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28. Kapitel
Der Jäger wird gejagt

Mr. Heelas, Kemps nächster Nachbar in dem Villenviertel, schlief in seiner Laube, als die Belagerung von Kemps Haus begann. Mr. Heelas gehörte der starrköpfigen Majorität an, die sich weigerte, an all den Unsinn über die Existenz eines unsichtbaren Menschen zu glauben. Er bestand darauf, im Garten spazierenzugehen, als ob nichts geschehen wäre, und nachmittags legte er sich, einer vieljährigen Gewohnheit getreu, dort zu einem Schläfchen nieder. Er schlief, während die Fenster eingeschlagen wurden, dann erwachte er plötzlich mit dem seltsamen Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung sei. Er blickte zu Kemps Haus hinüber; dann rieb er sich die Augen und blickte nochmals hin. Jetzt richtete er sich auf und horchte. Das Haus drüben sah aus, als ob es seit Wochen verlassen wäre. Alle Fenster waren zerbrochen und, mit Ausnahme derjenigen des Studierzimmers im oberen Stockwerk, von innen durch Holzladen verschlossen.

»Ich hätte schwören können,« sagte er, auf die Uhr sehend, »daß noch vor zwanzig Minuten alles in Ordnung war!«

Er vernahm in weiter Entfernung das Klirren von zerbrochnem Glas. Und während er noch mit offenem Mund dasaß, ereignete sich etwas noch viel Wunderbareres. Die Laden des Speisezimmerfensters wurden ausgerissen, und das Hausmädchen, im Hut und zum Ausgehen gekleidet, machte krampfhafte Anstrengungen, die äußeren Riegel zu öffnen. Plötzlich erschien ein Mann neben ihr und brachte ihr Hilfe – Doktor Kemp! Im nächsten Augenblick war das Fenster offen und das Mädchen sprang heraus, – sie eilte weiter und verschwand zwischen den Sträuchern. Mr. Heelas erhob sich, aufs höchste verwundert. Er sah Kemp auf der Brüstung stehen, aus dem Fenster springen und einen Moment später dem Gebüsch zueilen, hie und da stehenbleibend, wie jemand, der sich fürchtet, beobachtet zu werden. Dann sah er ihn über ein Gitter klettern, das ins Freie führte. In einer Sekunde war er drüben und rannte, so schnell er konnte, den Hügel hinab, auf Mr. Heelas zu.

»Herr Gott!« rief dieser, von einem plötzlichen Gedanken erschreckt. »Es ist der Unsichtbare! So ist die Geschichte doch wahr!«

Denken und Handeln war für Mr. Heelas eins, und die Köchin, die ihn vom Giebelfenster aus beobachtete, wunderte sich, ihn mit der Schnelligkeit von neun Meilen in der Stunde in das Haus rennen zu sehen. Man hörte Türen zuschlagen, Glocken läuten und Mr. Heelas' Stimme brüllen: »Schließt die Türen, schließt die Fenster, schließt alles – der Unsichtbare kommt!« Bald war das ganze Haus in Aufruhr. Er selbst schloß die Glastür, die auf die Veranda führte; zugleich sah er Kemps Kopf, Schultern und Knie auf dem Gartengitter erscheinen. Im nächsten Augenblick war Kemp durch das Spargelbeet gekrochen und lief über den Tennisplatz dem Hause zu.

»Sie können nicht herein,« schrie Mr. Heelas, die Riegel vorschiebend. »Es tut mir sehr leid, wenn er Sie verfolgt – aber ich kann Sie nicht hereinlassen!«

Mit schreckensbleichem Gesicht erschien Kemp vor der Tür und rüttelte wie toll daran. Dann lief er, als er sah, daß seine Anstrengung nutzlos blieb, die Veranda entlang, sprang hinab und pochte heftig an die Seitentür. Dann eilte er durch ein Seitentor aus dem Garten und auf die Straße hinaus. Und kaum hatte Mr. Heelas Kemp verschwinden sehen, als das Spargelbeet von neuem zertreten wurde, diesmal von unsichtbaren Füßen. Daraufhin floh Mr. Heelas eiligst nach oben und weiß vom Schluß der Jagd nichts mehr zu sagen.

Als Kemp auf die Straße hinauskam, schlug er natürlich den Weg nach der Stadt ein. Und so kam es, daß er in eigner Person denselben tollen Lauf unternahm, den er noch vor vier Tagen von seinem Studierzimmer aus mit so kritischem Auge beobachtet hatte. Er lief gut für einen Mann, der außer Übung war; und obgleich sein Gesicht bleich und feucht war, behielt er bis zum Ende kaltes Blut. Er lief mit langen Schritten, und wo der Grund uneben war, wo rauhe Kieselsteine lagen oder Glassplitter in der Sonne blinkten, da übersprang er die Stelle und überließ es den unbekleideten, unsichtbaren Füßen, sich einen Weg zu suchen.

Zum erstenmal im Leben entdeckte Kemp, daß die Straße unbeschreiblich lang und öde und die ersten Häuser der Stadt seltsam weit entfernt waren.

All die gelben Villen, die in der Nachmittagssonne zu schlafen schienen, waren verschlossen und verrammelt; zweifellos infolge seiner eigenen Aufforderung. Aber sie hätten doch die Möglichkeit eines Falles wie den seinigen bedenken können! Jetzt stieg die Stadt vor ihm auf; das Meer war hinter ihm verschwunden, und unten in der Stadt war Leben und Bewegung. Gerade hielt eine Trambahn am Fuße des Hügels. Ganz in der Nähe war das Polizeigebäude. Hörte er nicht Fußtritte hinter sich? Schnell!

Die Leute unten starrten ihn an. Sein Atem wurde schwer und keuchend. Er war jetzt ganz nahe bei der Trambahn. Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Gedanke, in diese Trambahn zu springen und die Türen zuzuschlagen; dann beschloß er, doch zur Polizeistation zu laufen. Im nächsten Augenblick befand er sich am anderen Ende der Straße unter menschlichen Wesen.

Kemp verlangsamte den Schritt, dann hörte er seinen Verfolger dicht hinter sich, und wieder eilte er in rasendem Lauf weiter. »Der Unsichtbare!« rief er den Leuten mit einer unbestimmten Bewegung zu; und von einem glücklichen Gedanken geleitet, übersprang er einen Graben, bei dem Erdarbeiter beschäftigt waren, und trachtete eine Gruppe kräftiger Männer zwischen sich und seinen Verfolger zu bringen. Dann kam er von seiner ursprünglichen Absicht ab und bog in eine Seitenstraße ein. Den zehnten Teil einer Sekunde zögerte er vor dem Eingang eines Ladens, dann durcheilte er eine Allee, die wieder in die Hauptstraße führte. Zwei oder drei kleine Kinder, die dort spielten, schrien bei seinem Erscheinen laut auf und liefen eilends davon; Fenster und Türen öffneten sich und erregte Mütter stürzten heraus, um ihre Kinder zu schützen. Und als Kemp wieder in die Hauptstraße einbog, bemerkte er sofort einen lauten Tumult und durcheinander eilende Menschen. Die Situation hatte sich merkwürdig verändert.

Ein Dutzend Schritte von ihm entfernt lief ein riesenhafter Arbeiter und schwang seinen Spaten. Dicht hinter ihm folgten lärmend und schreiend andere. »Bildet eine Kette!« rief einer. »Er muß ganz nahe sein!« schrie Kemp.

Er erhielt einen heftigen Schlag ins Gesicht, der ihn wanken machte. Da wandte er sich um, in der Absicht, seinem unsichtbaren Gegner die Stirn zu bieten. Doch traf ihn ein neuerlicher, so gewaltig geführter Stoß, daß er kopfüber zu Boden stürzte. Im nächsten Augenblick fühlte er ein Knie auf seiner Brust und zwei seinen Hals umklammernde Hände. Er packte die Handgelenke, hörte seinen Gegner schmerzlich aufschreien, und dann wirbelte der Spaten des Arbeiters durch die Luft und fiel mit dumpfem Krach auf etwas nieder. Ein feuchter Tropfen fiel auf Kemps Gesicht. Der Druck auf seinen Hals gab plötzlich nach, mit einer letzten Anstrengung machte er sich frei und schwang sich nach oben. Er drückte die unsichtbaren Ellbogen nieder. »Ich habe ihn!« keuchte er. »Hilfe, Hilfe – haltet ihn, er liegt unten, packt seine Füße.« Eine Sekunde später stürzte sich alles auf die Kämpfenden, und wenn ein Fremder plötzlich auf der Straße erschienen wäre, hätte er glauben können, ein ungewöhnlich wildes Fußballspiel sei im Gange. Auf Kemps Ruf folgte keine Erwiderung – man vernahm nichts als das Geräusch von Schlägen, Fußtritten und schweres Atmen.

Mit einer mächtigen Willensanstrengung gelang es dem Unsichtbaren, sich zu erheben. Kemp hing an ihm, wie ein Hund an einem Hirsch, und ein Dutzend Hände packten ihn und rissen ihn zu Boden.

Weiter ging der Kampf. Plötzlich ertönte ein wilder, röchelnder Schrei: »Barmherzigkeit!«

»Zurück, Leute!« rief Kemp mit dumpfer Stimme, und alle die sehnigen Männer traten zurück. »Er ist schwer verletzt, sage ich euch, zurück!«

Langsam wichen die Umstehenden etwas zurück, um Platz zu machen. Gespannt sahen sie zu, wie der Doktor scheinbar in der Luft kniete und unsichtbare Arme zu Boden drückte. Hinter ihm umklammerte ein Schutzmann unsichtbare Fußgelenke.

»Lassen Sie ihn nicht aus!« rief der riesenhafte Arbeiter, den blutigen Spaten noch immer in der Hand haltend. »Er verstellt sich bloß!« »Er verstellt sich nicht,« erwiderte der Doktor, vorsichtig aufstehend, »auch halte ich ihn fest.«

Sein Gesicht war zerschunden und rot; er sprach schwer, weil er aus der Lippe blutete. Er ließ eine Hand los und schien ein Gesicht zu betasten. »Der Mund ist ganz naß,« sagte er, und dann: »Großer Gott!«

Er kniete neben dem Unsichtbaren nieder. Um ihn herum stieß und drängte man sich, neue Ankömmlinge vergrößerten die Menge. Es wurde wenig gesprochen. Kemp tastete herum, seine Hand schien durch leere Luft zu greifen. »Er atmet nicht,« sagte er, »ich höre das Herz nicht schlagen.«

Eine alte Frau, die unter dem Arm des riesenhaften Arbeiters durchblickte, kreischte auf. »Schaut her!« rief sie, einen runzeligen Finger ausstreckend. Und der Richtung des Fingers folgend, sah man hell und durchsichtig, wie aus Glas, so daß Venen und Arterien, Knochen und Nerven deutlich zu unterscheiden waren, die Umrisse einer Hand – einer schlanken, am Boden liegenden Hand. Je länger sie darauf blickten, desto dichter und undurchsichtiger wurde sie. »Hallo!« rief der Schutzmann, »jetzt wird ein Fuß sichtbar!«

Und so setzte sich diese seltsame Sichtbarwerdung langsam fort, bei den Händen und Füßen beginnend und längs der Glieder langsam die Lebenszentren erreichend. Erst sah man, von kleinen Venen gebildet, die schattenhaften Umrisse der Glieder, dann die Knochen und Arterien, dann Fleisch und Haut, erst als schwacher Nebel und schließlich dicht und undurchsichtig.

Als Kemp sich endlich erhob, sah man auf dem Boden den jammervollen, zerschundenen, gebrochenen Körper eines ungefähr dreißigjährigen jungen Mannes. Er hatte weiße Haare und weiße Augenbrauen – weiß wie ein Albino, nicht durch Alter ergraut – und seine Augen waren rot wie böhmische Granaten. Er hatte die Hände geballt, die Augen waren weit geöffnet und ein Ausdruck von Zorn und Verzweiflung lag auf seinem Gesicht.

»Deckt sein Gesicht zu!« rief ein Mann, »um Gottes willen, deckt das Gesicht zu!«

Jemand brachte ein Bettuch, und nachdem man den Leichnam damit bedeckt hatte, trug man ihn in ein Haus. Auf einem schäbigen Bett in einer bäurischen, schlecht beleuchteten Schlafstube, von einer unwissenden und erregten Menge umgeben, gebrochen und verstümmelt, verraten und unbeweint, beschloß dort Griffin, der erste Mensch, der es verstand, sich unsichtbar zu machen, Griffin, der genialste Physiker aller Zeiten und aller Völker, sein seltsames und schreckliches, tief unglückliches Leben.


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