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20. Kapitel
Im Hause in Great Portland Street

Für einen Augenblick blieb Kemp still sitzen und blickte starr auf den Rücken der kopflosen Gestalt am Fenster. Dann zuckte er unter einem plötzlichen Gedanken zusammen, erhob sich, nahm den Unsichtbaren beim Arme und führte ihn von dem Fenster weg.

»Sie sind müde,« sagte er, »und während ich sitze, gehen Sie herum. Nehmen Sie doch meinen Stuhl.«

Er setzte sich zwischen Griffin und das nächste Fenster.

Griffin saß einige Zeit schweigend da, bevor er seine Erzählung wieder aufnahm.

»Als jenes Ereignis eintrat,« fuhr er fort, »hatte ich Chesilstowe schon verlassen. Es war im vorigen Dezember. Ich hatte ein Zimmer in London gemietet, ein großes, unmöbliertes Zimmer in einem geräumigen, schlecht gehaltenen Zinshause, in einem schmutzigen Winkel nahe Great Portland Street. Meine Stube war mit den Apparaten und Hilfsmitteln, die ich mit dem geraubten Gelde gekauft hatte, gefüllt, und die Arbeit schritt rüstig und erfolgverheißend ihrem Ende entgegen. Ich war wie ein Mensch, der aus einem dichten Walde herauskommt und plötzlich ein ihm unverständliches Schauspiel vor sich sieht. Ich ging zu dem Begräbnisse meines Vaters. Doch hatte ich für nichts auf der Welt Gedanken, als für meine Untersuchungen, und rührte keinen Finger, um seinen guten Namen zu retten. Ich erinnere mich an das Leichenbegängnis, an den billigen Sarg, die kurze Trauerzeremonie, den frostigen Hügel und den Geistlichen, seinen alten Studienkollegen, der den Gottesdienst abhielt.

Ich erinnere mich, wie ich in unser verödetes Heim zurückkehrte, in dem Orte, der einst ein Dorf gewesen war, und welchen habsüchtige Bauspekulanten jetzt in eine häßliche Stadt verwandelt haben. Ich sehe mich noch selbst, eine hagere, schwarze Gestalt, die einsam auf einem feuchtglänzenden, schlüpfrigen Seitenpfade dem Dorf zuschritt, geistig getrennt von allem, was mir in der Jugend die Heimat lieb und teuer gemacht hatte ...

Als ich in die Hauptstraße einbog, wurde ich noch einmal an mein altes Leben gemahnt. Ich begegnete dem Mädchen, das ich vor zehn Jahren gekannt hatte. Unsere Augen trafen sich ...

Etwas zwang mich, mich umzudrehen und sie anzusprechen. Sie war eine sehr gewöhnliche Person.

Wie ein Traum war dieser Besuch in meinem Heimatsorte. Damals fühlte ich nicht, daß ich vereinsamt war, daß ich die Welt für eine Wüste hingegeben hatte. Erst als ich in mein Zimmer trat, hatte ich die Empfindung, wieder der Wirklichkeit anzugehören. Da waren die Dinge, welche ich kannte und liebte. Da standen meine Apparate und warteten bloß darauf, von mir zu der Endprobe verwendet zu werden. Und bis auf die Ebnung von Kleinigkeiten gab es kaum mehr ein ernstes Hindernis.

Ich will Ihnen früher oder später den ganzen komplizierten Prozeß erklären. Jetzt brauchen wir nicht näher darauf einzugehen. Mit Ausnahme einiger Lücken, die ich absichtlich nur meinem Gedächtnisse eingeprägt habe, ist er in Chiffreschrift in den Büchern, welche jener Landstreicher verborgen hat, niedergeschrieben. Wir müssen ihn einfangen. Wir müssen die Bücher wieder haben. Die eigentliche Aufgabe bestand also darin, den durchsichtigen Gegenstand, dessen Brechungswinkel herabgesetzt werden sollte, bei einer bestimmten Schwingung des Äthers zwischen zwei elektrische Zentren zu stellen, wovon ich später ausführlicher sprechen werde. Nein – keine Röntgenstrahlen; ich glaube auch nicht, daß meine Strahlen schon beschrieben worden sind, und doch sind sie leicht sichtbar. In erster Linie benötigte ich zweier kleiner Dynamomaschinen, die ich mit einem kleinen Gasmotor antrieb. Zu meinem ersten Experimente nahm ich ein Stück weißen Wollstoffes. Es war das seltsamste Ding der Welt, den Stoff beim Aufblitzen der elektrischen Funken weich und weiß vor sich zu sehen und dann zu beobachten, wie er gleich einer Rauchsäule langsam verging und endlich verschwand.

Ich konnte nicht glauben, daß es mir gelungen war. Ich streckte meine Hand ins Leere aus und da fand ich das Ding ebenso kompakt und fest wie früher. Ein unheimliches Gefühl beschlich mich, als ich es in der Hand hielt und ich ließ es fallen. Dann hatte ich viele Mühe, es wieder zu finden.

Und dann kam ein merkwürdiger Versuch. Hinter mir hörte ich miauen, und als ich mich umwendete, erblickte ich eine weiße, magere, sehr schmutzige Katze, die außerhalb des Fensters auf dem Deckel der Regenwassertonne saß. Da kam mir eine Idee. ›Du kommst mir eben recht‹, sagte ich, öffnete das Fenster und lockte die Katze in das Zimmer. Sie kam schnurrend herein – das arme Tier war halb verhungert und ich gab ihr etwas Milch von meinen Speisevorräten, die ich in einem Schranke in der Zimmerecke verwahrte. Nachdem sie getrunken hatte, ging sie suchend im Zimmer umher, augenscheinlich in der Absicht, sich daselbst häuslich einzurichten. Der unsichtbare Wollstoff verwirrte sie ein wenig. Sie hätten nur sehen sollen, wie sie fauchte und darauf los fuhr! Ich machte ihr auf einem Kissen ein Lager zurecht.«

»Und Sie verwandelten sie?«

»Ich verwandelte sie. Aber einer Katze Medikamente einzugeben, ist kein Spaß, Kemp! Und der Versuch mißlang.«

»Mißlang?«

»Aus zwei Gründen. Erstens wegen der Krallen und zweitens wegen des Farbstoffes rückwärts im Auge der Katzen. Wie heißt er doch?«

»Tapetum.«

»Ganz richtig, Tapetum. Er ging nicht weg. Nachdem ich der Katze das zum Bleichen des Blutes erforderliche Mittel eingegeben und gewisse andere Veränderungen an ihr vorgenommen hatte, flößte ich ihr Opium ein und legte sie und das Kissen, auf dem sie schlief, auf den Apparat. Und nachdem alles übrige verschwunden war, blieben zwei kleine, glänzende Punkte in den Augen sichtbar.«

»Seltsam.«

»Ich kann es nicht erklären. Sie war natürlich gebunden und auf ihrem Lager festgemacht, so daß sie mir nicht entwischen konnte. Aber sie war noch halb im Nebel sichtbar, als sie wieder zu sich kam und kläglich zu miauen begann. Da klopfte es an der Türe. Es war eine alte Frau aus dem unteren Stockwerk, die mich im Verdacht hatte, Vivisektionen vorzunehmen – eine dem Trunke ergebene alte Person, die auf der ganzen Welt für niemand Liebe empfand als für ihre Katze. Ich gab dem Tiere etwas Chloroform zu riechen und zeigte mich an der Türe. ›Ist hier nicht eine Katze?‹ fragte sie. ›Meine Katze?‹ ›Hier nicht‹, antwortete ich sehr höflich. Sie war nicht ganz überzeugt und versuchte, an mir vorbei ins Zimmer zu blicken – merkwürdig genug mag es ihr erschienen sein, mit seinen kahlen Wänden, den unverhüllten Fenstern, dem Feldbette, dem leise arbeitenden Gasmotor, den fahlen Blitzen an den Polen der Dynamomaschinen und dem schwachen Chloroformgeruch in der Luft. Endlich mußte sie sich zufrieden geben und fortgehen.«

»Wie lange Zeit nahm es in Anspruch?« fragte Kemp.

»Drei oder vier Stunden – bei der Katze. Am längsten widerstanden die Knochen, die Sehnen, das Fett und die Spitzen der farbigen Haare. Und wie ich schon sagte, der rückwärtige Teil des Auges, ein zäher, regenbogenfarbiger Stoff, wollte überhaupt nicht verschwinden.

Draußen war es Nacht geworden, lange bevor die Sache vorüber war und von dem Tier war nichts mehr zu sehen als undeutlich die Augen und die Krallen. Ich brachte den Gasmotor zum Stehen, tastete nach dem Tiere, das noch immer besinnungslos lag und streichelte es. Dann löste ich die Schnüre, die es festhielten, ließ es dann, da es ganz erschöpft war, auf dem unsichtbaren Kissen weiterschlafen und ging zu Bett. Doch konnte ich lange keinen Schlaf finden. Ich lag wach und wälzte dummes, sinnloses Zeug in meinem Kopf herum, ging meinen Versuch in Gedanken wieder und wieder durch, und dann träumte ich, daß alles um mich her, sogar der Erdboden, auf dem ich stand, unsichtbar wurde. Gegen zwei Uhr früh begann die Katze zu miauen. Ich versuchte sie zum Schweigen zu bringen, indem ich mit ihr sprach, und dann entschloß ich mich, sie hinauszujagen. Ich erinnere mich an den Schrecken, den ich ausstand, als ich ein Licht anzündete und grünschillernde Augen – und sonst nichts! – vor mir sah. Ich hätte ihr Milch gegeben, aber ich hatte keine mehr. Sie setzte sich neben die Türe und miaute ununterbrochen. Da versuchte ich sie zu fangen, um sie beim Fenster langsam hinauszulassen; sie ließ sich aber nicht ergreifen, sondern verschwand. Dann hörte ich sie in verschiedenen Teilen des Zimmers ohne Unterlaß jammernd miauen. Endlich öffnete ich das Fenster und begann sie zu jagen. Da verließ sie vermutlich das Zimmer. Wenigstens sah und hörte ich nie mehr etwas von ihr.

Dann wanderten meine Gedanken – der Himmel weiß warum – wieder zu dem Begräbnisse zurück und zu dem verlassenen, kahlen Hügel, unter dem mein Vater die letzte Ruhe gefunden hatte. So ging es ununterbrochen fort, bis endlich die Dämmerung anbrach. Ich fühlte, daß ich doch nicht schlafen konnte, so verschloß ich die Türe hinter mir und wanderte in die morgenfrischen Straßen hinaus.«

»Wollen Sie damit sagen, daß eine unsichtbare Katze in der Welt frei herumläuft?« fragte Kemp.

»Wenn sie nicht getötet worden ist,« sagte der Unsichtbare. »Warum nicht?«

»Allerdings warum nicht?« wiederholte Kemp. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

»Sie ist wahrscheinlich getötet worden,« sagte der Unsichtbare. »Daß sie vier Tage später noch lebte, weiß ich, denn in der Great Tichfield Street kam ich damals zufällig an einer großen Menschenmenge vorbei, die sich an einem Abzugskanal angesammelt hatte, weil man dort lautes Miauen hörte, ohne sich erklären zu können, woher es kam.«

Wohl eine Minute schwieg er still. Dann fuhr er unvermittelt fort:

»Des Tages vor der großen Verwandlung entsinne ich mich deutlich. Ich muß die Great Portland Street hinaufgegangen sein. Denn ich erinnere mich an die Kaserne in Albany Street, aus der eben Soldaten herausritten. Endlich fand ich mich in der Sonne auf dem Gipfel von Primrose Hill und fühlte mich sehr krank und sonderbar erregt. Es war ein sonniger Januartag – einer jener sonnig kalten Tage, die den Schneefällen dieses Jahres vorangingen. Mit brennendem Kopfe suchte ich mir meine Lage klarzumachen und einen Plan für die Zukunft zu fassen.

Jetzt, da ich den Preis mit Händen greifen konnte, sah ich mit Erstaunen, wie wenig Vorteile ich mir von dem Erfolg versprach. Tatsächlich war ich überarbeitet. Die Anspannung einer fast vierjährigen angestrengten Arbeit hatte mich geistig und körperlich heruntergebracht. Vergeblich trachtete ich den Enthusiasmus über meine ersten Versuche, meine Leidenschaft für neue Entdeckungen, die mich in den Stand gesetzt hätten, selbst den Tod meines greisen Vaters mit Gleichmut zu ertragen, wiederzugewinnen. An nichts war mir gelegen. Ich sah ziemlich klar, daß dies eine vorübergehende Stimmung war, die von Überanstrengung und Mangel an Schlaf herrührte, und daß es mir entweder durch ärztliche Behandlung oder vollständige Ruhe leicht gelingen würde, meine frühere Energie wiederzufinden. Nur ein Gedanke schwebte mir klar vor: daß die Sache durchgeführt werden mußte. Dieser fixe Gedanke beherrschte mich noch immer. Und zwar mußte sie bald durchgeführt werden, denn mein Geld ging zur Neige. Ich versuchte an die märchenhafte Macht zu denken, über die ein unsichtbarer Mensch auf der Welt verfügen würde.

Endlich schleppte ich mich nach Hause, nahm etwas Nahrung zu mir, dann eine starke Dosis Strychnin und legte mich angekleidet auf mein zerwühltes Bett ... Strychnin ist ein großartiges Mittel, Kemp, um einen Menschen aufzurütteln.«

»Es ist ein teuflisches Mittel,« sagte Kemp.

»Ich erwachte neugestärkt und sehr erregbar. Sie kennen den Zustand?«

»Ich kenne die Wirkung sehr gut.«

»Da klopfte es an die Tür. Es war der Hausherr. Er kam mit Drohungen; ich hätte in der Nacht eine Katze gequält, er wüßte es bestimmt – die Zunge der alten Frau war also geschäftig gewesen – und bestehe darauf, alles darüber zu erfahren. Die Gesetze des Landes gegen die Vivisektion seien streng und er könne deshalb zur Verantwortung gezogen werden. Ich verleugnete die Katze. Dann machte er mir zum Vorwurf, daß das Arbeiten des Gasmotors im ganzen Haus unangenehm bemerkbar sei. Das war allerdings richtig. Dabei spähte er über seine silberne Brille hinweg im ganzen Zimmer umher. Ich bekam plötzlich Angst, daß er etwas von meinem Geheimnis erraten könnte, und suchte mich zwischen ihn und meine Apparate zu stellen. Das machte ihn nur noch neugieriger. Womit ich mich beschäftige? Warum ich immer allein sei, und bei verschlossener Tür arbeite? Sei meine Beschäftigung nicht etwa ungesetzlich oder gefährlich? Ich zahle nur den gewöhnlichen Mietzins. Sein Haus sei immer ein sehr anständiges gewesen – trotz der verrufenen Nachbarschaft. Endlich verlor ich die Geduld. Ich forderte ihn auf, das Zimmer zu verlassen. Er begann zu protestieren und mit großem Wortschwall auf seine Rechte als Hauseigentümer zu pochen. Im nächsten Augenblick hatte ich ihn am Kragen – etwas krachte – und er flog in den Gang hinaus. Ich schlug die Tür zu, verriegelte sie und setzte mich bebend nieder.

Er machte draußen großen Lärm, um den ich mich aber nicht kümmerte, und nach einiger Zeit ging er fort.

Aber das führte in meinen Angelegenheiten zur Krisis. Ich wußte nicht, was er tun würde, nicht einmal, was er zu tun das Recht hatte. In eine neue Wohnung zu ziehen, hätte einen Aufschub bedeutet, auch fehlten mir die Mittel dazu, denn insgesamt besaß ich nur noch zwanzig Pfund, die auf einer Bank lagen. Also verschwinden! Der Gedanke war unwiderstehlich. Dann würde man nachforschen, mein Zimmer durchsuchen ...

Bei dem Gedanken an die Möglichkeit, daß mein Werk auf seinem Höhepunkt vereitelt oder unterbrochen werden könnte, wurde ich zornig und gewann meine ganze Tatkraft wieder. Ich eilte mit meinen drei Tagebüchern und meinem Scheckbuch – der Landstreicher hat sie jetzt – hinaus und adressierte sie an ein Postamt in Great Portland Street. Dann ging ich nach Hause, suchte geräuschlos mein Zimmer zu gewinnen und ging an die Arbeit.

An jenem Abend und in der darauffolgenden Nacht wurde es vollbracht. Während ich noch unter dem Einfluß der übelerregenden, betäubenden Mittel, die mein Blut entfärben sollten, stand, ertönte wiederholtes Pochen an der Tür. Es verstummte, Fußtritte näherten und entfernten sich wieder, dann pochte es von neuem. Jemand versuchte, unter der Tür etwas ins Zimmer zu schieben – ein blaues Papier. In einem Anfall von Wut erhob ich mich und riß die Tür weit auf. ›Was gibt es?‹ fragte ich.

Es war der Hausbesitzer mit einem amtlichen Kündigungsbogen oder etwas dergleichen. Er reichte ihn mir, sah, wie ich vermute, etwas Auffallendes an meinen Händen und erhob die Augen zu meinem Gesicht.

Einen Augenblick blieb er atemlos stehen. Dann stieß er einen unartikulierten Schrei aus, ließ Licht und Schrift fallen und taumelte durch den dunkeln Gang gegen die Treppe zu.

Ich schloß die Tür, verriegelte sie und ging zum Spiegel. Jetzt begriff ich sein Entsetzen ... Mein Gesicht war weiß – weiß, wie aus Stein gehauen. Aber es war entsetzlich. Auf solche Leiden hatte ich mich nicht gefaßt gemacht. Eine Nacht unsäglicher Schmerzen, begleitet von Übelkeiten und Ohnmachtsanfällen. Ich preßte die Zähne zusammen; obwohl meine Haut, mein ganzer Körper brannte, lag ich da wie der starre Tod. Jetzt verstand ich, warum die Katze gejammert hatte, bevor ich sie chloroformierte. Es war ein Glück, daß ich allein war und ohne Diener wohnte. Es gab Augenblicke, wo ich schluchzte und stöhnte und mit mir selbst sprach. Aber ich gab nicht nach ... Ich verlor das Bewußtsein und erwachte in der Finsternis, matt und erschöpft. Der Schmerz war vorüber. Ich dachte, ich hätte mich getötet, und es lag mir nichts daran. Nie werde ich jene Dämmerstunde vergessen und welches Entsetzen ich fühlte, als ich sah, daß meine Hände wie Milchglas geworden waren und immer dünner und durchsichtiger wurden, bis ich endlich durch sie hindurch die wüste Unordnung in meinem Zimmer sehen konnte, obwohl ich meine durchsichtigen Augenlider schloß. Meine Glieder wurden glasartig, die Knochen und Arterien verschwanden langsam und zum Schluß endlich auch die kleinen, weißen Nervenstränge. Ich knirschte mit den Zähnen und hielt bis zum Ende aus ... Endlich blieben nur die Spitzen der Fingernägel und der braune Fleck von irgendeiner Säure auf meinen Fingern sichtbar.

Ich richtete mich mühsam auf. Erst war ich zum Gehen so unfähig wie ein Wickelkind – ich ging auf Beinen, die ich nicht sah. Ich fühlte mich schwach und sehr hungrig. Als ich zum Spiegel trat, erblickte ich nichts – nichts, bis auf ein dünnes Stückchen Netzhaut, das noch wie ein ganz feiner Nebel sichtbar war. Ich mußte mich auf den Tisch stützen und den Kopf an das Glas pressen.

Nur mit Aufgebot meiner ganzen Willenskraft schleppte ich mich zum Apparat zurück und vollendete den Prozeß.

Ich schlief den Vormittag durch, nachdem ich mir ein Tuch über die Augen gelegt hatte, um das Licht auszuschließen. Gegen Mittag wurde ich durch ein Klopfen geweckt. Meine Kraft war zurückgekehrt. Ich setzte mich auf, horchte und vernahm ein Flüstern. Da sprang ich auf und begann so geräuschlos als möglich meinen Apparat zu zerlegen und die einzelnen Teile im Zimmer zu zerstreuen, um die Möglichkeit seiner Rekonstruktion noch zu verringern. Bald darauf erneuerte sich das Klopfen, und Stimmen ertönten, erst diejenige meines Hauswirtes und dann zwei andere. Um Zeit zu gewinnen, beantwortete ich das Rufen. Das unsichtbare Kissen und der Wollstoff fielen mir in die Hand; ich öffnete das Fenster und warf sie hinaus. In diesem Augenblick wurde ein heftiger Schlag gegen die Tür geführt. Jemand mußte sich darauf geworfen haben, in der Absicht, sie einzurennen. Aber die starken Riegel, mit welchen ich die Tür vor einigen Tagen versehen hatte, widerstanden dem Ansturm. Das versetzte mich in Aufregung – in Wut. Ein Zittern überfiel mich und ich fuhr mit meinen weiteren Zurüstungen eilends fort.

Ich häufte lose Papierblätter, Stroh, Packpapier und andere entzündliche Sachen in der Mitte des Zimmers zusammen und drehte den Gashahn auf. Schwere Schläge fielen auf die Tür nieder. Ich konnte die Zündhölzchen nicht finden und stieß vor Wut mit den Fäusten gegen die Wände. Dann drehte ich das Gas wieder ab, stieg aus dem Fenster auf den Deckel des Regenwasserbehälters und setzte mich, heil und unsichtbar, aber vor Erregung zitternd, nieder, um die weiteren Ereignisse abzuwarten. Ich sah, wie sie die Türfüllung einschlugen, im nächsten Augenblick die Riegel zurückschoben und nun auf der Schwelle standen. Es waren der Hauswirt und seine beiden Stiefsöhne, kräftige junge Männer von drei- oder vierundzwanzig Jahren. Hinter ihnen bewegte sich das alte Frauenzimmer vom unteren Stockwerk unruhig hin und her.

Denken Sie sich das Erstaunen, als sie das Zimmer leer fanden. Einer der jungen Leute stürzte sofort ans Fenster, riß es auf und starrte hinaus. Er war kaum einen Fuß von mir entfernt und ich war versucht, ihm einen Schlag in sein dummes Gesicht zu versetzen, aber ich hielt meine geballte Faust zurück.

Er blickte gerade durch mich hindurch. So auch die andern, welche sich zu ihm gesellten. Der Alte spähte unter das Bett, und dann stürzten sich alle auf den Speiseschrank. Sie vermuteten schließlich, daß ich ihnen früher aus dem Zimmer gar nicht geantwortet habe, daß ihre Sinne sie getäuscht hätten. Ein Gefühl seltsamer Erhebung verdrängte meinen Zorn, während ich draußen vor dem Fenster saß und beobachtete, wie diese vier Leute – denn die alte Frau von unten war jetzt auch in das Zimmer getreten und spähte argwöhnisch umher – das Rätsel meines Daseins zu ergründen trachteten.

Soweit ich das Kauderwelsch verstehen konnte, schienen der alte Mann und die alte Frau einig darüber zu sein, daß ich Vivisektionen vorgenommen habe. Die Söhne behaupteten in verdorbenem Englisch, daß ich ein Elektrotechniker sei, und wiesen zur Begründung ihrer Ansicht auf meine Dynamomaschinen und die Strahlenwerfer hin. Alle aber fürchteten meine Wiederkehr, obwohl sie, wie ich in der Folge fand, die Haustür verriegelt hatten. Nochmals untersuchte die Alte den Speiseschrank und das Bett. Ein anderer Mieter, ein Obsthändler, der das Zimmer neben dem meinigen mit einem Fleischhauer teilte, erschien auf der Schwelle; er wurde hineingerufen und mußte eine unzusammenhängende Schilderung der Ereignisse über sich ergehen lassen.

Nun fiel mir ein, daß die eigentümlichen Strahlenwerfer, welche ich besaß, wenn sie in die Hände eines scharfsinnigen Fachmannes fielen, zu viel von meinem Geheimnis verraten könnten. Ich nahm daher eine Gelegenheit wahr, stieg durch das Fenster wieder ins Zimmer, warf eine der beiden Dynamomaschinen von ihrem Aufsatz herab und zerbrach beide Apparate. Wie sie zusammenfuhren! ... Dann schlüpfte ich, während sie sich dieses neue Ereignis zu erklären suchten, aus dem Zimmer und stieg sachte hinunter.

Ich ging in eines der Wohnzimmer und wartete bis sie herunterkamen. Sie waren alle nachdenklich gestimmt und etwas enttäuscht, in meinem Zimmer nichts ›Schreckliches‹ gefunden zu haben. Auch waren sie in Sorge, ob sie sich nicht eine ungesetzliche Handlung gegen mich hatten zuschulden kommen lassen. Sobald sie ins Erdgeschoß hinuntergegangen waren, schlüpfte ich mit einer Schachtel Streichhölzer wieder hinauf, zündete meinen Papierhaufen an, legte die Stühle und das Bettzeug darauf, leitete mittels eines Gummischlauches das Gas hin ...«

»Sie setzten das Haus in Brand?« rief Kemp aus.

»Ich setzte das Haus in Brand! Es war der einzige Weg, meine Spur zu vernichten, und es war zweifellos versichert. Leise schob ich die Riegel des Haustores zurück und ging auf die Straße hinaus. Ich war unsichtbar und fing eben an, mir der außerordentlichen Vorteile meiner Unsichtbarkeit bewußt zu werden. In meinem Kopfe kreuzten sich schon die Pläne zu den wilden und wunderbaren Taten, die ich jetzt ungestraft ausführen konnte.


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