Luise Westkirch
Der Todfeind
Luise Westkirch

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Erstes Kapitel

Bei Seekamps auf Hohorst war Jagd, keine von den großen, nur ein einfaches Treiben auf Hasen. Es kam doch eine stattliche Anzahl von Gästen zusammen, denn die Seekamps saßen seit Jahrhunderten im Lande und waren fast mit allen Familien verschwägert.

In der offenen Tür der Vorhalle stand der Hausherr, ein feiner, alter Herr mit kahlem Schädel und mächtigem weißem Schnurrbart, und bewillkommnete, unterstützt von Sohn und Schwiegersohn, die Geladenen, die zu Wagen und zu Pferd einer nach dem andern anlangten, angeregt, lärmend, lauter Leute, die einander von Kindesbeinen an kannten.

Von den Fenstern des oberen Geschosses aus beobachteten die Damen der Familie die Auffahrt, Frau Mathilde von Seekamp, einen schwarzen Spitzenschal auf dem weißen Scheitel, ihre verheiratete Tochter Gertrud von Polzin und die rassig dürre Grete, die Frau des jungen Seekamp, den sein Vater, bis er Hohorst übernähme, auf dem großen Hof Annenhof ansässig gemacht hatte. Grete war im Jagdkleid. Wenn ihre Schwiegermutter nicht zugab, daß sie an der Jagd teilnahm, zum Frühstück würde sie jedenfalls hinausfahren. Den Damen leistete Pastor Roßmüller 6 Gesellschaft, der Seelenfreund der alten Frau von Seekamp, den der Ruf Gottes in seinem Herzen von seiner stillen Pfarre getrieben hatte, daß er, von Ort zu Ort wandernd, mit seiner großen Beredsamkeit Seelen tröste und bekehre.

Drunten in der Halle beschattete jetzt Botho von Seekamp die Augen mit der Hand, um ein auf den Hof einbiegendes Gespann besser sehen zu können. Dann zog er eine Grimasse, und mitten in der Begrüßung neu ankommender Gäste brummte er seinem Vater ins Ohr:

»Du, Papa, das ist ja Braker Gespann. Hast du den infamen Kerl, den Heesemann, denn auch eingeladen?«

Herr von Seekamp runzelte die Stirn. »Heesemann ist unser Nachbar; er hat die Anna Ramin zur Frau. Im ganzen Land wird er geladen.«

»Hör' du mal Karlchen Tielen über ihn reden; der kennt ihn von seinem Jagdausflug in Afrika her.«

»Geschwätz!«

»Und was man sich in Hamburg über ihn erzählt?«

»Klatsch!«

Wenn Herr von Seekamp seine Meinung in Einsilbern ausdrückte, war nicht daran zu rütteln. Botho steckte die Hände in die Taschen seiner Jagdjoppe und musterte mit impertinent zusammengekniffenen Augen den vorfahrenden Wagen.

Es war eine außergewöhnlich elegante, niedrige Halbchaise mit breitem Schutzleder über den Rädern und ohne Schlag; die Pferde, die der glattrasierte Kutscher mitten im Traben zwang, haarscharf vor der 7 Haustür stillzustehen, waren schwere Karossiers, protzig schön unter dem Silber des Geschirrs, das im Morgenlicht auf ihren schwarzen Fellen gleißte.

Der Mann, der ausstieg, war von schwerem Schlag, wie seine Gäule, mit vollen Lippen und tief herabhängenden Lidern über grauen Augen, die sich nur langsam in ihren Höhlen drehten, deren Blick aber unentrinnbar festhielt, wenn er eine Sache oder einen Menschen einmal aufs Korn genommen hatte. Übrigens ein schöner Mann, von sehr gerader Haltung, in korrektem Jagdkostüm. Das dunkle Haar, der fast schwarze Spitzbart gaben seinem Gesicht etwas Bestimmtes, Gebietendes trotz der Verschwommenheit der Züge. Selbst im Kreis dieser Männer, die sämtlich ihr Herrentum in ihrem Äußern deutlich zur Schau trugen, wirkte sein breitspuriges Selbstbewußtsein. Er war ein Neuer und mußte um seine Stellung kämpfen. Das Schwerste hatte sein Vater schon getan. Der hatte spekuliert und gespart, war von kleinen Geschäften zu großen Unternehmungen vorgedrungen, und eines Tages, als er ein paar Millionen beisammen hatte, kaufte er das Gut Brake von den gänzlich verschuldeten Besitzern. Darauf setzte er sich zur Ruhe in der Einsamkeit aller Eindringlinge. Fuß zu fassen in der neuen Umgebung, überließ er seinem Sohn. Der tat sein Bestes. Er wählte seine Frau aus einer der ältesten Familien des Landes und kandidierte für den Reichstag.

Der alte Herr von Seekamp begrüßte Heesemann mit ausgesuchter Höflichkeit, mit etwas feierlicherer Höflichkeit vielleicht als die Häupter der alteingesessenen Familien. Dann half er Frau von Heesemann 8 aussteigen. Sie war eine dunkle Schönheit von prachtvoller Gestalt, mit großen, braunen Augen in einem ursprünglich vollen und blühenden Gesicht; aber die Wangen waren schmal geworden und das Rot von ihnen geblichen. Mit müder Bewegung streifte sie den langen Fahrmantel von ihren Schultern.

»Wie freuen wir uns, Sie endlich einmal wieder bei uns zu haben, liebe Frau von Heesemann! Kind, wie geht es denn nun?«

Mit warmer Herzlichkeit blickte er auf die blasse, junge Frau, die er schon im Steckkissen gekannt hatte – damals, als der lebensfrohe Rittmeister von Ramin seinen Urlaub auf dem väterlichen Gut Ramin zuzubringen pflegte. Er starb früh. Seine Waise kam zu den alten Ramins, denen sie ein paar unruhige Jahre schuf, während sie als Stern und Mittelpunkt aller Feste im Lande glänzte, umschwärmt und umworben von den Offizieren der Marine wie des Landheeres, von den ledigen Söhnen der grundbesitzenden Familien – bis sie zur Verwunderung ihrer Standesgenossen vor drei Jahren plötzlich Max Heesemann aus Brake ihr Jawort gab. Nach 2½ Jahren war ein Sohn geboren worden. Die Mutter kämpfte wochenlang mit dem Tode. Als sie wieder aufstand, hatte das stille blasse Bübchen sich die Welt genügend betrachtet, um sich eilig daraus in das kostbare Mausoleum zurückzuziehen, das Max Heesemann für seinen Vater, den Gründer der Familie, hatte bauen lassen.

»Ihrer liebenswürdigen Aufforderung nachkommend,« antwortete für Anna mit steifer Würde der Braker, »bringe ich meine Frau mit, Herr von Seekamp. Es ist heute ihr erster Ausgang nach unserem 9 schweren Verlust und eigentlich ja weder ratsam für ihre Gesundheit noch besonders passend, daß er gerade zu einer Jagd stattfindet. Aber sie bestand darauf.«

»Ja, ich wollte kommen,« sagte Anna. Ein dumpfer Trotz klang in ihrer tiefen Stimme.

»Sie haben uns allen eine große Freude damit gemacht,« versicherte Herr von Seekamp. »Meine Frau und meine Töchter werden stolz darauf sein, daß es Sie in unser Haus zuerst zog.«

Anna sah ihn dankbar an und dann mit dunklem Blick die altväterische Diele, wo Rehkronen und Hirschgeweihe die Tapete bedeckten und braune Eichenschränke an den Wänden standen, unverrückt seit hundert Jahren. Auf Brake war jedes Stück neu wie in einem Möbelladen. Wenn Frau Anna ihren Mann ärgern wollte, pflegte sie alle Fenster aufzureißen unter dem Vorgeben, daß sie den Geruch des Lacks und des frischen Holzes im Hause nicht ertragen könne.

Botho von Seekamp sah ihr nach, wie sie langsam die Treppe hinaufstieg. »Eine Prachtfrau, die Anna Ramin,« sagte er leise zu seinem Schwager, der neben ihm stand. »Ganz großer Stil. Nur ein einziges Mal ist sie aus ihrer Natur herausgefallen – damals, als sie Frau Heesemann wurde.«

»Der Mann hat 'ne hübsche Vergoldung, und Brake ist keine üble Klitsche,« antwortete Polzin kühl. Er hatte nichts übrig für Frauen, die vor der Hochzeit wie alte Buchhalter rechnen und nach der Hochzeit sich auf ethische und ästhetische Forderungen besinnen. Und er sprang gleich auf einen andern Gegenstand über. »Gestern hab' ich den Ilefeld getroffen. Der Gehrock steht ihm noch ein bißchen fremdartig. 10 Kateridee übrigens, die Uniform auszuziehen, um die Bewirtschaftung von Ravenhorst erst noch zu übernehmen, wo doch der alte Herr und er selbst um die Wette dafür gesorgt haben, daß er das Gut kein Jahr mehr halten kann.«

»Wer weiß! Ilefeld erzählt aller Welt, daß der neue Kanal durch Ravenhorst gehen wird. Geschieht das, ist er noch mal fein heraus.«

»Wenn der Erdball in Stücke fliegt, hofft Wolf Ilefeld, daß er im Mond auf ein Daunenbett fällt. Da ist er!«

Auf einem eleganten Selbstfahrer bog der Ravenhorster um die Scheunenecke. Der Diener lief, um ihm das Pferd zu halten. Er lief schneller als für die übrigen Herrschaften. Das war Wolf Ilefeld von Kindesbeinen an gewöhnt, daß er besser bedient wurde als andere. Vielleicht kam das, weil er von einer besonders langen Reihe von Ahnen her, die alle Herrenleute gewesen waren, das Befehlenkönnen sicherer im Blute trug als andere, vielleicht auch, weil seine stahlblauen Augen zuversichtlicher und fröhlicher in die Welt sahen als der meisten Menschen Augen, weil sein Lachen freier klang als der meisten Menschen Lachen, weil mans seiner ganzen kraftvollen und lebensfrohen Erscheinung ansah, daß er allen Lebendigen Gutes gönnte – sich selbst nicht am wenigsten.

Botho von Seekamp trat zu dem Aussteigenden.

»Neuer Gaul, was? Famos in Form.«

»Nee doch! Kennst du die Liese nicht mehr? Die mocht' ich nicht weggeben.«

»Mit allem andern bist du durch. Ich hab' die Abschiedsbewilligung im Kreisblatt gelesen. Gefällt's Dir denn nun auf Deiner Scholle?«

11 Ilefeld wurde rot und schüttelte den Kopf. »Mein alter Herr fehlt.« Das Wasser schoß ihm in die Augen bei dem Gedanken an seinen vor vier Monaten gestorbenen Vater. Beschämt über die weiche Regung fuhr er hastig fort: »Herr Gott, war das sonst fidel wenn ich auf Urlaub heimkam! Jetzt ist's wie im Grab.«

»Auf dem Lande muß man verheiratet sein,« stellte der junge Seekamp fest.

Ilefeld machte eine abwehrende Handbewegung.

Da dachte Botho an eine alte Geschichte, und daß sein Vater wirklich besser getan hätte, Heesemanns zu Haus zu lassen, wenn Ilefeld kam. Freilich, wenn Wolf, der drei Jahre lang Kommandos in Schlesien gehabt hatte, nun dauernd im Lande blieb, so war ein Zusammentreffen doch nicht zu vermeiden.

Der Jäger trat zu Herrn von Seekamp und meldete, daß die Treiber auf ihren Posten seien, und daß die Jagd beginnen könne. Mitten im Gewühl der eilig herandrängenden Nachzügler erfolgte der Aufbruch.

In Frau von Seekamps Zimmer waren die Damen vom Fenster zurückgetreten, um Anna zu begrüßen. Ganz besonders herzlich begrüßten sie sie. Alle dachten an das tote Bübchen. Gertrud von Polzin, die zwei blühende Kinder zu Haus hatte, kehrte sich das Herz um beim Anblick der verwaisten Mutter. Pastor Roßmüller wollte gerade beginnen, von Gottes unerforschlichen Ratschlüssen zu reden, als die energische Grete Seekamp ihm das Wort abschnitt.

»Ich fahre nachher raus, Anna, und sehe zu, daß die Herren ihr Frühstück richtig kriegen. Beim Bauer 12 Martens in Kolbe soll's gegessen werden. Kommst du mit?«

»Warum nicht!« antwortete Frau von Heesemann langsam.

Sie hatte der alten Dame die Hand geküßt. Nun saß sie ihr gegenüber auf einem niedrigen Sessel, sprach jetzt hastig und lebhaft, mit glühenden Wangen, mit glänzenden Augen, dann wieder verstummte sie jäh, während der Glanz aus ihren Augen und die Farbe von ihren Wangen blich.

Die tatenlustige Grete beschloß, einmal geradeheraus mit ihr zu reden, wenn sie sie allein hätte.

Um zehn Uhr fuhr das zweisitzige Korbwägelchen für die Damen vor. Ein großer Bauernwagen, beladen mit kräftigen Gerichten, die beim Bauer Martens gewärmt werden sollten, war unter Obhut des Dieners vorausgeschickt worden. Die Luft stand naß und still. Nebelschwaden hingen zwischen den gelben Wipfeln der hohen Buchen. Triefend von Feuchtigkeit leuchteten die roten Brombeerblätter an den Knicken. Ein schwermütiger Oktobertag. Kein Vogelruf mehr in den Zweigen, nur das ferne Knallen der Flintenschüsse. Grete führte die Zügel.

»Ich bin schon einmal auf einer Jagd mit dir zusammengewesen, Anna,« begann sie, »weißt du noch? Vor dreieinhalb Jahren, als ich auf Seebergen zu Besuch war und zuerst merkte, daß Botho Seekamp mich haben wollte, weil er grün anlief vor Liebe. Damals hab' ich gemeint, solchen wie uns beiden könne gar kein Ding in der Welt über den Kopf wachsen.«

»Seitdem haben wir uns verheiratet,« antwortete Anna.

13 »Ja,« sagte Grete. »In der Ehe erlebt wohl jede was. Wenn mein Botho auch erst grün wurde vor Liebe, er kam bald auf seine natürliche Couleur zurück – und die ist nicht immer lieblich. Räsonieren kann er und krakeelen, besonders, wenn er was im Kopf hat.«

»Mein Mann bleibt immer nüchtern,« versicherte Anna.

»Ein bißchen liegt's auch in den Verhältnissen,« entschuldigte Grete. »Papa hält uns wirklich reichlich knapp und meinem guten Botho rinnt das Geld durch die Finger wie Sand.«

»Mein Mann kann's gut festhalten.«

»Dann ist er natürlich schlechter Laune und weiß selbst nicht, was er will.«

»Das weiß Heesemann immer.«

»Und dann das Spiel! Einmal sind wir in Kiel im Gasthof. Ich geh zu Bett. Botho will noch ein Glas Bier trinken, sagt er. Als er wieder zu mir heraufkommt, hat er viertausend Mark verjeut. Ich hab' ihm ins Gesicht gehauen vor Wut. Da hat er sich natürlich denn auch vergessen.«

»Mein Mann vergißt sich nie.«

»Nun hab' ich's ja gelernt, ihn zu nehmen. Und – willst du's glauben? – eigentlich hab ich das Scheusal furchtbar gern.«

Diesmal erfolgte keine Antwort. Frau Anna sah mit starren Augen auf den vorübergleitenden Knick.

»Ja,« fuhr Grete fort, »wenn dein Mann all diese kleinen Fehler gar nicht hat –«^

»Mein Mann hat keine kleinen Fehler.«

14 »Warum läßt du denn seit Jahr und Tag den Kopf hängen? Seit Jahr und Tag, nicht erst seit dem Tod deines Bübchens. Reiß' dich doch zusammen, in Gottes Namen! Ich meine, wenn man einen Menschen einmal so recht von Herzen lieb gehabt hat« –

Sie brach ab, von den Pferden erschrocken auf die Frau an ihrer Seite sehend. Die hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte ohne Maß und Scheu, wie nur die Verzweiflung schluchzt. Grete Seekamp war zumute wie einer, die ein Mäuschen zu scheuchen glaubt, und der unversehens eine Giftschlange entgegenfaucht.

»Anna – liebe Anna! Um Gottes willen, was ist's mit dir?«

Mühsam faßte sich die andere, stammelte, während unter rinnenden Tränen ihr Gesicht wie zu einer Maske erstarrte:

»Eine Unart meiner Nerven. Verzeih mir, Grete. Ich bin noch nicht gesund . . . .«

Bauer Martens hatte eine Fahne aus der Dachluke gehängt und Hofpforte und Haustür mit Tannenzweigen bekränzt. In seiner großen Stube stand die Tafel, mit Hohorstschem Leinenzeug und Geschirr gedeckt. Frau Martens und ein junges Mädchen halfen dem Diener die Erbssuppe mit den heißen Würstchen herumreichen.

Neben Botho von Seekamp saß sein Schulkamerad Karl von Tielen. Auf der Schulbank hatte Botho die dummen Streiche gemacht und Karlchen die guten Zensuren eingeheimst. Im Leben machte Botho auch dumme Streiche, aber Karlchen machte dümmere. Sie 15 hatten ihn aus der Leutnantsuniform auf ein Schiffsdeck gebracht, vom Schiff als Goldsucher nach Kalifornien, von Kalifornien als Farmer und Straußenzüchter nach Afrika, bis eine neue Umdrehung seines Glücksrades ihn zurückwarf auf das väterliche Gut, wo er, Eltern und Geschwistern ein nur halb willkommener Gast, darauf wartete, was weiter aus ihm werden würde.

An Bothos anderer Seite saß Polizeileutnant von Olten, ehemaliger schleswigscher Husar und Kamerad von Ilefeld. Schwänke hatten die beiden miteinander ausgeführt, die ewig fortleben in der Überlieferung des Regiments. Aber Olten hatte nicht wie Ilefeld einen alten Herrn, der die Schulden für ihn bezahlte. So hieß es für ihn bald dem Reiterleben Valet sagen. Er nahm in seinen neuen Beruf als gute Gabe einen angeborenen und durch Erfahrung geübten Instinkt mit hinüber für die Bewertung von Gäulen, Hindernissen und Menschen und die herzliche Freude an jeglicher Art von Jagd.

Danach kam Ilefeld mit seinem hochmütigen Herrengesicht, Wangen und Nacken rot gegerbt von Sonne und Wind, die Stirn leuchtend in grellem Weiß.

Am oberen Ende des Tisches saß der alte Herr von Seekamp. Er hatte Heesemann an seiner Seite behalten, weil er wußte, daß sich in diesem Kreise manche geheime Feindschaft gegen ihn barg. An seiner anderen Seite saß ein alter Herr mit kupfrigem Gesicht und einer Nase, die in der Herbstluft blau angelaufen war. Helle, kleine Augen sahen traurig über diese Nase weg. Bis vor sechs Jahren hatte Detlef 16 von Krastel auf seinem eigenen Gütchen gesessen, ein Junggeselle voller Schrullen, der einen guten Trunk liebte, Neuerungen haßte, seine Bücher liederlich führte, Briefe uneröffnet manchmal wochenlang auf seinem Schreibtisch liegen ließ. Eines Tages war ihm das Gut über den Kopf weg zwangsweise versteigert worden. Ein Hamburger Kaufmann hatte es erworben, aber schon im nächsten Jahr an Heesemann verkauft, an dessen Ländereien es stieß. Krastel begriff von der ganzen Sache nur das eine, daß es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könne. Seitdem verwandte er die vierundzwanzig Feierstunden seines Tages darauf, den schlechten Menschen zu suchen, der ihn heimtückisch um das Seine gebracht hatte.

Die Unterhaltung war von den Jagdereignissen des Morgens rasch auf den Gegenstand übergesprungen, der augenblicklich alle Gemüter im Lande aufregte: den neuen Kanal. Jeder erhoffte etwas von diesem Kanal, die einen einen billigen Transportweg für Holz und Kohlen, andere raschere Absatzmöglichkeiten für ihre landwirtschaftlichen Produkte. Für einige, wie für Ilefeld, bedeutete er geradezu die Rettung. Noch hatte die Regierung die Linie nicht festgelegt. Man wartete auf die Bekanntmachung wie auf die Ziehungsliste einer Lotterie.

Heesemann redete gewichtige Worte.

»Er übt seinen Sprechanismus für den Reichstag,« höhnte Karlchen Tielen leise.

»Nach meinen Informationen, meine Herren – ich war kürzlich in Berlin, und ich habe ziemlich zuverlässige Verbindungen im Ministerium des Innern –«

17 »Den Hausknecht hat er bestochen,« kommentierte Tielen.

»Nach meinen Informationen muß ich befürchten, daß die von der Regierung gewählte Trace hier im Lande manche Enttäuschung hervorrufen wird. In Anbetracht der reichlich hohen Forderungen einiger Interessenten soll sich der Fiskus für eine Umgehungslinie entschieden haben, die trotz ihrer größeren Länge sich wohlfeiler stellt. Der Vorgang ist sehr bedauerlich.«

Dabei sah er schräg zu Ilefeld hinüber. Der löffelte unbewegt seine Erbssuppe.

»Durch Ravenhorst geht der Kanal doch; verlassen Sie sich darauf.«

Heesemann verneigte sich. »Ich wünsche es Ihnen von Herzen, Herr von Ilefeld. Leider muß ich wiederholen: die Aussichten sind gering.«

»Gott, ist der Kerl eklig!« murrte Tielen. Er sprach zu Botho. »Hast du übrigens unsere Begrüßung vorhin gesehen? ›Erfreuliches Wiedersehen, Herr von Tielen. Die Welt ist klein.‹ Dabei machte er den Arm schon krumm, wie 'nen Pinguinenflügel. Aber ich sah seine Pfote nicht.«

»Warum haben Sie eigentlich solch 'ne Wut auf ihn?« fragte Olten und klemmte sein Monokel ins Auge. »Ist ja nicht gerade mein Geschmack, aber doch ein ganz anständiger Mensch, der sein Eigentum gut verwaltet, auch für den Kreis was tut, für die Armen etcetera pp.«

»Ich hab' ihn in Afrika kennen gelernt,« antwortete Tielen, »tausend Meilen vom nächsten Schutzmann, wo der Mensch au naturel zwischen Elefanten und Niggern herumläuft. Im Leben werde ich nicht 18 mehr für einen gutsagen, bis ich ihn dort gesehen habe.«

»Was hat er denn da verbrochen?«

»Ich will mir's Maul nicht verbrennen,« wehrte Tielen melancholisch. »Ich bin Karlchen Tielen, den keiner für voll nimmt, der das Gold nicht findet, das er sucht, und dem die Straußvögel sein Kapital auffressen, aber keine Eier legen, und meine Zeugin liegt sechs Schuh unter der Erde und hatte 'ne schwarze Haut. Nur ein Niggerweib, wissen Sie, nicht so viel wert wie 'ne holsteinsche Kuh. Aber« – ein grünlicher Schimmer legte sich auf das vom Fieber gebleichte Gesicht des aus den Tropen Heimgekehrten – »wenn ich dem Vieh dort mal an die Kehle kann, mach' ich die Rechnung glatt, ich, Karlchen Tielen!«

»Pratsch doch nicht,« sagte Botho ärgerlich. »Du schießt ja nicht einmal die Hasen, die fünf Schritt vor Dir Männchen machen.«

»Auf Hasen schieß ich nur, wenn ich sofort tödlich treffe, das ist wahr, denn die angeschossenen weinen wie Kinder. Aber so 'n geschwollenen Tintenfisch aus der Welt ausmerzen –«

»Schluß!« Botho schlug mit der Hand auf den Tisch.

In diesem Augenblick flog die Tür auf. Die Damen traten ein. Grete hatte die Pferde eine Weile anhalten müssen, damit Anna Zeit gewänne, sich zu fassen.

Die Jäger sprangen auf. Man rückte zusammen, um an der dichtbesetzten Tafel noch zwei Plätze frei zu bekommen, während Frau Martens nach Stühlen lief. In dem fröhlichen Durcheinanderwirbeln und -rufen unbeachtet, standen Anna Heesemann und Wolf 19 Ilefeld einander gegenüber. Ihr Gesicht schien fast weiß zwischen dem schwarzen Krepp ihres Hutes und dem schwarzen Pelz ihres Kragens. Ihm stieg eine Blutwelle langsam von den braunen Wangen in die helle Stirn, bis unter das Haar hinauf. Er hatte nicht gewußt, daß Heesemanns Frau mit zur Jagd gekommen war. Sie hatte nicht gewußt, daß sie bei Seekamps Wolf Ilefeld treffen würde. Unerwartet, unvorbereitet kam beiden dies Wiedersehen nach Jahren.

Nur Sekunden dauerte das starre Staunen. Die Plätze wurden wieder eingenommen. Anna saß neben dem alten Herrn von Seekamp. Grete rückte zu ihrem Mann.

»Ein paar Treiben sehe ich mir aber mit an, Langer, hörst du? Du nimmst mich nachher mit auf deinen Stand.«

Sie wollte wissen, wie die Jagd bis jetzt verlaufen war. Dazwischen sorgte sie eifrig für die rasche und gerechte Verteilung der belegten Butterbrote und der hartgekochten Eier. Alle waren eilig. Der Nebel wurde dichter und die besten Treiben standen noch aus.

Beim Aufbruch blieb Grete an ihres Mannes Seite. »Du, Schatz, gelt, deine Flinte, die leihst du mir mal, ja? Du kommst heute noch oft genug zum Schuß. Einen oder zwei Krumme überläßt du mir, ja? Bitte!«

Sie dachte an nichts als an die Jagd. Anna hielt sich dicht bei ihr, in heißer Sorge, sie zu verlieren. Grete und der Wagen, das waren für sie die einzigen Möglichkeiten, von hier wegzukommen. Und weg wollte 20 sie, so bald wie möglich, so weit wie möglich, nur ohne Aufsehen.

Die beiden Seekamps liefen hin und her, wiesen jedem Schützen seinen Platz. Und unversehens schwenkte Botho mit seiner Frau hinter einen Knick. Auf dem Feldweg zwischen den Hecken blieb Anna allein, im Jagdeifer von allen vergessen.

Sie wandte sich, um zu Bauer Martens zurückzugehen; aber der Nebel verwirrte sie. War sie von dieser Seite gekommen? Vielleicht, wenn sie die Ackerfurche dort entlang ging, gelangte sie in Sicherheit, bevor das Treiben begann. Sie hatte kaum ein paar rasche Schritte getan, als schon die ersten Schüsse fielen. Dicht vor ihr blitzten die Feuergarben aus dem Nebel. Ein flüchtender Hase streifte sie. Unsicher blieb sie stehen. Da sprang jemand vor.

»Gnädige Frau – um Gottes willen!«

Ein Arm riß sie seitwärts in die Deckung eines Knicks. Von den Haselbüschen auf dem Kamm tropfte die Nässe, seitwärts stand der Wald dicht wie eine Mauer, junge Buchen, die ängstlich ihr braun gewordenes Laub festhielten. Auf der Koppel braute der immer dichter werdende Nebel, aus dem in kurzen Zwischenräumen die Schüsse knallten. In dem weißen Gewoge, das sie abschnitt von der Welt, standen Anna und Wolf Ilefeld einander gegenüber. Er ließ sie los.

»Bitte um Entschuldigung. Gnädige Frau liefen gerade in die Schützenlinie.«

»Ich danke Ihnen. Und wie muß ich gehen, um nach Kolbe zu kommen?«

»Ohne Lebensgefahr können Sie sich nicht vom Platze rühren, bis das Treiben vorüber ist.«

21 Trotz kam über sie.

»Es ist nicht meine Schuld,« sagte Ilefeld entschuldigend.

»Nicht Ihre Schuld und nicht meine, Herr von Ilefeld. Aber vielleicht ist es gut, wie es ist. Vor Jahren ist das letzte zwischen uns nicht gesagt worden. Und wenn zwei Menschen zueinander gestanden haben, wie wir beide, so sollten sie einander volle Wahrheit geben, im guten wie im bösen. Ich habe seitdem oft gefürchtet, von Ihnen nicht richtig verstanden worden zu sein.« Sie sprach leise, um das Wild nicht zu verscheuchen.

»Ihre Handlungsweise war wohl nicht schwer zu verstehen, gnädige Frau.« Auch er flüsterte. Die Blutwelle stieg wieder unter seiner hellen Haut empor. »Ich bin nicht so eingebildet, um meinen Unwert nicht klar zu begreifen. Ein einfacher Leutnant mit einer tiefverschuldeten Klitsche und gar keinen Erwerbstalenten! Wenn man dagegen abwägt, was Ihr Herr Gemahl Ihnen bieten konnte –«

Sie unterbrach ihn heftig: »Nie hab' ich abgewogen, was Sie oder er mir bieten konnten! Sie selbst und ihn hab' ich abgewogen, Mensch gegen Mensch.«

»Und mich zu leicht befunden?« Hochmütig spöttisch sah er ihr ins Gesicht. »Nun, es kommt allzeit auf die Wage an.«

Sie starrte, während sie weiter sprach, als hätte sie seine Worte nicht gehört, an ihm vorüber in den Nebel, und ihre Stimme zitterte. »An dem Tag, als wir uns miteinander ausgesprochen hatten unter den alten Buchen von Ramin« –

22 »Dem Tag unserer Verlobung« . . . .

»Ja, dem Tag unserer Verlobung. Damals, als ich vor dem Bild meiner toten Mutter auf den Knien lag, wie vor einem Altar, ihr mein Glück stammelte, da – da ritten Sie zurück nach Schleswig, in Ihre Garnison – und feierten mit Kameraden – sehr laut – sehr ausgelassen – sehr ausgiebig. Die aufgehende Sonne fand Sie noch am Kartentisch. Zwanzigtausend Mark haben Sie in dieser Nacht verspielt, und Freunde – haben Sie heimgeleitet.«

Er senkte den Kopf. »Ich war verrückt vor Glück.« . . .

Sie lachte. Es klang wie ein Schluchzen. »Ich hab's anders begriffen. Am Tage darauf führte Großpapa mich nach Brake. Wir fanden Heesemann über seinen Büchern. Das Gut war eine Musterwirtschaft, jede Kate ein Landhäuschen. ›Man hat Verantwortung seinen Leuten gegenüber‹, antwortete Heesemann auf Großpapas bewunderndes Lob. Das traf mich ins Herz. Verstehen Sie? Verantwortung! Mir graute davor, mein Leben einem Leichtsinnigen anzuvertrauen – einem Menschen ohne Verantwortungsgefühl.«

»So hätte an jenem Abend das Glück meines Lebens als Einsatz auf dem Tisch gestanden, und ich hätte es verspielt? Nein, gnädige Frau, täuschen Sie sich nicht selbst. Man kann Haus und Hof verspielen – Liebe, wirkliche Liebe nie! Die hofft, die zögert. Sie waren sofort entschlossen.«

»Empörung ist rasch. In der Stunde, als ich von glaubwürdigen Zeugen erfuhr, auf was für eine Art Sie den Abend nach unserer Aussprache – den 23 Abend nach diesem Tag! – verbracht hatten, waren Sie mir gestorben.«

»Weil meine Freude in ihrem Überschwang Maß und Ziel verlor, darum warfen Sie mich zu den Toten? Darum?«

»Weil Sie eine ernste Sache nicht ernst empfinden konnten. Ich hab's früh erkennen müssen, daß alles in der Welt wankt und gleitet. Auf den Mann meiner Wahl wenigstens sollte Verlaß sein. Der durfte kein Leichtsinniger sein. Ich glaubte nicht mehr an Sie.«

Er stand einen Augenblick stumm. Nur das Klatschen der fallenden Tropfen war zu hören, das Knallen der Schüsse war verstummt.

Mühsam sprach er endlich: »Sie haben mir sehr bittere Dinge gesagt, gnädige Frau, und ich könnte mancherlei darauf erwidern, könnte von meinen Gefühlen sprechen bei der plötzlichen, unerklärlichen Umwandlung Ihres Entschlusses, von Gefühlen, die vielleicht gewaltiger waren, als Sie ermessen. Doch wozu heut noch darüber reden? Sie sind Heesemanns Frau. Nur das eine sagen Sie mir – für all das Leid, das Sie mir angetan haben: Sind Sie wenigstens glücklich?«

Sie antwortete nicht.

Ein Hornsignal ertönte.

Ilefeld sprach hastig weiter: »Das Treiben ist aus. Gleich werden die Schützen sich hier zusammenfinden. Ehe sie kommen, Anna – um Gottes willen antworten Sie mir – sind Sie glücklich? Ich suche in Ihren Augen. Ich suche die alte Anna von Ramin. Die ist's nicht mehr. Ist's wenigstens eine Glückliche?«

24 Sie rang mit sich. Ein wilder Trotz zwang sie, ganz wahr zu sein in dieser Schicksalsstunde.

»Wolf Ilefeld, ich habe in den zwei Jahren meiner Ehe den Leichtsinn anbeten gelernt.«

»Anna!« . . .

Sie trat erschrocken zurück. »Nicht diesen Ton der Hoffnung! Was ich gesagt habe, das hab' ich gesagt Ihnen zur Genugtuung für das andere, das ich nicht verschweigen konnte. Anna von Ramin wird im Leben keinen Mann mehr lieben. Darum hat sie das Recht der Abgeschiedenen, wahr zu sein. Das letzte zwischen uns ist nun gesprochen. Leben Sie glücklich, Wolf Ilefeld.«

»Anna – Anna!« . . .

Ohne Rücksicht auf die näherkommende Jagdgesellschaft breitete er die Arme nach ihr aus.

Sie wandte den Kopf nicht mehr. Mit weiten Bewegungen glitt ihre schwarze Gestalt durch den Nebel. Die Wand der jungen Buchen schlang sie ein. Von der anderen Seite stampften schwere Schritte über die Schollen. Stimmen wurden laut.

»Ilefeld! Wieviele haben Sie? Nicht einen? Was? Sind Sie des Teufels? Nicht einen hat der Ilefeld geschossen! Ist so was erhört? Ich glaube, er hat geschlafen.«

Weiter ging die Jagd, Treiben auf Treiben, bis der immer dichter werdende Nebel ein Ende gebot.

Sobald die Jäger in den Gastzimmern ihren Anzug in Ordnung gebracht hatten, nahmen sie ihre Plätze im Eßsaal ein. Niedrig war der Saal und lang. Fünfzig Kerzen brannten auf der Kristallkrone, fast ebensoviel auf den Armleuchtern, spiegelten ihre 25 Flammen im Silber und Glas auf der Tafel und verklärten mit ihrem weichen Licht die Farben der Blumen, mit denen der Gärtner die Tafel geschmückt hatte. Urbehaglich war der Raum. Bald herrschte übermütige Heiterkeit. Zwar oben, wo die alten Herren saßen, besprach man zwischendurch Ernstes: Verordnungen der Regierung, Steuervorlagen, den Bau neuer Wege, vor allem den Kanal, die große Angelegenheit der ganzen Provinz. Heesemann hielt Vortrag. Obgleich nicht alt, wurde er immer zu den alten Herren gesetzt, um seines gediegenen Wissens, seiner Tatkraft willen.

Unten an der Tafel amüsierte sich die Jugend. Die eingefallenen Wangen rot von der herben Herbstluft und dem raschen Trunk, erzählte Karlchen Tielen Schnurren – die Geschichte von seinem Freund, dem Marinearzt, der, während sein Schiff im Hafen lag, einen schwarzen Inselkönig von schwerer Krankheit heilte und von dem in Gold und Edelsteinen prunkenden Neger nun etwa einen Diamanten als Dankessold erwartete, dem aber die gerettete Majestät vor versammeltem Hofstaat statt dessen feierlich eine dicke Milchkuh zuführen ließ. Und dann seine neueste:

»Als ich vor drei Wochen in Hamburg aus dem Cuxhavener Zug steige, wer ist die erste Person, die mir in Europa vor die Füße läuft?: Strauß – mein alter Freund Jonathan Strauß! Trägt noch ebenso 'n glatten Zylinder wie zu der Zeit, als ich ihm meinen ersten Wechsel unterschrieb, guckt noch grad' so schwermütig-pfiffig in die Welt, immer wie 'n kranker Papagei. Und eine Freud' hat er, mich zu sehen! Der Herr Baron von Tielen! Na ja! Gut sehen Sie aus. Wie's blühende Leben. Wer hat mir denn 26 erzählt, daß Sie Strauße züchteten in Afrika? So 'n Unsinn!«

»Ihnen zu dienen, Herr von Strauß, sag' ich. Ich komm' eben von dort. Mit den Straußen hab' ich aber kein Glück, Herr von Strauß, ob sie nun Federn tragen oder – keine Haare. Ich hab' kein Glück mit den Straußen.«

Die unten am Tisch bogen sich vor Lachen. Es saßen da manche, denen Jonathan Strauß beim Ausziehen ihrer Uniform behilflich gewesen war, und alle hatten ihm schon Wechsel unterschrieben.

»Das haben Sie dem Halunken gesagt?« jubelte der Polizeileutnant von Olten. »Und er? Und er?«

»Stockernst und höflich. Hat ihn je einer anders gesehen? Er seufzt. ›Ja, ja, Strauße züchten ist kein Geschäft.‹

»Freilich nicht – sag' ich – für unsereinen, der sich nicht auf das Rupfen versteht. Den dummen Ludern richtig die Federn ausreißen, darin liegt die Kunst. – Ihnen geht's noch immer gut, Herr von Strauß?«

Da zieht er das Maul schief. ›Sagen Sie das nicht, Herr Baron, sagen Sie das nicht. Ich bin ein geschlagener Mann, ein armer, alter, geschlagener Mann.‹ Und fort ist er.«

Der Jubel wurde so laut, daß Heesemann, in seinem Vortrag unterbrochen, den Kopf wandte. Man rief ihm die Erklärung zu: »Eine Geschichte vom alten Strauß in Hamburg!«

»Wissen möcht' ich nur,« sagte der junge Seekamp, »wo er die klotzig hohen Summen hernimmt, die er ausleiht. So viel Geld gibt's ja gar nicht in der Welt!«

27 Die Frage hatte sich schon jeder vorgelegt.

»Er hat stille Geschäftsteilhaber,« meinte der Polizeileutnant, »reiche Hintermänner.«

»Gentlemen, die gern das Geld aus dem Dreck auflesen, aber ungern die eigenen Hände dabei schmutzig machen,« glossierte Tielen.

Der von seinem Gut vertriebene alte Herr wachte auf. Über der blauroten Nase begannen die Äuglein zu funkeln.

»Die hat er – die hat er! Strauß selbst ist der Schlimmste nicht. Er hat mir's versichert, er hat mir's geschworen: sein Wille war's nicht. Er hätte mir die Zinsen gestundet, die Wechsel prolongiert. Aber da war einer, der hatte sich's vorgesetzt, mich aus meinem Eigentum fortzutreiben. Wenn ich den verdammten Schurken finden könnte! Das ging nämlich so zu.« . . .

Mit heiserer Stimme begann er die Geschichte seines Unglücks, eine lange, verworrene Geschichte, die jeder kannte. Einzig die gute, alte Frau von Seekamp hörte ihm zu.

Die oben am Tisch umringten Heesemann, der eine Goldmünze vorwies. »Mein Heckpfennig. Ich trage ihn beständig in meinem Portemonnaie. Selbstredend kann ich ihn nicht ausgeben, denn er gilt nicht. Aber ein Kuriosum, wahrscheinlich das einzige Stück seiner Art. Darum hänge ich dran und würde mich niemals davon trennen.«

Die Münze wanderte von Hand zu Hand. Es war ein Zehnmarkstück mit dem Bildnis Kaiser Friedrichs, scharf und gut ausgeprägt und für den flüchtigen Blick ohne Tadel. Aber das Ohr unter dem Haar fehlte. Lebhaft wurde Heesemann über die Art seiner Erlangung befragt.

28 Unterdessen saß Ilefeld unten am Tisch fast stumm. Während er Glas auf Glas leerte, sah er immer wieder verstohlen hinüber zu Anna, in Grimm und in Seligkeit. In Grimm, daß er der war, der er war, der Hüne mit dem zu weichen Herzen, der in herber Scham über seine Empfindsamkeit und in immerwährender Furcht, sie zu verraten, lachte, wenn ihm die Tränen in die Augen drängten, ein Spottwort sprach, wenn er hätte niederknien und beten mögen, der zum »tollen Ilefeld« geworden war, weil er nicht der »gefühlvolle« heißen wollte. Auch die große Liebe seines Lebens hatte er vertollt in dieser hilflosen Scham. Fluch war's, das zu wissen. Aber Seligkeit wirkten in ihm Annas letzte Worte: »Ich habe in den Jahren meiner Ehe den Leichtsinn anbeten gelernt.« Die waren ein Freispruch von aller Schuld! Die waren ein Pfand aller Hoffnung! Berückend schön war sie geworden in diesen drei Jahren! Seine Leidenschaft, die unter einer dicken Aschenschicht von Trotz sacht fortgeglimmt hatte, brach in lichten Flammen hervor.

Wie er behäbig dasaß, der Mann dieser Frau, im sicheren Besitz sich hegend! Er mochte sich hüten! Nicht der geschriebene Name auf dem Standesamt und nicht der goldene Fingerreif halten lebendiges Leben, das aus ihren Banden herausstrebt. Die Fessel hat noch kein Menschenwitz erfunden, die rücksichtsloser Wille nicht wie einen Strohhalm zerbrochen hätte. Er mochte sich hüten! Der tolle Ilefeld, der sein Leben einsetzte, um einen Gaul über eine hölzerne Schranke zu steuern, zwei Zoll höher als Schranken zu sein pflegen, schreckte auch vor den Schranken im Leben nicht zurück. Er mochte –

29 Krach! Der Stengel des Weinglases, das Wolf hielt, war ihm zwischen den Fingern zerbrochen.

Die Hausfrau hob die Tafel auf. Man ging hinüber in ihr Zimmer, um den Kaffee zu trinken. Sobald Herr von Seekamp Anna, die seine Tischdame gewesen war, freigab, trat ihr Mann zu ihr.

»Wo warst du während der Jagd?« fragte er in kaum verhehltem Ärger.

»Wenn du dich um deine Frau gekümmert hättest, dann wüßtest du's!« antwortete Anna gleichmütig.

»Es war durchaus unpassend, daß du zum Frühstück hinausfuhrst. Von Frau von Seekamp will ich nichts sagen. Die ist hier zu Haus, und die ist eine glückliche junge Frau. Du, du bist in Trauer. Immer wieder muß man dich daran erinnern!«

»Das ich keine glückliche Frau bin? – Das hast du nicht nötig!«

»Was heißt das?«

Sie machte eine müde, abwehrende Bewegung. »Laß doch.« Der Salon begann sich zu füllen.

»Gut,« sagte er hastig, »wir sprechen weiter davon. Nur das eine noch: nimm dich zusammen. Ich will nicht, daß man sich über mein Haus die Mäuler zerreißt. Ich will's nicht – verstehst du?«

Er beugte sich zu ihr und küßte sie auf den Mund. Mochten's alle, die hier vielleicht hofften, abgerissene Fäden neu zu knüpfen, sich merken: er war der Mann, und er war auf dem Posten.

Im Rahmen der Tür stand Ilefeld, sah die erregte Zwiesprache und sah den Kuß.

Frau von Seekamp trat jetzt zu dem Paar.

30 »Ihre liebe Frau scheint noch immer ein wenig angegriffen, Herr von Heesemann.«

»Meine Frau ist eigensinnig, gnädige Frau!« erwiderte er. »In einem Schwächezustand wie dem ihrigen unternimmt man keine Jagdausflüge. Sie hat durch ihre Unbedachtsamkeit zum großen Teil das Siechtum mitverschuldet, unter dem wir so schwer leiden.«

»Mein Mann gibt mir auch schuld an dem frühen Tode unseres Sohnes,« sagte Anna.

»Du gefällst dir in Übertreibungen, liebes Kind. In solch schroffer Weise hab' ich das nie behauptet. Bis zu einem gewissen Grade aber allerdings, ja. Ich bitte Sie, gnädige Frau, woher soll ein Kind die Kraft zum Leben nehmen, wenn seiner Mutter alle Lebenslust und alle Freudigkeit fehlen? Ist es nicht Pflicht einer Frau, um ihres Kindes willen ihre trüben Stimmungen zu beherrschen?«

Anna wandte sich ab. Ihre Augen standen voll Tränen.

»Ich glaube, Herr von Heesemann,« sagte Frau von Seekamp ernst, »wenn von Pflicht die Rede sein soll, so wäre die nächste wohl, eine junge Frau in schweren Leidenszeiten mit der allergrößten Zartheit und Schonung zu behandeln.«

Heesemann lachte gezwungen. »Ja, ja, die Damen geben einander immer recht gegen unsereinen. Schließlich haben wir Männer doch auch gewisse Wünsche, Hoffnungen, Empfindlichkeiten, für die wir Schonung von unseren Frauen verlangen können – wie?«

»Hören Sie doch,« murmelte Karl Tielen, »der 31 Hanswurst trägt's ihr wahrhaftig nach, daß das Geschlecht der Heesemänner vorläufig auf seinen zwei Kalbsaugen stehengeblieben ist.«

Er sprach zu Ilefeld. Aber Ilefeld antwortete nicht. Zweimal schon hatte Polzin vergeblich eine Frage wegen eines Pferdes an ihn gerichtet. Jetzt faßte er ihn am Arm.

»Wo sind Sie denn? Was träumen Sie?«

Ilefeld wandte sich um. «Haben Sie schon einmal das unüberwindliche Bedürfnis gefühlt, einem Kerl das Genick umzudrehen?«

»Nanu?« machte Polzin.

Karlchen Tielen lachte. »Blech! Hierzulande dreht keiner dem anderen das Genick um. »Dreidrähtiger Schuft!« denkt ihr – »Sehr geehrter Herr!« sagt ihr.«

Sehr rasch tranken die Jäger ihren Kaffee. Des Hausherrn Zimmer lockte mit Bier, Zigarren und Karten. Man spielte l'Hombre und Skat, aber hoch und mit kleinen Abänderungen, die aus den ehrbaren Unterhaltungsspielen Hasardspiele machten.

Widerwillig tat Heesemann mit. Er fand es dumm, sein Geld zu verlieren. Die Eifersucht wühlte ihm im Blut. Er wagte dennoch nicht, sich auszuschließen. Mit Neid sah er auf Ilefeld. Nie im Leben würde es ihm gelingen, sich die Geltung zu verschaffen, die dem in Schulden erstickenden Ravenhorster als selbstverständlich gezollt wurde. Nie auch würde er dessen leichte, fast impertinente Sicherheit erreichen. Wie er sich auch mühte, mit imponierender Bestimmtheit aufzutreten, immer fühlte er heimlich die Unsicherheit des Eindringlings, der er blieb – trotz der vornehmen 32 Frau. Vielleicht war diese Frau sogar der größte Rechenfehler seines Lebens. Schonungslos ließ sie ihn sein Emporkömmlingtum fühlen, verschloß sich eigensinnig seinen Versuchen, sie nach seinem Geschmack zu modeln. Die Hoffnung auf einen Sohn und Erben hatte sie ihm auch vernichtet. – Wenn sie ihn gar betröge! – Wo war sie gewesen während des Treibens nach dem Frühstück? – Es verbesserte seine Stimmung nicht, daß er anhaltend verlor.

Da hörte er, wie jemand Ilefeld mit seiner unergiebigen Jagd neckte, und plötzlich wußte er's wie in einem Hellsehen: mit Ilefeld war seine Frau zusammengetroffen während jenes Treibens. Mit Ilefeld, der schon vor der Hochzeit sein Rivale gewesen war! Eine Wut stieg ihm zu Kopf, daß er fast die Karten nicht mehr erkannte.

Oh, aber da würde er Ordnung schaffen! Das müßte mit dem Teufel zugehen, wenn man den Kerl nicht von seinem von Schulden aufgefressenen Gut und aus dem Lande hinauszwingen könnte! Sobald nur morgen der Telefondienst begann, würde er die einleitenden Schritte tun. Vielleicht war das Geschäft nicht einmal schlecht. Falls der Kanal wirklich durch Ravenhorst geführt würde, konnte es sogar ein glücklicher Griff sein. Aber selbst wenn er Geld zulegen sollte – fort mußte der Ilefeld von Ravenhorst – fort!

Er warf den Kopf in den Nacken – »Treff Solo!«

Das Spiel war Wahnsinn. Nie würde unter anderen Umständen ein so vorsichtiger Spieler, wie Heesemann war, es angesagt haben. Aber seine Aufregung mußte sich irgendwie entladen. Und durch die 33 unwahrscheinlichste Verteilung der Karten gewann er. Die wilde Tatkraft, die in ihm wie ein Fieber raste, zwang das Glück. Fortan blieb er im Gewinnen. Allgemach kam das verlorene Geld ihm wieder.

Da trat Botho von Seekamp an seinen Tisch.

»Ihre Frau Gemahlin, Herr von Heesemann, befindet sich nicht gut und möchte gern heimfahren. Darf ich den Wagen für Sie bestellen?«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr von Seekamp. Danke! Wenn Sie die Freundlichkeit haben wollen?!«

Er spielte weiter, innerlich wütend. Immer zu ungelegener Zeit mußte die Frau ihn stören.

Warum hatte sie nicht fort verlangt, bevor er verlor? Warum gerade jetzt, da er im Begriff stand, die Scharte auszuwetzen?!

Nach einer Weile meldete der Diener: »Der Wagen für Herrn von Heesemann ist vorgefahren!«

»Ja, ja, danke. Der Kutscher soll warten!«

Er sagte einen Grand an und dann noch einen und dann ein Null ouvert.

Wieder nach einer Weile trat Anna selbst ein, in Fahrmantel, Hut und Schleier, blaß, mit tiefen Rändern um die Augen. Sie beugte sich über Heesemanns Stuhllehne.

»Kutscher Friedrich schickt herauf. Die Rappen stehen nicht, du weißt – und ich fühle mich sehr angegriffen.«

Er wurde ungeduldig. »Wenn man krank ist, soll man nicht unter Menschen gehen. Zehn Minuten mußt du dich noch gedulden. Es gehört sich, daß ich den Herren hier erst Revanche gebe.«

34 Leise waren Rede und Gegenrede gesprochen. An den nächsten Tischen hörte sie doch wer aufmerkte. Ilefeld legte die Karten hin, stand auf, und mit der impertinenten Sicherheit, die Heesemann reizte wie den Stier ein rotes Tuch, sagte er, sich vor Anna verbeugend:

»Wenn gnädige Frau gestatten, werde ich mir die Ehre geben, Sie heimzufahren.«

Scheu trat Anna zurück. »Danke, Herr von Ilefeld. Ich warte auf meinen Mann.«

Auch Heesemann stand auf. Der Grimm gegen den Ravenhorster, der den ganzen Abend in ihm kochte, ließ sich nicht länger eindämmen.

»Es wäre wohl richtiger, Herr von Ilefeld, Ihren sehr dankenswerten Diensteifer zu zügeln, bis ich Sie ersuche, sich meiner Frau anzunehmen!«

»Auf ein Ersuchen von Ihnen würde ich wahrscheinlich nicht reagieren!« versetzte Ilefeld hochmütig. »Aber die Sitte der Gesellschaftsklasse, in der ich den Vorzug gehabt habe, aufzuwachsen, gebietet mir, für eine Dame immer dann einzutreten, wenn mir dies nötig scheint!«

An den Tischen ringsum war es totenstill geworden. Die Karten ruhten. Aufgeregt lauschten alle dem Streit, der mit der Wucht und Plötzlichkeit einer Naturgewalt hereingebrochen war, viel zu schnell, als daß der gute Wille oder die Gewandtheit eines Dritten ihn hätte aufhalten können. Aber in der Sekunde, während die vier Augen sich anfunkelten in einem Haß, der nicht in diesem Augenblick geboren war und nicht in diesem Augenblick sterben würde, kehrte Heesemann schon die kühle Besonnenheit wieder, die seinem Vater 35 und ihm den Weg aufwärts gebahnt hatte. Sich messen mit diesem Desperado, der auf der Welt nichts zu verlieren hatte als sein Leben, dem gar nichts Glücklicheres passieren konnte, als dies verfahrene Leben auf ritterliche Weise zu enden – dazu war sein eigener Einsatz zu hoch. Wenn er diesen hochmütigen Junker dahin bringen konnte, daß er drüben überm Wasser mit gebogenem Rücken, die Serviette überm Arm, aufwartete oder Stiefel wichste – die Rache war wirksamer.

Er zwang sich zu einer Art Lachen. »Sie sind lustig, Herr von Ilefeld. Aber nach einem Jagddiner darf man die Worte wohl nicht mit der Goldwage wägen. – Guten Abend, meine Herren!« Und während er Botho von Seekamp zum Abschied die Hand drückte, sagte er leise: »Nehmen Sie Ihren Freund ein wenig unter Ihre Obhut. Das scheint notwendig.«

Polzin hielt Ilefeld zurück, der sich auf den Braker stürzen wollte, und Heesemann ging so schnell seiner Frau nach aus dem Zimmer, daß er die Bewegung wohl kaum mehr sah. Eine halbe Minute später hörten die drinnen die Räder seines Wagens im Sand der Auffahrt knirschen.

Ilefeld nahm Botho Seekamp und Karl Tielen beiseite.

»Ich bitte Sie um einen Freundschaftsdienst, meine Herren. Sie werden morgen Herrn Max von Heesemann auf Brake meine Forderung bringen. Das Nähere nachher.«

Ganz leise, ganz ruhig sagte er's, und dann trat er an den Tisch und nahm seine Karten wieder auf.

»Bitte um Entschuldigung. Wer reizt?« 36



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