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3. Kapitel
Tausendundeine Flasche

So geschah es, daß am 29. Februar, bei beginnendem Tauwetter, dieser merkwürdige Mensch wie aus den Wolken nach Iping herabfiel. Am nächsten Tage traf sein Gepäck ein – und auch dieses war eigentümlich genug. Es waren allerdings zwei Koffer da, wie jeder vernünftige Mensch sie haben konnte, aber außerdem noch eine Bücherkiste – große, dicke Bücher, manche in unverständlicher Schrift – und über ein Dutzend Körbe, Kisten und Kasten, welche in Stroh verpackte Gegenstände enthielten, welch letztere Hall, der in gerechtfertigter Neugierde das Stroh untersuchte, für Glasflaschen hielt. Der Fremde, mit Hut, Stock, Handschuhen und Halstuch versehen, erschien voller Ungeduld, als Fearensides, des Fuhrmanns, Karren vor dem Hause hielt, während Hall mit Fearenside ein kurzes Gespräch anknüpfte, bevor er beim Abladen der Kisten behilflich war. Ohne des Fuhrmanns Hund, der freundlich Halls Beine beschnüffelte, zu beachten, trat der Fremde vor die Tür.

»Beeilt euch mit den Kisten!« rief er. »Ich habe lange genug warten müssen!« Und er kam die Stufen herab auf den Karren zu, als ob er selbst mit Hand anlegen wollte.

Kaum hatte ihn Fearensides Hund jedoch erblickt, als er unruhig wurde und zu knurren begann; als der Fremde unten angelangt war, tat der Hund einen Satz und sprang dann gerade auf seine Hand los. »Wupp!« schrie Hall zurückweichend, denn er war Hunden gegenüber gerade kein Held, und Fearenside brüllte: »Nieder!« und langte rasch nach seiner Peitsche.

Sie sahen, wie die Zähne des Hundes die Hand fahren ließen, hörten einen Schlag, sahen den Hund zur Seite springen, sich in das Bein des Fremden verbeißen und hörten deutlich den Riß, der durch dessen Beinkleider ging. Dann fiel Fearensides Peitsche auf den Hund nieder, der sich unter wütendem Bellen unter die Räder des Karrens verkroch. All dies geschah in dem kurzen Zeitraum einer halben Minute. Niemand sprach, alle schrien. Der Fremde warf einen schnellen Blick auf seine zerrissenen Handschuhe und auf sein Bein, schien sich zu dem letzteren niederbeugen zu wollen, wendete sich dann aber um und eilte über die Stufen in den Gasthof zurück. Man hörte ihn den Gang durcheilen und die Holztreppen zu seinem Schlafzimmer emporsteigen.

»Du Vieh, du!« schrie Fearenside, mit der Peitsche in der Hand vom Wagen steigend, während der Hund durch die Räder hindurch jede seiner Bewegungen beobachtete.

»Komm her! Wirst du wohl!« fügte er hinzu.

Hall war atemlos dagestanden. »Er ist gebissen worden,« sagte er endlich, »ich will nach ihm sehen.« Und er folgte dem Fremden. Im Hausflur traf er seine Frau. »Des Fuhrmanns Hund hat ihn gebissen,« teilte er ihr beim Vorübergehen mit.

Er ging, ohne zu zaudern, die Stiegen hinauf, öffnete die angelehnte Tür zu des Fremden Schlafzimmer und trat ohne Umstände, nur von seinem Mitgefühl geleitet, ein.

Die Vorhänge waren zugezogen und das Zimmer dunkel. Sekundenlang hatte er eine merkwürdige Erscheinung: er glaubte zu sehen, daß ihm ein Arm ohne Hand zuwinke und erblickte ein Gesicht mit drei riesigen Flecken von unbestimmter Farbe auf weißem Grunde, einem hellfarbigen Stiefmütterchen nicht unähnlich. Dann erhielt er einen heftigen Schlag vor die Brust und wurde zurückgestoßen, worauf die Tür hinter ihm zugeschlagen und verriegelt wurde. All das geschah so schnell, daß es ihm an Zeit fehlte, weitere Beobachtungen anzustellen: ein Ineinanderfließen von rätselhaften Schatten, ein Schlag und ein Zusammenstoß. Da stand er auf dem dunklen kleinen Flur und dachte nach, was er da wohl gesehen haben könnte.

Schon nach wenigen Minuten schloß er sich wieder der kleinen Gruppe an, die sich vor dem »Fuhrmann« angesammelt hatte. Dort stand Fearenside, der die ganze Geschichte schon zum zweiten Male erzählte; Mrs. Hall, die fortwährend erklärte, sein Hund habe kein Recht ihre Gäste zu beißen; Huxter, der Krämer von jenseits der Straße, welcher unverdrossen Fragen stellte, und Sandy Wadgers, der Schmied, der für alles Antworten bereit hatte. Außerdem Frauen und Kinder, die alle gleichzeitig sprachen: »Mir sollte er nur kommen!« – »Solche Hunde sollte man nicht halten dürfen!« – »Warum hat er ihn denn eigentlich gebissen?« und so fort.

Mr. Hall, der auf den Stufen stand und zuhörte, hielt es bereits für unmöglich, daß er die merkwürdigen Dinge im oberen Stockwerke wirklich erlebt habe. Übrigens war auch sein Wortschatz zu klein, um seinen Empfindungen Ausdruck zu verleihen.

»Er braucht keine Hilfe,« erwiderte er auf die Frage seiner Frau. »Wir schaffen am besten gleich das Gepäck hinein.«

»Man sollte die Wunde gleich ausbrennen,« sagte Mr. Huxter; »besonders wenn sie entzündet ist.«

»Ich würde den Hund einfach niederschießen, er verdient es,« meinte eine Frau in der Gruppe.

Plötzlich begann der Hund von neuem zu knurren.

»Nun! wird's?« rief eine ärgerliche Stimme im Hausflur und dort stand der vermummte Fremde, wie immer den Rockkragen in die Höhe geschlagen und den Rand seines Hutes nach abwärts gebogen. »Je früher Sie meine Sachen hineintragen, desto lieber ist es mir.« Von einem unbekannten Zuschauer wurde bei dieser Gelegenheit konstatiert, daß der Fremde Beinkleider und Handschuhe gewechselt hatte.

»Sind Sie gebissen worden, Herr?« fragte Fearenside. »Es tut mir wirklich leid, daß der Hund – –«

»Durchaus nicht,« versetzte der Fremde. »Beeilen Sie sich mit dem Abladen.«

Dann fluchte er vor sich hin, wie Mr. Hall behauptet. Kaum war der erste Korb nach seinen Angaben in das Gastzimmer geschafft, als er sich mit außerordentlichem Eifer daraufstürzte und auszupacken anfing. Ohne die geringste Rücksicht auf Mrs. Halls Teppich zu nehmen, warf er das Stroh heraus und begann Flaschen ans Tageslicht zu fördern. Kleinere, dicke Flaschen mit Pulvern, kleine, schlanke Flaschen mit gefärbten und farblosen Flüssigkeiten, langhalsige, blaue Flaschen mit der Aufschrift: »Gift«, dickbauchige grüne Glasflaschen, breite weiße Flaschen, Flaschen mit Glaspfropfen und geätzter Etikette, fein verkorkte Flaschen, Flaschen mit Holzdeckeln, Wein- und Ölflaschen, die er auf dem Wäscheschrank, dem Kaminsims, auf dem Tisch vor dem Fenster, auf dem Fußboden, dem Bücherbrett, kurz überall, reihenweise aufstellte. Der Apothekerladen in Bramblehurst konnte sich nicht halb so vieler Flaschen rühmen. Es war geradezu eine Sehenswürdigkeit. Korb auf Korb gab seinen Inhalt heraus, bis alle sechs leer waren und das Stroh hoch auf dem Tische aufgehäuft lag. Das einzige, was außer den Flaschen aus den Körben hervorkam, war eine Anzahl Probiergläser und eine sorgfältig verpackte Wage.

Und sowie die Körbe leer waren, ging der Fremde ans Fenster, begann zu arbeiten, ohne sich im geringsten um die Strohhaufen, das erloschene Feuer, die Bücherkiste draußen oder um die Koffer und das andere Gepäck zu kümmern, das inzwischen in sein Schlafzimmer hinaufgeschafft worden war.

Als Mrs. Hall ihm das Mittagessen brachte, war er schon so eifrig damit beschäftigt, kleine Mengen der Flüssigkeit aus den Flaschen in die Probiergläser zu schütten, daß er ihre Gegenwart nicht eher wahrnahm, als bis sie den größten Teil des Strohs weggeschafft und das Servierbrett auf den Tisch gestellt hatte, was sie, angesichts des Zustandes, in dem sich der Fußboden befand, etwas geräuschvoll getan haben mochte. Nun wandte er halbwegs den Kopf, um sich sofort wieder abzuwenden. Aber sie bemerkte, daß er die Brille abgenommen hatte, die neben ihm auf dem Tische lag, und es schien ihr, als ob er außerordentlich tiefe Augenhöhlen hätte. Er setzte das Augenglas wieder auf, wandte sich dann ganz um und blickte ihr ins Gesicht. Sie war eben im Begriff, sich über das Stroh auf den Dielen zu beklagen, als er ihr zuvorkam.

»Ich wünschte, Sie kämen nicht herein, ohne anzuklopfen,« sprach er in jenem Tone großer Gereiztheit, der so charakteristisch für ihn war.

»Ich klopfte an, wahrscheinlich haben Sie – –«

»Das mag sein; bei meinen Untersuchungen – meinen wirklich sehr dringenden und wichtigen Untersuchungen – kann jedoch die leiseste Störung, das Knarren einer Tür – Ich muß Sie bitten – – –«

»Natürlich, mein Herr. In diesem Falle können Sie ja den Schlüssel umdrehen, so oft es ihnen beliebt.«

»Ein ausgezeichneter Gedanke,« meinte der Fremde.

»Aber das Stroh, Herr! Wenn ich mir die Freiheit nehmen dürfte, zu bemerken –«

»Lieber nicht. Wenn das Stroh Sie stört, setzen Sie's auf die Rechnung.« Und er brummte etwas vor sich hin, was einem Fluche verzweifelt ähnlich klang.

Er sah so seltsam aus, als er so kampfbereit und zornig, eine Flasche in der einen, das Probierglas in der andern Hand, dastand, daß Mrs. Hall es mit der Angst kriegte. Aber sie war eine entschlossene Frau. »In diesem Falle, mein Herr, würde ich gerne wissen, wie hoch –«

»Ein Schilling – rechnen Sie mir einen Schilling an. Das wird doch genügen?«

»Gut,« entgegnete Mrs. Hall, indem sie das Tischtuch ergriff und über den Tisch breitete. »Wenn Sie damit einverstanden sind, natürlich –«

Er wendete sich ab und nahm, ihr den Rücken kehrend, den Rockkragen aufwärts gestellt, seinen früheren Platz ein.

Den ganzen Nachmittag arbeitete er bei verschlossener Tür und, wie Mrs. Hall bezeugt, meist stillschweigend. Nur einmal vernahm man eine heftige Erschütterung, das Klirren aneinanderstoßender Flaschen, als ob jemand auf den Tisch geschlagen hätte, das Zersplittern eines heftig zu Boden geschmetterten Glases und dann einen schnellen Schritt, der das Zimmer durchmaß. Etwas Außerordentliches befürchtend, ging sie zu seiner Tür und horchte. Zu klopfen nahm sie sich nicht erst die Mühe.

»Ich komme nicht weiter,« raste er. »Ich komme nicht weiter! Dreimalhunderttausend, viermalhunderttausend! Solche Zahlen! Ich bin betrogen! Mein ganzes Leben kann ich damit verbringen! – Geduld! nur Geduld! – Oh, ich Narr!«

Das Klappern von nägelbeschlagenen Schuhen auf den Ziegeln der Schankstube, das jetzt laut wurde, brachte Mrs. Hall sehr zu ihrem Verdruß um die Fortsetzung seines Selbstgesprächs. Als sie zurückkehrte, war es wieder still im Zimmer, mit Ausnahme des leisen Krachens des Stuhles und des gelegentlichen Klirrens einer Flasche. Alles war vorüber; der Fremde hatte seine Arbeit wieder aufgenommen.

Als sie ihm den Tee brachte, sah sie unterhalb des Spiegels in der Zimmerecke Glasscherben und einen nachlässig weggewischten, goldgelben Fleck. Sie machte ihn darauf aufmerksam.

»Schreiben Sie's auf die Rechnung,« knurrte er sie an. »Um Gottes willen, quälen Sie mich nicht! Wenn ich Schaden anrichte, schreiben Sie's auf die Rechnung,« und er fuhr mit den Eintragungen in sein Notizbuch fort. – – –

*

»Ich will dir etwas sagen,« begann Fearenside geheimnisvoll. Es war spät am Nachmittag und die beiden saßen in der kleinen Bierstube von Iping beisammen.

»Nun?« fragte Teddy Henfrey.

»Der Mensch, von dem du sprichst, den mein Hund gebissen hat – ich sage dir – er ist schwarz! Seine Beine wenigstens. Ich sah durch den Riß in seinen Hosen und in seinen Handschuhen. Du hättest doch auch etwas Rotes zu sehen erwartet, nicht wahr? Fehlgeraten! Alles war schwarz. Schwarz wie mein Hut da.«

»Meiner Treu,« meinte Henfrey, »das ist eine seltsame Geschichte. Aber seine Nase ist doch scharlachrot!«

»Das ist richtig,« erwiderte Fearenside, »ich weiß es und will dir sagen, wie ich es mir erkläre. Der Mensch ist ein Schecke, Teddy, schwarz und weiß gefleckt. Und er schämt sich, es zu zeigen. Er ist eine Art Mischblut; anstatt sich zu vermischen, sind die Farben in Flecken herausgekommen. Ich habe schon von derartigen Fällen gehört. Und bei Pferden ist es das Gewöhnliche, wie jedermann weiß.«


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