugheit ihn fortgestoßen hatte! – Das riß mich auf. Das rüttelte mich wach. Auf einmal war das Leben wieder schön! Auf einmal konnte ich wieder lachen und glauben. Gott, wie bin ich an dem Abend glücklich gewesen!«

»Wie stellte sich Herr von Heesemann zu der Forderung?«

»Er nahm sie nicht an, natürlich. Ich sage Ihnen ja, er war vorsichtig. Was kümmerte das mich? Nicht einen Augenblick – glauben Sie mir, ich lüge nicht in dieser Stunde – nicht einen Augenblick hab' ich erwogen, gehofft, daß Heesemann von Ilefelds Hand fallen möchte. Ich hab' seinen Tod nicht gewünscht, nicht damals, nicht später. Gar nicht dran gedacht hab' ich. Ich fühlte nur das eine: »Da ist ein Mensch, der hat dich lieb. Du bist nicht mehr allein in der Welt. Einer gehört zu dir. Und – mag sein Leichtsinn uferlos sein wie das Meer – er ist der warmherzigste, der herrlichste, der sonnigste Mensch, den die Erde trägt. Da schrieb ich an ihn.«

»Sie schrieben an Herrn von Ilefeld?«

»Ja. Ich wollte ihn sehen, zu ihm reden. Das begreifen Sie. Heesemann pflegte Sonnabends nach Hamburg zu fahren. Sonnabends konnte ich über den 209 Wagen ungefragt verfügen. So schrieb ich an Herrn von Ilefeld, daß ich ihn Sonnabend im Seeberger Wald treffen wollte.«

»Herr von Ilefeld leugnet aber, am Sonnabend mit Ihnen zusammengetroffen zu sein.«

»Er leugnet?! – Ja, das sieht ihm gleich. Er möchte meinen Ruf schonen. Aber hier steht mehr auf dem Spiel als der zerzauste Ruf einer Frau. Ja, einst bin ich so besorgt um diesen Ruf gewesen, daß ich sogar die Schmach meiner Ehe stumm getragen habe. Das ist vorbei. Mögen alle Lästerzungen im Lande diesen Ruf zerreißen, wenn nur Ilefeld rein wird von dem Mordverdacht!«

»Was haben Sie nun mit Herrn von Ilefeld bei dieser Zusammenkunft verabredet?«

»Verabredet? Ich hab' ihm gesagt, was ich für ihn empfand. Er mir auch.«

»Es wird behauptet – nicht bloß in dem Artikel der Zeitung – Sie hätten in dieser Unterredung von Herrn von Ilefeld gefordert, daß er ihren Gemahl töte.«

»Das hab' ich nicht getan – so wahr Gott mir helfe in dieser größten Not meines Lebens! Die Scheidung zu fordern und durchzusetzen, war ich entschlossen. Der Möglichkeit seines Todes haben wir mit keinem Wort gedacht.«

»Gnädige Frau, man kann eine Sache begehren, sie dem anderen nahe legen, ohne sie mit Namen zu nennen. Sollten Sie nicht durch irgendein Wort, eine Andeutung – vielleicht unabsichtlich – den Anstoß gegeben haben« –

»Ob ich« –

»Seien Sie wahr, gnädige Frau!«

210 Sie stand, schwer atmend, blaß bis in die Lippen. Ihre rechte Hand zerrte an ihrem Handschuh, und ihre Augen blickten irr vor Qual.

»Das ist das Schwerste«, sagte sie endlich, kaum verständlich. »Aber Sie sollen mir ja helfen. Ich will auch das Letzte, Äußerste sagen. Herr von Ilefeld war – er war – als ich zu ihm sprach, war er« –

»Als er Ihre Gesinnungen für ihn erfuhr, ist er jedenfalls in eine sehr leidenschaftliche Aufregung geraten«, half Olten ein.

»Ja, ja.«

»Er hat seinen Gefühlen für Sie, seinen Hoffnungen und Wünschen rückhaltlos Ausdruck gegeben.«

»Er sagte mir, daß seine Vermögensumstände sich verschlechtert hätten, daß er jedenfalls Ravenhorst nicht würde halten können, daß« –

Olten unterbrach. »Sagte er Ihnen, daß es Herr von Heesemann sei, der ihn von seinem Erbgut trieb?«

Sie hob mit raschem Aufschlag die gesenkten Lider. »War auch das Heesemanns Werk? – Davon weiß ich nichts. Aber es sieht ihm gleich. Ja, es sieht ihm ähnlich!«

»Verzeihen Sie die Unterbrechung. Also Herr von Ilefeld sagte Ihnen, daß er von Ravenhorst fort müßte?«

»Ja. Und daß er ins Ausland gehen werde, nach Afrika oder Südamerika, bald, in Wochen, in Tagen. Ich solle ihn kurzweg begleiten, forderte er.«

»Waren Sie einverstanden?«

»Nein! – Und das ist's, was ich mir nie im Leben vergeben werde. Ich wollte reinliche Sache haben, verstehen Sie? Unsereins saugt die Anbetung 211 der Regel ja mit der Muttermilch ein. Die Scheidung wollte ich zuvor erlangen, ganz säuberlich und öffentlich losgesprochen werden von dem Mann, der unsere Ehe hundertmal gebrochen hatte. Dann erst, wenn kein Philister im Lande das geringste dagegen einwenden konnte, wollte ich mich dem Manne schenken, den ich geliebt habe, seit ich ein Weib war.«

»Sie sagten zu Herrn von Ilefeld: »Wenn ich frei bin! Sobald ich frei bin!«

»Ich weiß nicht mehr, ob das die Worte waren.«

»Ja, Sie riefen: »Wenn ich frei bin!««

»Es ist möglich.«

»Das war gegen halbsechs Uhr nachmittags?«

»Ja.«

»Und zwei Stunden darauf lag Ihr Gemahl ermordet auf den Schienen.«

Sie sprang auf. »Das ist's ja, was mich aufschreien ließ, als Sie mir die Todesnachricht brachten, was mich fast verrückt gemacht hat! Der Gedanke, die Möglichkeit, daß meine Protzentugend aus dem herrlichsten Menschen das gemacht haben könnte! Lieber, als das glauben zu müssen, wollte ich gleich sterben. Aber dann kam die Vernunft, sagte mir, es kann, es kann ja nicht sein! Ilefeld ist keiner, der heimlich, hinterrücks einen Feind aus dem Weg räumt. Sie kennen ihn auch. Darum komme ich zu Ihnen. Sie sollen mir wiederholen, Sie sollen's beweisen, daß es unmöglich ist, daß er der Mörder sein kann.«

»Ilefeld ist ein sehr leidenschaftlicher Mensch, gnädige Frau.«

»Aber kein hinterlistiger!«

212 »Heesemann hat gegen ihn auch heimtückisch gehandelt, ist dem offenen Kampf ausgewichen und hat heimlich Ilefelds Existenz untergraben. Und wenn Sie sich ihm versagten, wenn er von hier fort mußte und sah Monate, Jahre zwischen sich und ein Wiedersehen mit Ihnen gerückt –«

»Sie glauben trotzdem nicht, daß er der Mörder ist, so wenig, wie ich es glaube. Herr von Olten, helfen Sie uns! Übertreffen Sie sich selbst! Bieten Sie all Ihren Scharfsinn auf! Finden Sie den wirklichen Täter!«

»Ich habe keinen sehnlicheren Wunsch, gnädige Frau. Aber ich darf Ihnen nicht verhehlen, die Indizien weisen so energisch auf Ilefeld hin, daß mein Glaube an ihn wankend geworden ist. Ihre Aussagen haben die Verdachtsgründe auch eher verstärkt als entkräftet. Oder wissen Sie irgend etwas zu seiner Entlastung zu sagen?«

»Heesemann war ein Mann, der hundert Feinde hatte, haben mußte.«

»Aber eine bestimmte, Ihnen verdächtige Persönlichkeit können Sie mir nicht nennen?«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß zu wenig von meines Mannes Leben, seinen Beziehungen.«

»Das ist schlimm!«

Eine Minute lang herrschte ein schweres Schweigen zwischen den beiden Menschen. Ein Windstoß fuhr durch den Schornstein. An die Scheiben schlugen prasselnd Regentropfen.

Frau von Heesemann sprach leise: »Wenn er das wirklich getan hätte – um meinetwillen getan hätte – so wären wir freilich am Ende. So gäbe es kein 213 Weiter in der Welt – nicht für ihn, nicht für mich. Retten Sie uns, Herr von Olten! Nehmen Sie den schmachvollen Verdacht von ihm!«

»Ich verspreche Ihnen, gnädige Frau, daß ich all meine Kräfte einsetzen werde, um die Wahrheit herauszuschälen aus den Hüllen, die sie verbergen – die Wahrheit. Was sie für ein Gesicht tragen wird, vermag ich Ihnen in diesem Augenblick allerdings nicht zu sagen.«

Anna von Heesemann sprach ein paar Dankesworte, leise, hoffnungslos. Sie fühlte, Olten gab ihr, was er geben konnte. Aber was er geben konnte, machte sie nicht reicher. Mit gesenktem Kopf tat sie ein paar Schritte nach der Tür. Dann blieb sie stehen, kehrte um.

»Herr von Olten, wenn Sie die Wahrheit gefunden zu haben glauben – die Wahrheit, sie sei, wie sie sei – wollen Sie es mich wissen lassen?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Ich meine sofort! Ohne Verzug! Bevor – das ist das Wesentliche – bevor der Richter spricht.«

Stumm sah Olten sie an. Ihre großen, schwarzen Augen waren fest auf ihn gerichtet und sagten deutlich, was die Lippen nicht aussprachen. Etwas von der trotzigen Entschlossenheit des Fräuleins von Ramin leuchtete darin und auch die leidenschaftliche Sorge des liebenden Weibes. Scharf sah der Polizeileutnant in diese flehenden Augen und fühlte seine eigenen feucht werden in einer ihm seit lange fremd gewordenen Rührung bei der Tragödie, die sich vor ihm abrollte.

»Geben Sie mir Ihr Wort, Herr von Olten.«

Da gab er es, ernst, beinahe feierlich.

214 »Sie sollen die Wahrheit wissen, sobald ich sie weiß – mein Wort darauf.«

Diesmal dankte sie ihm warm.

Er küßte die Hand, die sie ihm zum Abschied reichte.

»Doch eine von den Ganzen!« dachte er. »Ja, Frau Anna, ich werde Ihnen Nachricht geben. Genug, daß das Verbrechen gesühnt werde. Den Pöbel um sein Schauspiel zu betrügen – dazu helf' ich Ihnen gern.« 215



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