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26. Kapitel
Der Mord im Dickicht

Der Unsichtbare scheint in einem Zustand blinder Wut aus dem Hause Kemps geflohen zu sein. Ein kleines Kind, das in der Nähe des Tores spielte, war heftig angepackt und beiseite geschleudert worden, so daß es den Knöchel brach, und nachher verschwand er für einige Stunden vollkommen. Niemand weiß, wohin er ging oder was er tat. Aber man kann sich vorstellen, wie er an dem heißen Junitag den Hügel hinauf nach der offenen Düne hinter Port Burdock eilte, voll Grimm sein Schicksal verfluchend, bis er endlich erhitzt und müde in den Wäldern von Hintondean eine Zuflucht suchte, um wieder neue Pläne gegen seine Mitmenschen zu schmieden.

Wie dem aber auch sei, gegen Mittag verschwand er aus dem Gesichtskreis der Menschen, und keine lebende Seele kann sagen, was er bis gegen halb 3 Uhr getan hat. Vielleicht war es ein Glück für die Menschheit, aber für ihn selbst sollte diese Untätigkeit unheilvoll werden.

Während dieser Zeit war eine immer mehr wachsende Menschenmenge in der ganzen Gegend geschäftig. Am Morgen war er noch eine bloße Mythe, ein Gegenstand des Schreckens gewesen; am Nachmittag wurde er in einer trockenen Proklamation Kemps als ein greifbarer Gegner hingestellt, der verwundet, gefangen und überwunden werden konnte. Und die ganze Gegend begann sich mit unfaßbarer Schnelligkeit zu organisieren. Selbst um 2 Uhr noch hätte er mittels eines Zuges die Gegend verlassen können, nach 2 Uhr aber wurde auch dies unmöglich, denn alle Personenzüge in der ganzen Gegend fuhren mit versperrten Koupeetüren und der Güterverkehr war fast ganz eingestellt. Und in einem Umkreis von 20 Meilen brachen Gruppen von drei oder vier Männern, die mit Flinten und Knütteln bewaffnet waren, in Begleitung von Hunden auf, um Straßen und Felder zu durchsuchen.

Berittene Wachleute sprengten die Landstraßen entlang, hielten bei jedem Hause an und forderten die Bewohner auf, ihre Häuser zuzuschließen und sich innerhalb derselben zu halten, wenn sie nicht bewaffnet wären. Die Volksschulen wurden um 3 Uhr geschlossen und die Kinder eiligst nach Hause geschickt. Kemps Aufruf, der von Adye unterzeichnet war, war um 4 oder 5 Uhr nachmittags in der ganzen Gegend angeschlagen. Und so schnell und entschieden handelten die Behörden, so rasch und allgemein verbreitete sich der Glaube an jenes seltsame Wesen, daß noch vor Einbruch der Nacht eine Gegend von mehreren hundert Quadratmeilen Ausdehnung wie in Belagerungszustand versetzt war.

Mittlerweile wurde der Verwalter Lord Burdocks, Mr. Wicksteed, erschlagen aufgefunden.

Wenn unsere Voraussetzung, daß der Unsichtbare in den Wäldern von Hintondean eine Zuflucht gesucht hatte, richtig ist, so müssen wir annehmen, daß er am Nachmittag wieder aufbrach und einen Plan erwog, der den Gebrauch einer Waffe nötig machte. Wir können nicht wissen, welches dieser Plan war, aber die Tatsache, daß er die Eisenstange in der Hand trug, bevor er Wicksteed traf, ist immerhin überzeugend.

Natürlich kennen wir die Einzelheiten der Begegnung nicht. Es war im Dickicht am Rande einer Kiesgrube, nicht zweihundert Schritte von Lord Burdocks Parktor entfernt. Alles deutet auf einen verzweifelten Kampf hin, der zertretene Boden, die zahlreichen Wunden, die der Körper Mr. Wicksteeds aufwies, sein zersplitterter Spazierstock; aber warum der Angriff geschah, wenn nicht aus purer Mordlust, ist schwer zu begreifen. Es ist tatsächlich fast unvermeidlich, an Wahnsinn zu glauben. Mr. Wicksteed, der Verwalter Lord Burdocks, war ein Mann von etwa 55 Jahren und so friedfertig von Natur und Gewohnheiten, daß er der letzte gewesen wäre, einen so fürchterlichen Gegner zu reizen oder herauszufordern. Es scheint, daß der Unsichtbare aus einem eisernen Gitter eine Stange herausgebrochen hatte und diese als Waffe verwendete. Er trat dem ruhig zu seinem Mittagessen nach Hause gehenden Mann in den Weg, schlug ihn, der sich nur schwach verteidigte, nieder und zerschmetterte ihm das Haupt.

Er muß ja, natürlich, die Stange aus dem Gitter gerissen haben, ehe er seinem Opfer begegnete – muß sie schon zur Hand gehabt haben. Nur zwei Einzelheiten außer den schon genannten scheinen von Belang. Erstens, daß die Kiesgrube nicht an Mr. Wicksteeds Heimweg, sondern fast ein paar hundert Schritte entfernt lag. Und zweitens die Behauptung eines kleinen Mädchens, daß sie auf ihrem Weg zur Schule nachmittags den Ermordeten in einer ganz merkwürdigen Weise über einen Acker der Kiesgrube zu stapfen sah. So, wie sie seine Art zu gehen nachmachte, muß man auf den Gedanken kommen, daß der Mann irgend etwas vor sich auf der Erde verfolgte und dann und wann mit seinem Spazierstock darnach schlug. Die Kleine war die letzte, die ihn lebend sah. Er entschwand ihren Blicken, um seinem Tod entgegenzugehen, und nur eine Gruppe von Buchen und eine leichte Bodensenkung entzog den Kampf ihren Augen.

Dies könnte vielleicht zu einer Art Erklärung des sonst zwecklos scheinenden Mordes dienen. Man könnte sich vorstellen, daß Griffin die Stange allerdings als Waffe genommen hat, jedoch ohne die bestimmte Absicht, einen Mord zu begehen. Wicksteed mag dann vorübergekommen sein und die Stange, die sich auf so unerklärliche Weise durch die Luft bewegte, gesehen haben. Ohne überhaupt eine Ahnung von dem Unsichtbaren zu haben – denn Port Burdock liegt zehn Meilen weit von dort –, mag er sie verfolgt haben. Es ist ganz denkbar, daß er nichts von dem Unsichtbaren gehört hatte. Dieser hatte sich vielleicht – um seine Anwesenheit in der Nachbarschaft nicht zu verraten – ruhig davonmachen wollen, und Wicksteed hatte voller Neugier und Erregung den so unerklärlich sich bewegenden Gegenstand verfolgt und schließlich nach ihm geschlagen.

Unter gewöhnlichen Umständen hätte der Unsichtbare zweifellos seinem nicht mehr jungen Verfolger ausweichen können; aber die Lage, in der Wicksteeds Leichnam gefunden wurde, deutet darauf hin, daß er das Unglück hatte, seine Beute in einen Winkel zwischen einem Brennesseldickicht und der Kiesgrube zu treiben. Für jeden, der die außerordentliche Reizbarkeit des Unsichtbaren in Betracht zieht, wird das übrige des Zusammentreffens leicht begreiflich sein.

Es ist dies jedoch eine bloße Hypothese. Die einzige unleugbare Tatsache – denn was Kinder erzählen, ist häufig wenig zuverlässig – ist die Entdeckung von Wicksteeds Leichnam und der blutigen Eisenstange, die in den Brennesseln lag. Daß Griffin die Eisenstange wegwarf, läßt auf die Vermutung kommen, daß er – in der Gemütserregung jenes Ereignisses – die Absicht, in der er sie an sich gerissen hatte – wenn überhaupt eine bestimmte Absicht vorlag – aufgab. Gewiß war er ein unendlich selbstsüchtiger und gefühlloser Mensch; aber der Anblick seines Opfers, seines ersten Opfers, das da blutend und jammervoll zu seinen Füßen lag, mag doch eine lang zurückgedämmte Quelle von Gewissensbissen entfesselt haben, die, wenigstens vorübergehend, alle Pläne, die er vorgehabt hatte, wegschwemmte.

Nach diesem Mord scheint er das Land in der Richtung gegen die Düne durchwandert zu haben. Einige Leute wissen von einer Stimme zu erzählen, die sie auf einem Feld in der Nähe von Fern-Bottom hörten. Sie weinte und lachte, seufzte und stöhnte, und hie und da hörte man einen wilden Schrei. Hinter einem Berge verhallte sie.

In der Zwischenzeit muß der Unsichtbare gewahr geworden sein, welch schnellen Gebrauch Kemp von seinen vertraulichen Mitteilungen gemacht hatte. Er muß die Häuser versperrt und befestigt gefunden haben, er mag nach den Eisenbahnstationen und Wirtshäusern geschlichen sein, wo er zweifellos die Bekanntmachung las und sich über die Natur des Feldzuges, den man gegen ihn führte, klar wurde. Und wie der Abend hereinbrach, tauchten hie und da auf den Feldern Gruppen von drei oder vier Männern, in Begleitung von kläffenden Hunden, auf. Diese Jäger hatten für den Fall einer Begegnung mit ihm besondere Weisungen erhalten, wie sie einander beistehen könnten. Aber er wich ihnen allen aus. Wir können seine Verzweiflung begreifen, und sie mag durch das Bewußtsein, daß er selbst die Handhabe zu einer so grausamen Jagd gegen sich geboten hatte, nicht verringert worden sein. Einen Tag lang verlor er den Mut; durch vierundzwanzig Stunden war er außer im Kampf gegen Wicksteed wie ein gehetztes Wild. In der Nacht muß er gegessen und geschlafen haben, denn am Morgen war er wieder er selbst, tätig, energisch, rachsüchtig und bereit, seinen letzten großen Kampf gegen die Welt aufzunehmen.


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