Luise Westkirch
Der Todfeind
Luise Westkirch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Der Wagen mit den beiden Herren fuhr der Station zu. Die müden Gäule dampften im Frühnebel. Der Polizeileutnant von Olten hatte sich eine Zigarre angezündet. Staatsanwalt Brockmann, der nicht rauchte, lehnte den Kopf gegen die Polster.

Sie hatten miteinander auf der Schulbank gesessen. Nun führte der Dienst sie wieder zusammen. Am Abend hatte der Streckenwärter auf seinem Pflichtgang nach Passieren des letzten Zuges hinter Scharndorf einen Mann gefunden, der auf dem Gesicht lag, die verstümmelten Füße auf den Schienen. Sein Schädel war zertrümmert. Der Beamte hatte nicht gewagt, den Toten zu berühren, sondern war eilig umgekehrt und hatte Meldung erstattet. Der Scharndorfer Gensdarm war an die Unglücksstätte beordert worden und vom Stationsvorstand in Scharndorf ging an die Kieler Polizeidirektion die Depesche ab:

»Unbekannte Leiche auf Strecke 5a auf den Schienen gefunden. Schwere Verletzungen. Ungewiß ob Unglücksfall oder Verbrechen.«

Die Botschaft, die in später Nachtstunde eintraf, hatte den Polizeidirektor in schwere Verlegenheit versetzt. Am Vorabend war ihm sein bewährtester 80 Kommissär in hoffnungsloser Krankheit niedergebrochen, zwei andere waren mit Dienstarbeit überhäuft, der Vierte kam aus dem fernen Osten und hatte erst seit vierzehn Tagen seinen Dienst angetreten. War aber wirklich auf der stillen Zweigbahn ein Kapitalverbrechen begangen worden, so mußte er sein bestes Beamtenmaterial einsetzen. Schon war die Ermordung eines Matrosen am Hafen unaufgeklärt geblieben und der Mörder straflos. Nicht noch einmal durfte der Schuldige entkommen.

Als der Direktor ratlos sich in dem nächtlich stillen und leeren Polizeigebäude umsah, in dem nur die wachthabenden Beamten auf ihren Posten dämmerten, lief ihm in einem der langen Gänge, elastisch und wach trotz der späten Stunde, der Polizeileutnant von Olten in den Weg, der eifrig eine Meldung lieber noch in der Nacht als am frühen Morgen machen wollte. Sein Anblick wirkte wie eine Erleuchtung auf den Direktor. Er erinnerte sich, daß Olten ein brennendes Interesse für Kriminalfälle hegte, und er setzte das höchste Zutrauen auf seinen Spürsinn, seine Initiative, seine Umsicht und Energie. Zudem war er als Sohn einer alteingesessenen Familie mit Land und Leuten von Kind auf vertraut. Keinen Geeigneteren in seinem ganzen Beamtenstabe wußte der Direktor und kurz entschlossen teilte er dem Leutnant den Fall mit und ersuchte den von diesem Auftrag Hocherfreuten ausnahmsweise die Funktion eines Kriminalkommissärs zu übernehmen und mit dem Amtsrichter, dem Staatsanwalt, dem Kreisphysikus und dem Gerichtsschreiber sofort zur Feststellung des Tatbestandes aufzubrechen.

Eine Viertelstunde Weges hinter Scharndorf lag 81 die Leiche, von dem Scharndorfer Gensdarmen bewacht.

Der Stationsvorsteher hatte sich hinzugesellt. Laternen brannten. Ein paar Neugierige, die sich trotz der späten Nachtstunde eingefunden hatten, umstanden in weitem Kreis den Toten. Der lag in schrägem Winkel zu den Gleisen auf der rechten Seite des Bahnkörpers, die von den Rädern zermalmten Füße lagen auf den Schienen, der Kopf der Fahrtrichtung des Zuges abgewandt. Ein grauer Reisemantel bedeckte ihn in weiten Falten.

Beim Schein der Laternen begann der Gerichtsschreiber das Protokoll zu schreiben. Dann traten die Herren herzu. Die Leiche wurde umgewandt, und dem Staatsanwalt wie dem Polizeileutnant lief ein Frösteln den Rücken hinunter, als sie unvorbereitet in das todesstarre Gesicht des Mannes blickten, mit dem sie noch vor wenigen Tagen am gleichen Tisch gezecht hatten.

»Max von Heesemann auf Brake.«

In Grauen gemurmelt, lief der Name durch die Reihen der Anwesenden. Olten ordnete sogleich an, daß von einer telegraphischen Benachrichtigung der Witwe abgesehen würde. Er wollte persönlich mit Brockmann auf Brake vorsprechen. Dann begann die Untersuchung der Leiche.

Die schwere, goldene Uhr steckte in der Weste, und in der von Papieren dick aufgebauschten Brieftasche befanden sich außer Geschäftsdokumenten und Wechseln mehrere tausend Mark in Scheinen. Taschentuch, Bleistift, Haarbürste und Handspiegel schienen unberührt. Der Amtsrichter und der Staatsanwalt siegelten alle 82 diese Gegenstände ein. Dann wurde die Leiche vorsichtig auf die bereitgehaltene Bahre gelegt, und sechs Bahnarbeiter trugen sie in das Stationsgebäude, wo der Physikus sie zur Untersuchung entkleidete.

Inzwischen nahmen beim Licht rasch entzündeter Fackeln Olten, der Staatsanwalt und der Amtsrichter die Besichtigung des Fundortes vor. Der feuchte Boden zeigte in scharfen Umrissen nichts weiter als den Eindruck des toten Körpers. Kein Versuch des Sterbenden, sich aufzurichten, keine unbewußte Zuckung hatte die Erde aufgewühlt. Es war klar: ein Kampf war an dieser Stelle nicht gekämpft worden, auch kein Todeskampf. Auf einen Umkreis von zwanzig Schritt hatte der Gensdarm die Neugierigen ferngehalten. Die Mitglieder der Untersuchungskommission, die Männer, die den Körper zur Bahre trugen, waren vorsichtig auf den Schwellen zwischen den Schienen gegangen. Lehmig zeigte sich der Grund in dem freigehaltenen Kreis, nur stellenweise mit spärlichem Gras bestanden, regendurchtränkt. Und über diesen Grund, der jeden Abdruck festhielt wie weicher Ton, lief nur eine einzige Fußspur hin und zurück: die des Streckenwärters, der den Toten entdeckt hatte. So viel ergab schon die erste Untersuchung: Herr von Heesemann war nicht auf seinen Füßen zu dem Schienenstrang hingegangen, es hatte ihn auch niemand dahin getragen. Er mußte in dem fahrenden Zug gesessen haben und an dieser Stelle aus der geöffneten Coupétür gefallen sein. Gefallen oder geworfen worden sein – das war die Frage. Und wenn geworfen – als ein Lebender oder schon als Leiche?

»Als Leiche,« behauptete Olten. »Das ist was 83 für das Schwurgericht, Amtsrichter. Der Mann hat nach seinem Sturz keine Bewegung mehr gemacht. Er ist aufs Gesicht gefallen und zertrümmert findet sich die Schädeldecke.«

Der Physikus, der seine Untersuchung beendet hatte, pflichtete ihm bei. »Die Zertrümmerung der Schädeldecke rührt keinesfalls vom Stoß eines Rades her. Die Bruchstelle müßte sich länglich zeigen und viel größer. Wahrscheinlich würde der ganze Kopf zermalmt sein. Ich behaupte, die Todesursache ist ein Schlag, geführt von einem runden, stumpfen Instrument, ich möchte sagen, einem Instrument mit kuglig runder Fläche, etwa dem abgerundeten Teil eines schweren Hammers oder einem Totschläger, von rückwärts und mit gewaltiger Wucht geführt.«

Bei der sternenlosen Nacht und dem unsicheren Fackellicht verzichteten die Herren vorläufig auf eine weitere Untersuchung der Bahnstrecke und beeilten sich, bevor seine Wagen sich wieder in Bewegung setzten, den in Flensburg stehenden Zug zu erreichen, mit dem nach Aussage des Stationsvorstehers Herr von Heesemann gestern abend gefahren war. Olten und Brockmann hatten den Abstecher über Brake gemacht.

Nun fuhren sie durch die fahle Morgendämmerung zur Station. Eine Weile saßen sie schweigend. Dann öffnete Olten das Wagenfenster und warf den Rest seiner Zigarre hinaus.

»Bißchen stark aufgeregt, die junge Frau von Heesemann.«

»Ich hatte keine Ahnung davon, daß das Verhältnis zwischen den Eheleuten ein so inniges war.«

84 »Eher das Gegenteil,« antwortete Olten mit Überzeugung.

»Erinnern Sie sich,« fragte der Staatsanwalt wieder, »des Fräuleins von Ramin, so vor vier Jahren, ehe sie Frau von Heesemann wurde?«

»Und ob! Hab' manchen Walzer mit ihr getanzt, als ich noch beim Regiment stand. Hatte immer was für sie übrig. Grandiose Offenheit, Temperament für ein halbes Dutzend. Na, dann kam ihre Heirat.«

»Über ihre Wahl hat sich, glaub' ich, damals mancher im Lande gewundert.«

»Von einem weiß ich's gewiß,« versicherte Olten.

»Aber schließlich muß sie sich doch gut in ihres Mannes Art eingelebt haben – nach ihrem Schmerzensausbruch vorhin zu urteilen.«

»War ein bißchen unangenehm laut, was?«

»Lieber Himmel, Olten, bei sehr großem Leid benehmen wir uns alle nicht, wie wir sollen, sondern einfach, wie wir können. Oder halten Sie ihr Leid nicht für echt?«

»Doch wohl,« antwortete Olten ernst. »Eine Heuchlerin ist die Frau nie gewesen. Nur – ich versteh's nicht. Heesemanns Vorzüge in Ehren – er hatte Vorzüge, große sogar. Aber wenn ich eine Frau wäre –«

»Dann wären Sie nicht Frau von Heesemann.«

Olten lachte. »Wissen Sie, gar zu große Vollkommenheit ist mir zeitlebens auf die Nerven gefallen.«

Der Wagen hielt mit einem Ruck vor dem kleinen Stationsgebäude.

»Kommen Sie, Staatsanwalt. Unglücksbote 85 spielen schlägt auf den Magen. Wenn wir noch Zeit haben, wollen wir einen Kognak trinken.«

Zwei Minuten später brach die Lokomotive aus dem Morgennebel. Die beiden stiegen in das Abteil erster Klasse. Doktor Wichtendahl hatte seinen Kopf mit dem vollen grauen Haarschopf fest gegen das Polster gedrückt und die Augen geschlossen. Auch Amtsrichter Schönhütte schlief. Der Schreiber war in dem Abteil daneben geblieben. Man konnte sich ausbreiten in dem leeren Frühzug.

Brockmann und Olten setzten sich einander gegenüber und sahen abgespannt in den grauenden Tag hinaus, in dessen Licht die kahlen Felder und herbstgelben Wiesen wie auf einer Drehscheibe an ihnen vorüberliefen. Schwarze Krähen hockten in den Furchen. Von den kahlen Ästen der spärlich stehenden Bäume tropfte der Nebel. Eintönig ratterte der Zug. Plötzlich richtete Olten sich lebhaft auf, riß das Coupéfenster herunter und winkte mit dem Hut grüßend hinaus.

Wo die Schienen die Landstraße kreuzten, stand am geschlossenen Schlagbaum wartend ein Mann. Er trug eine graugrüne Lodenjoppe, hohe Stiefel, grauen Jägerhut mit Auerhahnfedern. Über die Schulter hing ihm am Riemen die Büchse. Groß und seltsam versonnen stand er in den dampfenden Frühnebeln der leeren Landschaft. Er sah den grüßenden Hut nicht.

Olten setzte sich auf seinen Platz zurück. »Haben Sie ihn erkannt? Mein alter Kamerad Ilefeld – seit vier Monaten Herr auf Ravenhorst. War ein rührendes Verhältnis zwischen ihm und seinem alten Herrn. Was der eine nicht verjuxte, das verjeute der 86 andere. Dabei immer ein Herz und eine Seele – Mustervater, Mustersohn. Wenn der alte Herr nicht unweigerlich für jede Dummheit seines Einzigen aufgekommen wäre – Wolf Ilefeld wäre längst mein Kollege.«

»Fragt sich, ob er das Zeug zum Beamten hätte wie Sie,« sagte der Amtsrichter aus seiner Ecke.

»Sie meinen, ich hab' ein schmiegsameres Fell! Dafür ist Ilefeld einer von denen, die immer auf ihre Füße fallen. Wollen Sie glauben – der neue Kanal wird wahrhaftig durch seine Klitsche geführt.«

»Da kann er sich freuen.«

»Wie der Gehängte, der vom Galgen geschnitten wird, Amtsrichter.«

Der Zug hielt, Doktor Wichtendahl steckte seinen grauen Kopf zum Fenster hinaus.

»Kann ich eine Tasse Kaffee haben? He – Kellner! Kaffee! Was – nicht? Zeitungen? Auch gut, mein Sohn. Dann geben Sie mir mal die Hamburger Nachrichten.«

Pustend setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Der Physikus entfaltete das Zeitungsblatt, setzte den Kneifer auf und versuchte in der trüben Dämmerung zu lesen. Seine Gefährten saßen stumm in die Polster zurückgelehnt, schläfrig, träumend. Die Räder rasselten, die Bremsen stampften. Grau unter grauem Himmel flog die fahle Landschaft an den Coupéfenstern vorüber. Da schreckte der greise Doktor die Dämmernden auf.

»Alle Wetter! Das nenn' ich Neuigkeiten!« Er war aufgesprungen. Mit der Linken streckte er das Zeitungsblatt weit vor sich hin, mit der Rechten 87 deutete er aufgeregt auf einen fettgedruckten Artikel. »Strauß – Jonathan von Strauß aus Hamburg ist flüchtig!«

Die drei Herren richteten sich auf. Strauß, an den nie jemand in Geldnot sich vergebens wandte? Der verschwiegene, höfliche Strauß, der, selbst wenn er den Strick eng zog, eine gute Art hatte, den Erstickenden von der unabwendbaren Notwendigkeit seines Erstickens zu überzeugen, flüchtig, bankrott? Hatte er denn die Wahrheit gesprochen, wenn er immer wieder versicherte, daß seine Geschäfte ihn nicht reich machten?

Wichtendahl las:

»Aus sicherer Quelle erfahren wir, daß die Firma J. Strauß in Hamburg, Bankgeschäft und Vermittlung von Güterkäufen, Konkurs angesagt hat. Das Defizit soll rund 3 Millionen betragen. Der langjährige Inhaber der Firma, der greise Jonathan Strauß, ist seit acht Tagen verschwunden. Er wird steckbrieflich verfolgt. Die Bücher sind beschlagnahmt.«

Olten setzte zu einer Bemerkung an, aber mit erhobener Stimme las Wichtendahl weiter: »Ein Bankbruch ist leider heutzutage keine Seltenheit, auch nicht ein Fehlbetrag von mehreren Millionen. Was diesen Bankbruch von seinesgleichen unterscheidet, gewissermaßen pikant macht, das ist die Tatsache, daß sich für die drei fehlenden Millionen bis gestern abend noch nicht ein einziger Gläubiger gemeldet hat. Die Stadt ist voll von eigenartigen Gerüchten über die Personen dieser Gläubiger, die offenbar Strauß als Strohmann benutzt haben und nun lieber Millionen schwinden lassen, als sich zu ihren geschäftlichen Transaktionen bekennen.«

88 »Donnerwetter, die Schweinehunde möchte ich kennen!« sagte Olten rachsüchtig in dem Gedanken an den Wechsel, den er selbst einst in dem kleinen Straußschen Bureau in der Holstenstraße unterschrieben hatte und der, rasch anschwellend, ihn unerbittlich hinausgedrängt hatte aus seinem geliebten Soldatenberuf.

Alle vier waren jetzt ganz wach. Sie sprachen von dem Geldverleiher, bis der Zug in Flensburg hielt.

Der erste Sonnenstrahl brach durch das Grau des schweren Himmels. Der Hafen mit den buntbewimpelten Schiffen leuchtete in freudigem Licht. In kleinen Wellen brandete die dunkelblaue Förde, über der wie ein Amphitheater die hellen Häuser der Stadt emporstiegen.

Auf die von Scharndorf an den Bahnvorstand abgesandte Depesche hin waren die Wagen von Zug 8 ungereinigt, unberührt geblieben, wie sie am Abend vorher eingelaufen waren. Der Bahnhofsvorsteher führte die Herren. Zunächst schritten sie, von rückwärts beginnend, den Zug langsam von außen ab. Sechs Wagen lang, stand er auf einem toten Gleis, verbraucht und harmlos anzusehen im scharfen Morgenlicht. Zunächst der Packwagen, dann drei Wagen dritter Klasse, dann der Schauplatz des rätselhaften Todes: ein Wagen mit drei Coupés zweiter Klasse und dem einen Coupé erster Klasse, in dem Heesemann, der immer erster Klasse fuhr, gesessen haben mußte, zuletzt der Postwagen. Tender und Lokomotive fehlten. Besonders der Wagen mit den Coupés erster und zweiter Klasse wurde eingehend von beiden Seiten betrachtet. Das Trittbrett, die geschlossenen Türen verrieten nichts. Wenn sie Spuren getragen hatten, so waren die weggewaschen vom klatschenden Regen der 89 Nacht. Danach begann die Besichtigung des Innern. Der Zug war kein Durchgangszug, doch in jedem Wagen führte ein Mittelgang durch sämtliche Abteilungen. Hintereinander schreitend, durchwanderte die Kommission den Zug. Jedesmal, wenn sie an das Ende eines Wagens gelangten, mußten die Herren die Seitentreppe hinuntersteigen und die andere zum nächsten wieder hinauf. Aber die Enden der Trittbretter der einzelnen Wagen stießen nahe zusammen. Olten machte seine Begleiter auf diesen Umstand aufmerksam.

»Es war nicht nötig, daß der Mörder im gleichen Wagen mit Herrn von Heesemann reiste. Ein geschmeidiger Mensch konnte während der Fahrt von irgendeinem Wagen aus in sein Abteil gelangen.«

Die drei Wagen dritter Klasse verrieten nichts. Staubig, leer, von einem dumpfen Menschengeruch erfüllt, standen sie. Der Wagen, der die zweite und erste Klasse enthielt, war etwas anders gebaut. Außer den Türen in der Mitte, welche die einzelnen Abteilungen miteinander verbanden, hatte jedes Abteil noch eine Tür rechts und eine links, die ins Freie führten. Die zwei ersten Abteile zweiter Klasse zeigten nur leere, graugestreifte Polster. Im dritten lag vor der Mitteltür, die in das Abteil erster Klasse führte, ein Handschuh auf dem Boden, ein rotbrauner, starker Lederhandschuh, Nr. 8½ und noch fast neu. Er mußte mit großem Ungestüm von der Hand, die ihn getragen hatte, abgestreift sein, denn das Leder an der Innenfläche war eingerissen. Der Handschuh war schwach parfümiert. »Weiße Rose«, sagte Olten. Der Fund wurde zu den Akten genommen.

Dann öffnete der Bahnvorsteher die Tür zu dem 90 einzigen Coupé erster Klasse, das der Zug enthalten hatte. Es prangte in leuchtendem Kirschrot. Den Fußboden bedeckte ein dicker, gleichfalls roter Teppich.

»Das ist eine Erschwernis. Man macht es den Herren Mördern zu bequem, wenn man mit Rot polstert,« sagte Olten, der, das Monokel fest einklemmend, sorgfältig den Samt zu untersuchen begann.

Sie suchten alle, aufgeregt, eifrig. Aber da war kein Blutfleck zu finden. Friedlich streckten sich die Gepäcknetze in die Luft, und unschuldig leuchtete das gelbliche Weiß der kleingemusterten Tapete über der hohen Polsterung der Lehnen. Der Raum hatte, im Gegensatz zu den anderen Abteilen des Wagens, nur drei Türen: die Verbindungstür zu dem anstoßenden Abteil zweiter Klasse und je eine Tür auf jeder Seite, die nach außen ging. Die türlose Seite nahm ein langes Polster ein.

Der Amtsrichter, der auf dem Boden gekniet hatte, richtete sich auf. »Ich möchte doch behaupten, es liegt ein Unglück vor und kein Verbrechen.«

»Ein eingeschlagener Schädel verursacht nicht eine Blutlache wie etwa eine durchgeschnittene Schlagader,« brummte Wichtendahl. »Immerhin, so ganz ohne Spur« . . .

»Wissen Sie, ob das Abteil erster Klasse besetzt war, als der Zug in Flensburg einlief?« fragte Olten den Stationsvorsteher.

»Soviel ich weiß, war der Wagen leer.«

»Der ganze Wagen?«

»An der Perronsperre sind nur Fahrkarten dritter Klasse abgegeben worden.«

91 »Können Sie mir sagen, ob die Türen geschlossen waren?«

»Seit der Zug auf dem Bahnhof steht, hat niemand daran gerührt.«

»Die fest geschlossenen Türen sind allerdings wunderbar.«

Olten deutete auf eine leichte Schmutzspur auf dem Teppich neben dem Fenster rechts. »Hier hat also Herr von Heesemann gesessen.«

»Allerdings,« stimmte der Staatsanwalt bei. »Auf dieser Seite ist er auch aus dem Zug gefallen.«

»Und an dieser Seite ist die Tür zwar geschlossen, aber nicht gesichert. Bitte zu bemerken, meine Herren, der Hebel ist nicht hinaufgedrückt,« erklärte Olten.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß die Tür nach dem Sturz Heesemanns vermutlich von außen zugemacht worden ist, nicht von innen, und in Eile.«

»Ein Schaffner kann sie im Vorbeigehen zugeschlagen haben.«

»Oder der Mörder. Der Schaffner würde gesichert haben.

»Wenn ich nur erst eine Spur von diesem geheimnisvollen Mörder sähe!«

Olten ließ stumm suchend seine Blicke über das Holzwerk der Tür, ihre Scheiben und die Quasten ihrer Zugriemen wandern. Plötzlich deutete er mit dem Finger auf eine Stelle des graugelben Vorhangs des rechten Fensters, der zusammengefaltet in seinem Lederriemen steckte.

»Bitte, Doktor, was ist das?«

Wichtendahl beugte seinen grauen Kopf über das 92 winzige Fleckchen, das in den Unebenheiten des Webemusters beinahe verschwand.

»Das ist Blut. Ich möchte bestimmt behaupten, frisches Blut.«

»Und hier, das Spritzerchen an der Scheibe?«

»Auch Blut.«

Olten öffnete behutsam die Tür. Sie gehorchte nicht dem ersten Druck. Sie haftete. Als er sie gewaltsam aufriß, fand sich in Kopfhöhe eines sitzenden oder kauernden Menschen ein klebriger Fleck am Rahmen.

»Und auch das ist Blut,« sagte der Physikus ernst.

»Hier hat also die zertrümmerte Schädeldecke entlanggestreift, als der Mörder den Erschlagenen aus den Wagen warf. Glauben Sie noch an einen unglücklichen Zufall, Amtsrichter?«

»Nein,« sagte der Staatsanwalt, »es ist Mord, ein wohldurchdachter, raffiniert ausgeführter Mord. Aber wer – wer?«

»Das herauszubekommen, wird ein hart Stück Arbeit sein. Ich schlage vor, wir nehmen einmal ruhig die Nachforschungen auf, kühl nach der Regel, ohne jede vorgefaßte Meinung. Vielleicht greifen wir an einem Ende einen Faden auf, den aufzuwickeln sich lohnt.«

Nun waren nur noch der Post- und der Packwagen übrig. Der Postbeamte war während der ganzen Fahrt in seinem Dienstraum gewesen, mit dem Ordnen der Briefe und Pakete beschäftigt. Er hatte nichts Ungewöhnliches, nichts Verdächtiges bemerkt, auch keinen Schrei im Wagen nebenan vernommen, keinen Wortwechsel und auch nicht das heftige 93 Zuschlagen einer Tür. Er gab aber zu, daß all dies stattgefunden haben könne. Bei dem starken Sturm, den Regenböen, die zeitweilig gegen die Scheiben klatschten, würde er auch ein starkes Geräusch überhört haben.

Der Packmeister gestand, daß er während der Fahrt von Kiel bis Eckernförde meist mit dem Zugführer und dem Schaffner im Dienstcoupé gesessen habe. Im Packwagen gab es an dem Abend wenig zu tun. Eine große Frachtkiste fuhr von Kiel bis Flensburg mit und fünf Fahrräder von Scharndorf bis Föhrde. Er war nur während des Aufenthalts auf den Stationen zum Packwagen gegangen. Dabei hatte er nichts Verdächtiges bemerkt. Er sagte auf Befragen, daß die Türen des Packwagens nach beiden Seiten hin offengestanden hätten. Seine Laterne habe er am Gürtel bei sich getragen. Ein anderes Licht habe im Packwagen nicht gebrannt.

»Nach den Ergebnissen der Zugbesichtigung,« sagte der Staatsanwalt, »wird es das richtigste sein, daß wir in Scharndorf unsere Nachforschungen wieder aufnehmen und vor allem bei Tageslicht die Strecke Scharndorf–Altenhagen nach etwaigen Spuren, die der Mörder hinterlassen haben könnte, durchforschen.«

Die Herren frühstückten und bestiegen den nächsten Zug. Der Physikus fuhr durch nach Kiel. Die drei anderen blieben in Scharndorf. Nochmals wurde der Stationsvorsteher vernommen.

»Sagen Sie uns, bitte, alles, was Sie von Herrn von Heesemanns letzter Reise wissen.«

»Gestern um halb acht Uhr früh kam er mit dem ersten Zug hier durch. Ich weiß es bestimmt. Er 94 sah aus dem Fenster und ließ sich einen Kognak geben. Er hatte Billett nach Hamburg.«

»Fuhr er öfters nach Hamburg?«

»Zwei- bis dreimal im Monat wohl immer. In den letzten Wochen öfter.«

»Haben Sie ihn auf der Rückfahrt gestern auch gesehen?«

»Ja, er kam mit dem Zug um drei Uhr achtundvierzig zurück.«

»Wie denn? Um drei Uhr achtundvierzig? – Er ist doch mit Zug Nr. 8 um sieben Uhr fünfzehn Minuten von Scharndorf abgefahren, und zwischen sieben Uhr fünfzehn und sieben Uhr dreißig hat er auf der Strecke Scharndorf–Altenhagen seinen Tod gefunden.«

»Ja, er unterbrach seine Reise. Um drei Uhr achtundvierzig stieg er in Scharndorf aus, und zu dem Zug um sieben Uhr fünfzehn kam er zurück. Er hatte das schon einige Male so gemacht.«

»Stieg um drei Uhr achtundvierzig aus und um sieben Uhr fünfzehn wieder ein? Das wären mehr als drei Stunden. Was tat Herr von Heesemann denn während der Zeit?«

»Er ging zu Fuß ins Land nach Horste zu. Meine Frau meinte, er würde wohl den Baron Quast besuchen wollen.«

»War Fuhrwerk von Horste an der Bahn?«

»Nein. Keinmal.«

»Herr von Heesemann ging also zu Fuß und allein, wenn er seine Reise unterbrach, und kam ebenso wieder?«

»Ja – jedesmal.«

95 »Als er nun gestern wiederkam zu dem Zug um sieben Uhr fünfzehn, hat er da noch mit jemand gesprochen? Oder wie war das?«

»Ja, das war eigentlich eine sonderbare Begebenheit. Herr von Heesemann kam schon bald nach sieben. Und weil es im Wartesaal leicht ein büschen dumpfig wird, setzte er sich in eine von den Lauben, die wir nach dem Perron hin für Herrschaften gebaut haben.

Es saßen da noch ein paar andere Herren aus dem Lande, wissen Sie, Herr Staatsanwalt, der junge Herr von Seekamp, der jetzt auf Annenhof sitzt, und was sein Jugendfreund ist, der Herr Karl von Tielen, von den Tielens auf Schwenke, der in Afrika gewesen ist. Wie nun der Herr von Heesemann heraustritt, zwinkert er so ein büschen mit den Augen, wie er das so in der Gewohnheit hatte, wenn ihm was nicht paßte, und denn zieht er sehr kurz und steif den Hut. Die beiden tun aber, als ob sie ihn überhaupt nicht sähen. Und Herr von Heesemann geht denn in eine Laube für sich allein sitzen und wendet ihnen den Rücken. Indem so kommt um die Ecke vom Bahnhof der Ravenhorster Herr angeschlendert, der Herr von Ilefeld, Hut im Nacken, so recht keck und gut zu Wege. Wie der nun den Rücken von Herrn von Heesemann zu Gesicht kriegt, wird er kirschbraun bis unter die Hutkrempe und im nächsten Augenblick weiß wie die Tünche am Haus, greift nach der Seite, reißt den Pfahl vom ersten Georginenbusch heraus und will – wirklich und wahrhaftig, so sah's aus! – mit dem Stock Herrn von Heesemann zu Fell. Der Herr von Seekamp und der Herr von Tielen springen zu, nehmen ihm den Pfahl weg und stecken ihn wieder 96 an seinen Ort. Die Herren können sehen, er steckt noch ganz lose. Indem geht Herr von Heesemann als erster durch die Sperre, steigt in die erste Klasse. Herr von Ilefeld spricht kein Wort, steht und beißt sich die Lippe, während die anderen zwei auf ihn einreden. Im letzten Augenblick ist er dann in ein Abteil zweiter Klasse gestiegen, obgleich er auch eine Fahrkarte für die erste hatte.«

»Das ist allerdings eine seltsame Geschichte, Herr Stationsvorsteher,« sagte der Staatsanwalt.

»Die uns aber der Entdeckung des Mörders schwerlich näher bringt,« brummte Olten.

»Bitte, wir haben uns vorgenommen, kaltblütig und ohne Voreingenommenheit zu untersuchen.«

»Also schön.«

»Sagen Sie uns, Herr Stationsvorsteher, sind die Herren von Seekamp und von Tielen mit eingestiegen?«

»Nein, die reisten nach der Kieler Seite.«

»Wer fuhr außer Herrn von Heesemann und Herrn von Ilefeld noch im Wagen?«

»Soviel ich weiß, niemand.«

»In diesem Wagen waren also die beiden Herren allein?«

»Ja.«

»Und sonst?«

»Oh, die dritte Klasse war gesteckt voll, besonders von Scharndorf ab. Wissen Sie, die Versammlung von den Sozialdemokratschen war gerade aus. Zu der waren viele vom Lande hereingekommen, aus den Dörfern und auch von den Gütern.«

»War Herr von Heesemann bei diesen Leuten beliebt?«

97 »Das kann man nicht behaupten, Herr Amtsrichter. Der Herr von Heesemann hat ja viel Gemeinnütziges getan, Anstalten gegründet und Kassen und Konsumvereine. Aber ich glaube, die Leute hier konnten sich in sein Wesen nicht finden. Bei dem Herrn von Ilefeld ist's umgekehrt. Der hat die jämmerlichsten Katen im ganzen Land und seiner Tage keine Wohltätigkeitsanstalt gegründet. Dabei hab' ich noch keinen gehört – auch den rötesten nicht – der den Herrn nicht leiden mochte.«

»Erinnern Sie sich der Personen, die an dem Abend in der dritten Klasse fuhren?«

»Einiger würde ich mich erinnern, wenn ich genau nachdenke. Auch der Zugführer wird einige wissen.«

»Bitte, fertigen Sie uns ein Namensverzeichnis an, soweit Sie sich mit Bestimmtheit besinnen. – Wissen Sie, bis wohin Herr von Ilefeld fuhr?«

»Er hatte Fahrkarte nach Föhrde. Das ist die Station für Ravenhorst.«

»Also die dritte Station von hier. Scharndorf, Altenhagen, dann kommt Föhrde. Wissen Sie, von wo er kam?«

»Jawohl, Herr Staatsanwalt. Er hatte Rückfahrkarte Föhrde-Neudorf.«

»Er war also auf dem Hinweg über Scharndorf hinaus bis zur nächsten Station nach der Kieler Seite gefahren, stieg aber nicht in Neudorf wieder ein, sondern erst in Scharndorf.«

»So ist es, Herr Amtsrichter.«

»Hatte er den Weg von Neudorf nach Scharndorf wohl zu Fuß gemacht?«

98 »Das mag gern sein. Seine Stiefel waren bis an die Knie mit Lehm bespritzt.«

»Fuhr er öfters nach Neudorf?«

»Seit er auf Ravenhorst sitzt, war's das erstemal.«

»Haben Sie eine Vermutung, was Herr von Ilefeld in Neudorf suchte?«

»Nein, Herr Amtsrichter. Das Gut Seebergen liegt ja man eine kleine halbe Stunde von Neudorf. Aber wenn die Ravenhorster zu Besuch fuhren, denn taten sie das immer mit Gespann.«

Der Polizeileutnant räusperte sich ungeduldig. Brockmann brach das Verhör ab.

Der Zugführer, der Schaffner wurden noch gerufen. Sie hatten von Scharndorf bis Eckernförde fast beständig im Dienstraum gesessen. Eine verdächtige Persönlichkeit im Zug war ihnen nicht aufgefallen. Sie hatten niemand im Innern der Wagen schleichen sehen und niemand außen auf den Trittbrettern, auch während der Fahrt keine Tür öffnen und schließen hören.

Olten drängte, daß man bei Tageslicht die Strecke absuche, wo die Leiche gelegen hatte, die ganze Strecke Scharndorf–Altenhagen.

»Ich möchte vor allen Dingen wissen, wo Herrn von Heesemanns Hut geblieben ist. Bei der Leiche lag er nicht. Im Zug war er auch nicht. Der Hut könnte uns am Ende Wissenswertes erzählen.«

Bei der Unglücksstelle hielt der Gendarm noch Wache und scheuchte die Neugierigen vom Bahnkörper. Seit der Auffindung der Leiche hatte der Regen nachgelassen. Ihr Abdruck blieb fest im Baden eingeprägt. Und ebenso scharf umrissen stand die Spur des Streckenwärters im lehmigen Boden. Zwischen den Schwellen 99 liefen die Spuren der Männer, die die Leiche aufgehoben hatten, die Spuren der Untersuchungskommission wirr durcheinander. Vorsichtig von Schwelle zu Schwelle tretend, ging Olten nach Altenhagen zu. Nach kaum zwanzig Schritten hörten die vielen Spuren auf. Eine einzige lief weiter, in großen Zwischenräumen, immer zwischen den Schienen, eigentlich keine Spur, nur eine Kette stumpfer Eindrücke. Der hier gegangen war, mußte mit Bedacht die Holzschwellen als Stützpunkt für seine Füße gewählt haben. Aber in der Dunkelheit und im Unwetter war er ab und zu abgeglitten und hatte neben der Schwelle im weichen Boden den Eindruck von einer breiten, groben Schuhspitze hinterlassen. Wohl vierhundert Schritte weit liefen in unregelmäßigen Zwischenräumen diese stumpfen Abdrücke, dann hörten sie plötzlich auf. Aber fünf Schritte weiter sah Olten neben den Schienen den Abdruck eines vollständigen plumpen Schuhes und noch einen, und dann verliefen die Tappen im gelben Gras des schmalen Wiesenstreifens, der sich zwischen dem Schienenstrang und den Waldungen von Horste hinzog. Olten nahm sein Notizbuch aus der Tasche, maß und zeichnete die Spur. Dann kehrte er, immer vorsichtig zwischen den Schienen schreitend, zu dem Amtsrichter und dem Staatsanwalt zurück.

Die hatten inzwischen den Wiesenstreifen vor dem Waldrand abgesucht. Den Hut hatten sie nicht gefunden, wohl aber, in den Ranken eines Brombeerstrauches hängend, ein Portemonnaie. Es war noch neu, von feinem Leder, groß, schwarz, mit verschiedenen Taschen. Auf dem Verschluß trug es ein silbernes H mit einer fünfzackigen Krone darüber. Kein Zweifel, 100 es hatte Max von Heesemann gehört, und es war leer. Während die Brieftasche von Bankscheinen strotzte, enthielt das Portemonnaie nichts, nicht einen Nickel, nicht eine Kupfermünze, nicht einen Papierschnitzel – gar nichts.

»Dies leere Portemonnaie gibt dem Fall ein ganz anderes Gesicht, meine Herren,« sagte Olten, »und läßt einen Raubmord nicht ausgeschlossen scheinen. Soviel ich weiß, pflegte Heesemann sogar sehr reichlich Münze bei sich zu tragen. Die Strecke fängt an, mir zu gefallen. Wir wollen doch noch ein bißchen weiter nach Altenhagen gehen.«

Als sie zu dem Fleck kamen, wo die Fußspur abbog ins Wiesengras, versuchten sie, ihr zu folgen. Aber das Gras stand gleichmäßig naß und gelb. Sie fanden die Stelle nicht, an der die schweren Schuhe in den Wald eingebogen waren. Da kehrten sie zum Bahnkörper zurück. Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie hart am Schienenstrang einen braunen, steifen Filzhut fanden. Heesemanns Visitenkarte klebte darin. Der Hut zeigte weder Blutspur noch Eindruck. Unmöglich konnte Heesemann ihn auf dem Kopf getragen haben, als er den tödlichen Streich empfing.

»Bis hierher hat der Mörder jedenfalls noch im Zug gesessen,« sagte Olten. »Hier erst hat er den Hut hinausgeworfen, dem Körper nach. Es würde mich interessieren, ob er die Ruhe hatte, bis zur Station sitzenzubleiben.«

»Gesetzt den Fall, er wäre im Fahren abgesprungen, was ich kaum für möglich halte,« antwortete Brockmann, »so werden wir doch die Stelle nicht finden. Bedenken Sie, der Regen hat erst zwischen neun und 101 zehn Uhr aufgehört. Zur Zeit des Mordes und wohl anderthalb Stunden nachher war ein Unwetter, das selbst eine so starke Spur, wie sie ein aus dem Zuge springender Mensch hinterläßt, wegwaschen mußte. Was immer wir von Spuren finden, stammt aus der Zeit nach dem Mord.«

»Ja,« brummte Olten, »und hier kommt jetzt so eine verdammte Holzbrücke. Wenn der Mörder klug war – und nach allem Anschein haben wir es mit keinem Dummkopf zu tun – so wird er seinen Abstieg auf den Holzplanken besorgt haben, falls er nicht bis Altenhagen oder gar bis Flensburg sitzengeblieben ist.«

Er folgte trotzdem noch eigensinnig dem Schienenstrang, der hier eine ziemlich scharfe Kurve machte. Aber nun trat der Graswuchs so dicht an die Gleise, daß während mehrerer Minuten wohl zehn Menschen hätten vom Zug abspringen können, ohne eine Spur zu hinterlassen. Da gab er die Untersuchung auf. Die Hände in den Taschen, ärgerlich vor sich hinpfeifend, schlenderte er den Weg zurück. Die Herren waren schon nahe an ihrem Ausgangspunkt angelangt, als er verdrießlich anhob:

»Sie haben ganz recht, Brockmann. Erst nach neun Uhr hat der Boden Fußspuren festgehalten. Also können die interessanten Klumpschuhe auch erst nach neun Uhr zwischen den Schwellen herumgewandelt sein. Wenn ich aber schon nicht herausbekommen kann, wohin sie gegangen sind, so möchte ich doch gern wissen, woher sie kamen.«

Mit großer Sorgfalt mühte er sich, die Spur nach der anderen Seite hin festzustellen; aber von der 102 Fundstelle des Leichnams bis zur Station Scharndorf war der Boden neben den Schienen und zwischen den Schienen von Hunderten von Schuhen zertreten. Unmöglich, in dem Gewirr die Abdrücke eines einzelnen herauszufinden. Und rechts und links vom Bahnkörper zog sich unabsehbar der herbstlich gelbe, nasse Grasstreifen, der nichts erzählte. 103



 << zurück weiter >>