Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

22. Kapitel
Im Warenhaus

»So begann ich im Januar dieses Jahres, eben als ein Schneesturm loszubrechen drohte – und wenn sich der Schnee auf mir festsetzte, mußte er mich verraten! – erkältet, müde, mit Schmerzen, unsagbar elend und noch immer erst halb von meiner Unsichtbarkeit überzeugt, dieses neue Leben, zu welchem ich verdammt bin. Ich hatte keine Zuflucht, keine Hilfe, kein menschliches Wesen auf der ganzen Welt, welchem ich vertrauen konnte. Hätte ich mein Geheimnis verraten, hätte ich mich selbst zugrunde gerichtet – wäre zu einer bloßen Sehenswürdigkeit, einem Naturwunder herabgesunken. Nichtsdestoweniger war ich unschlüssig, ob ich nicht den ersten besten Vorübergehenden ansprechen und mich seiner Barmherzigkeit anvertrauen sollte. Aber ich kannte nur zu gut den Schrecken, den mein Geständnis hervorrufen würde. Auf der Straße faßte ich keinen Plan. Mein einziger Gedanke war, vor dem Schnee Schutz zu finden, mir Kleider zu verschaffen und mich zu erwärmen; dann konnte ich daran denken, Pläne zu machen. Aber die Häuser in London waren alle verschlossen und verriegelt und selbst für mich Unsichtbaren unzugänglich.

Da kam ich auf einen glänzenden Gedanken. Ich kehrte um und ging durch die Gower Street bis zum Omnium, dem großen Warenhaus, in dem man alles kaufen kann – Sie kennen es wohl: Fleisch, Grünzeug, Wäsche, Möbel, Kleider, selbst Ölgemälde. Ich hatte gehofft, die Türen offen zu finden, aber sie waren geschlossen. Als ich in der großen Einfahrt stand, hielt ein Wagen draußen und ein Mann in Uniform – Sie kennen die Leute mit ›Omnium‹ auf den Mützen – riß die Tür auf. Es gelang mir, hineinzukommen; ich ging durch das Magazin durch – es war die Abteilung, in der man Bänder, Handschuhe, Strümpfe und dergleichen verkauft – und gelangte in eine noch geräumigere Region, wo alle erdenklichen Korbwaren aufgestellt waren.

Aber auch dort fühlte ich mich nicht sicher, denn fortwährend kamen und gingen Menschen, und ich wanderte ruhelos umher, bis ich zu einer riesigen Abteilung in einem oberen Stockwerk gelangte, welche ungeheure Mengen von Bettstellen enthielt. Ich kletterte über diese hinüber und fand endlich einen Ruheplatz zwischen aufgehäuften Matratzen. Der Raum war schön beleuchtet und behaglich warm, und ich beschloß, hier versteckt zu bleiben und ein wachsames Auge auf das halbe Dutzend Verkäufer und die paar Kunden zu haben, bis die Zeit zum Schließen kommen würde. Dann würde es mir möglich sein, dachte ich, mich dort nach Nahrung, Kleidung und einer Maske umzusehen, das Haus zu durchsuchen und vielleicht auf dem Bettzeuge dort zu schlafen. Der Plan schien mir annehmbar. Meine Absicht war, mir Kleider zu verschaffen, mich in nicht zu auffälliger Weise zu vermummen, Geld zu nehmen, meine Bücher und Pakete abzuholen, dann irgendwo eine Wohnung zu mieten und einen Plan zur vollständigen Ausnutzung der Vorteile, welche mir, wie ich noch immer dachte, meine Unsichtbarkeit über meine Mitmenschen gab, auszuarbeiten.

Die Sperrstunde kam schnell genug heran. Ich kann nicht mehr als eine Stunde auf den Matratzen gelegen sein, als die Fensterladen geschlossen und die Kunden hinausgeleitet wurden. Und dann begann eine Anzahl junger Leute mit anerkennenswerter Schnelligkeit die in Unordnung gebrachten Waren zurechtzulegen. Sowie sich das Warenhaus leerte, verließ ich mein Versteck und stieg vorsichtig in die weniger öden Abteilungen im unteren Stockwerk hinab. Ich war wirklich überrascht, zu sehen, wie schnell die jungen Leute die Waren einräumten, die Stühle auf die Ladentische stellten und sich mit einem Ausdruck von Lebhaftigkeit, wie ich ihn noch selten an Verkäufern gesehen hatte, den Türen zuwandten. Dann kam eine ganze Menge Lehrjungen mit Besen und Staubwedeln, um rein zu machen, und endlich, eine gute Stunde, nachdem das Etablissement geschlossen worden war, hörte ich die Riegel vorschieben. Stille lagerte sich über den Ort, und ich wanderte durch die weiten Magazine, Galerien, Verkaufsräume – einsam und allein.

Mein erster Gang galt dem Ort, an dem man Strümpfe und Handschuhe zum Verkauf ausgeboten hatte. Es war dunkel und ich suchte mühsam nach Zündhölzchen; endlich fand ich welche in einer Schublade des Kassenpultes. Dann mußte ich mir eine Kerze suchen. Ich war gezwungen, die Hüllen herunterzureißen und eine Menge Schubladen in Unordnung zu bringen; aber endlich gelang es mir zu finden, was ich suchte. Die Aufschrift auf dem Kasten, aus dem ich sie nahm, lautete: ›Wolljacken und Wollwesten‹. Dann nahm ich Socken, ein dickes Halstuch und aus der Kleiderabteilung Beinkleider, eine lange Jacke, einen Überrock und einen breitrandigen Hut mit abwärts gebogener Krempe. Ich begann mich wieder als Mensch zu fühlen, und mein nächster Gedanke war auf Speise und Trank gerichtet.

Oben war eine Abteilung für Erfrischungen, und dort fand ich kaltes Fleisch. In einer Kanne war noch Kaffee; ich zündete das Gas an und wärmte ihn wieder, und alles in allem ging es mir nicht schlecht. Nachher, als ich den Ort nach Bettüchern durchsuchte – ich mußte mich schließlich mit Daunenkissen begnügen – stieß ich auf eine große Menge von Schokolade, verzuckerten Früchten – mehr als gut für mich war – und etwas weißen Burgunder. In der Nähe war ein Spielwarenlager, und ich kam auf einen glänzenden Gedanken. Ich fand dort künstliche Nasen – für Faschingsmaskeraden – und machte mich auf die Suche nach einer dunklen Brille. Aber das Omnium hatte keine optische Abteilung. Meine Nase hatte mir wirklich Sorgen gemacht. Ich hatte ursprünglich an Schminke gedacht. Aber meine Entdeckung ließ mich mehr an Perücken und Masken denken. Endlich legte ich mich, warm und behaglich, in meinen Daunenkissen zur Ruhe.

Meine letzten Gedanken vor dem Einschlummern waren die angenehmsten, die ich seit meiner Verwandlung gehabt hatte. Ich befand mich in einem Zustande physischer Befriedigung, der sich meinem Geiste mitteilte. Ich dachte, daß es mir gelingen würde, am nächsten Morgen in meinen Kleidern unbemerkt zu entschlüpfen, mein Gesicht mit einem Tuch, welches ich zu diesem Zweck genommen hatte, zu bedecken, mit dem zusammengerafften Gelde Augengläser zu kaufen und so meine Verkleidung zu vervollkommnen. Ich verfiel in unzusammenhängende Träume über all die phantastischen Ereignisse der letzten Tage. Ich sah den häßlichen Kerl, meinen Hauswirt, in seinem Zimmer fluchen; ich sah seine beiden Söhne und das faltige Gesicht der Alten, die nach ihrer Katze fragte. Dann stand ich wieder auf dem zugigen Hügel und hörte den alten Geistlichen an meines Vaters offenem Grabe murmeln: ›Erde zur Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.‹

›Auch du,‹ sagte eine Stimme, und plötzlich wurde ich gegen das Grab gedrängt. Ich wehrte mich, schrie, rief die Trauergäste um Hilfe an, aber diese folgten mit unerschütterlicher Aufmerksamkeit dem Gottesdienst. Auch der alte Geistliche wich und wankte nicht. Ich entdeckte, daß ich unsichtbar und unhörbar war und überirdische Mächte ihre Hand auf mich gelegt hatten. Umsonst widerstrebte ich, ich wurde über den Rand gedrängt, der Sarg klang hohl, als ich auf ihn fiel, und eine Schaufel Erde nach der andern wurde mir nachgeworfen. Niemand achtete meiner, niemand gewahrte mich. Ich machte eine verzweifelte Bewegung des Widerstandes und erwachte.

Die bleiche Londoner Dämmerung war angebrochen, das Haus war von einem kalten, grauen Licht erfüllt, das sich durch die Fensterläden hindurchstahl. Ich richtete mich auf und eine Zeitlang konnte ich mich nicht besinnen, wie ich in diesen weiten Raum mit den Zahltischen, den aufgestapelten Waren und den Haufen von Kissen hineingeraten war. Dann, als mein Erinnerungsvermögen zurückkehrte, hörte ich Stimmen im Gespräch.

Weit von mir sah ich in dem helleren Licht einer Abteilung, wo die Vorhänge schon zurückgezogen waren, zwei Männer, die ihre Schritte nach meinem Zufluchtsort lenkten. Ich sprang auf die Füße und blickte mich nach einem Versteck um; schon aber hatte sie das Geräusch meiner Bewegung aufmerksam gemacht. Ich vermute, daß sie nur eine Gestalt sahen, die sich geräuschlos entfernte. ›Wer ist da?‹ rief der eine, und ›Halt!‹ schrie der andere. Ich flog um eine Ecke und kam geradeswegs – eine Gestalt ohne Gesicht, bedenken Sie das! – auf einen schlanken, fünfzehnjährigen Burschen zu. Er schrie gellend auf, ich warf ihn zu Boden, eilte an ihm vorbei, bog um eine andere Ecke und warf mich, einer glücklichen Eingebung folgend, hinter einem Ladentisch flach nieder. Im nächsten Augenblick kamen eilige Schritte an mir vorbei und ich hörte Stimmen rufen: ›Alle zu den Türen!‹

Während ich am Boden lag, verließ mich die Überlegung vollständig. So seltsam es scheinen mag, in jenem Augenblick fiel mir nicht ein, meine Kleider auszuziehen, was das klügste gewesen wäre. Wahrscheinlich hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, in denselben zu entfliehen, und diese Idee beherrschte mich. Und dann ertönte ein Schrei unmittelbar vor mir: ›Hier ist er!‹

Ich sprang auf, ergriff einen Stuhl vom Ladentisch, wirbelte ihn durch die Luft und ließ ihn schwer auf den Kerl niederfallen, der gerufen hatte. Als ich um die Ecke biegen wollte, traf ich auf einen andern, schlug auch ihn nieder und eilte die Treppe hinauf. Der Bursche eilte mir nach, rief laut ›Achtung!‹ und stieg dicht hinter mir die Treppe hinauf. Da bemerkte ich auf einem Gestell einen Haufen hellfarbiger Töpfe, ergriff einen derselben, wandte mich auf der letzten Stufe um und ließ ihn schmetternd auf seinen dummen Schädel niederfallen. Die ganze Reihe Töpfe polterte herunter und ich hörte von allen Seiten verworrenes Schreien und eilende Schritte. In tollem Lauf rannte ich nach dem Büfettzimmer; dort war ein weißgekleideter Mann, vermutlich ein Koch, der die Jagd von neuem begann. Ich machte eine letzte, verzweifelte Wendung und fand mich zwischen Lampen und Eisenwaren. Ich floh hinter den Ladentisch, erwartete dort meinen Koch, und als dieser an der Spitze der Verfolger in der Tür erschien, warf ich eine Lampe auf ihn. Er stürzte zu Boden und ich kroch wieder hinter den Ladentisch und begann, so schnell ich konnte, mich meiner Kleider zu entledigen. Rock, Weste, Beinkleider, Schuhe gingen leicht, aber ein Schafwollleibchen sitzt fester. Ich hörte wieder Menschen kommen, mein Koch lag regungslos auf der andern Seite des Tisches und ich mußte ein neues Versteck suchen.

›Hierher, Schutzmann!‹ hörte ich jemand rufen. Ich fand mich wieder in meinem Bettwarenlager, an das sich eine unendliche Flucht von Abteilungen mit Kleidern anschloß. In diese stürzte ich hinein, wurde mein letztes Kleidungsstück nach verzweifeltem Zerren endlich los und stand wieder als ein freier Mann, aber keuchend und erschöpft, vor dem Schutzmann und den drei Verkäufern, welche eben um die Ecke bogen. Sie stürzten sich auf meine Jacke und packten meine Beinkleider. ›Er wirft seinen Raub weg,‹ sagte einer der jungen Leute. ›Er muß irgendwo hier sein!‹

Aber sie fanden mich doch nicht.

Ich beobachtete die Jagd noch einige Zeit und verfluchte mein Mißgeschick, durch welches ich die Kleider wieder verloren hatte. Dann ging ich in den Büfettraum, trank dort ein wenig Milch, setzte mich ans Feuer und überdachte meine Lage.

Ein kleines Weilchen später kamen zwei Leute herein und begannen die Ereignisse sehr aufgeregt zu besprechen. Ich hörte eine übertriebene Aufzählung aller meiner Missetaten und alle möglichen Vermutungen über meine Person. Dann fing ich wieder an, Pläne zu schmieden. Jetzt, da das Haus alarmiert war, wäre es unendlich schwierig gewesen, irgendetwas daraus zu entwenden. Ich ging in den Packraum hinab, um zu sehen, ob es möglich wäre, ein Paket zu packen und an mich zu adressieren, aber ich verstand die Art des Versandes nicht. Gegen elf Uhr begann es zu tauen, und da das Wetter schöner und etwas wärmer als am vorhergehenden Tage war, gab ich das Warenhaus als hoffnungslos auf und ging wieder auf die Straße hinaus, verzweifelt über meinen Mißerfolg und ganz und gar im Ungewissen, was ich nun beginnen sollte.«


 << zurück weiter >>