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24. Kapitel
Der Plan mißlingt

»Was soll also,« fragte Kemp mit einem Seitenblick durch das Fenster, »jetzt geschehen?«

Er trat näher an seinen Gast heran, um zu verhindern, daß dieser zufällig die drei Männer erblicke, die – unerträglich langsam schien es Kemp – den Hügel heraufkamen.

»Welche Absicht leitete Sie, als Sie nach Port Burdock gingen? Hatten Sie überhaupt einen Plan?«

»Ich wollte das Land verlassen. Aber seitdem ich Sie traf, habe ich meine Absicht geändert. Ich dachte, es wäre klug, jetzt, wo das Wetter heiß und Unsichtbarkeit möglich ist, nach dem Süden zu reisen. Besonders da mein Geheimnis bekannt geworden war, und jeder nach einem maskierten, vermummten Menschen Ausschau halten würde. Von hier nach Frankreich gehen verschiedene Dampfer. Mein Plan war, an Bord eines derselben zu gelangen und die Gefahr der Entdeckung während der Überfahrt zu riskieren. Von dort konnte ich mit der Bahn nach Spanien und von da nach Algier gelangen. Das konnte keine Schwierigkeit bieten. Dort kann man immer unsichtbar sein und doch leben. Und handeln. Ich gebrauchte den Landstreicher als Geldkasse und Gepäckträger, bis ich mich entschieden haben würde, auf welche Weise ich wieder in den Besitz meiner Bücher und Habseligkeiten gelangen könnte.«

»Das ist klar.«

»Und der Elende mußte mich berauben! Er hat meine Bücher versteckt, Kemp. Meine Bücher versteckt! Wenn ich ihn erwische! ...«

»Erst sollte man versuchen, von ihm die Bücher herauszulocken.«

»Aber wo ist er? Wissen Sie es?«

»Er ist im Stadtgefängnis und auf seine eigene Bitte in die festeste Zelle eingeschlossen worden.«

»Der Hund!« rief der Unsichtbare aus.

»Aber das verzögert Ihre Pläne.«

»Wir müssen die Bücher wiederbekommen. – Das ist eine Lebensfrage für mich.«

»Gewiß,« sagte Kemp, ein wenig nervös und angestrengt horchend, ob er nicht Schritte draußen vernehme. »Gewiß müssen wir die Bücher haben. Aber das wird nicht schwer sein, wenn er nicht weiß, daß sie für Sie bestimmt sind.«

»Nein,« sagte der Unsichtbare und versank in tiefe Gedanken.

*

Kemp versuchte einen neuen Stoff zu finden, um das Gespräch aufrechtzuerhalten, aber der Unsichtbare fuhr aus eigenem Antrieb fort.

»Daß ich in Ihr Haus geraten bin, Kemp,« sagte er, »ändert alle meine Pläne. Sie sind ein Mensch, der Verstand besitzt. Trotz allem, was geschehen ist, trotz des Bekanntwerdens meiner Existenz, trotz des Verlustes meiner Bücher, trotz meiner Leiden, bleiben noch reichlich Mittel und Wege – – Sie haben niemand gesagt, daß ich hier bin?« fragte er unvermittelt.

Kemp zögerte. »Das war doch ausgemacht,« sagte er.

»Niemand?« fragte Griffin dringender.

»Keiner Seele.«

»Ah! Dann – – –« Der Unsichtbare erhob sich, stemmte die Arme in die Seite und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Als ich versuchte, die Sache allein durchzuführen, war ich von einem Irrtum befangen, Kemp, einem ungeheuren Irrtum. Ich habe Zeit und Kraft verschwendet und die günstigsten Gelegenheiten versäumt, weil ich allein war. Es ist seltsam, wie wenig ein Mensch allein tun kann! Ein wenig rauben, ein wenig verwunden, und das ist auch alles.

Was ich brauche, Kemp, ist ein Helfer und ein Versteck; die Sicherheit, daß ich in Frieden und unverdächtig schlafen, essen und rauchen kann. Ich muß einen Verbündeten haben. Mit einem Verbündeten, mit Nahrung und Ruhe werden tausend Dinge möglich.

Bis hierher bin ich ins Ungewisse vorgegangen. Wir müssen in Betracht ziehen, was Unsichtbarkeit bedeutet, und was sie nicht bedeutet. Sie ist von Nutzen, um ungesehen alles hören zu können, wenn man vorsichtig jedes Geräusch vermeidet. Sie hilft ein wenig – bei Raub, Einbruch und dergleichen. – Hat man mich jedoch einmal, so kann man mich leicht gefangen halten. Aber andererseits bin ich schwer zu fangen. Tatsächlich ist die Unsichtbarkeit nur in zwei Fällen wertvoll: um zu entkommen und um sich zu nähern. Daher ist sie ganz besonders wertvoll, wenn man einen Menschen töten will. Ich kann um einen Menschen herumgehen, mag er welche Waffe er will haben, die geeignetste Stelle wählen, ihn treffen, wie ich will, ausweichen, wie ich will, entwischen, wie ich will.«

Kemp drehte seinen Schnurrbart. War das nicht eine Bewegung unten?

»Und töten müssen wir, Kemp.« – –

»Töten müssen wir,« wiederholte Kemp; »ich höre Ihren Plänen zu, Griffin, aber ich erkläre Ihnen, daß ich sie nicht billige. Warum töten?«

»Kein Mord aus bloßem Übermut, sondern ein wohlerwogenes Töten. Die Sache ist die: man weiß, daß es einen unsichtbaren Menschen gibt, die Leute hier wissen es alle – so gut wie wir selbst – und dieser Unsichtbare, Kemp, muß jetzt ein Schreckensregiment führen. Ja – es ist ungewöhnlich, gewiß, aber ich meine es im Ernst. Ein Schreckensregiment. Er muß irgendeine Stadt einnehmen, wie Ihr Burdock zum Beispiel, und sie durch Schrecken beherrschen. Er muß seine Befehle herausgeben. Er kann dies auf tausend Arten tun – Papierstreifen, welche durch die Türen geschoben werden, würden genügen. Und alle, welche seine Befehle mißachten, muß er töten und alle die, welche den Ungehorsamen zu Hilfe kommen.«

»Hm!« sagte Kemp, der nicht länger auf Griffin hörte, sondern auf das Öffnen und Schließen der Haustür lauschte.

»Es scheint mir, Griffin,« sagte er, um seine Unaufmerksamkeit zu verbergen, »daß Ihr Verbündeter in eine schwierige Lage käme.«

»Niemand wüßte, daß er mein Verbündeter wäre,« erklärte der Unsichtbare eifrig. Und dann plötzlich: »Pst! Was ist das unten?«

»Nichts,« erwiderte Kemp und begann laut und schnell zu sprechen. »Ich billige dies nicht, Griffin,« sagte er. »Verstehen Sie mich wohl, ich billige dies nicht. Warum wollen Sie sich in einen so feindlichen Gegensatz zu Ihren Mitmenschen stellen? Wie können Sie hoffen, glücklich zu werden? Geben Sie Ihrem Wunsche nach Einsamkeit doch nicht nach. Veröffentlichen Sie Ihre Entdeckungen – ziehen Sie die Welt – oder doch die Nation in Ihr Vertrauen. Stellen Sie sich vor, was Sie mit einer Million eifriger Mitarbeiter bewirken könnten – – –«

Der Unsichtbare unterbrach ihn, den Arm ausstreckend. »Ich höre Schritte die Treppe heraufkommen,« sagte er.

»Unsinn!« meinte Kemp.

»Lassen Sie mich sehen,« sagte der Unsichtbare und näherte sich mit ausgestrecktem Arm der Tür.

Und dann jagten sich die Ereignisse mit unglaublicher Schnelligkeit. Kemp zögerte einen Augenblick, dann stellte er sich ihm in den Weg. Der Unsichtbare fuhr zusammen und stand still. »Verräter!« schrie die Stimme, und plötzlich öffnete sich der Schlafrock und der Unsichtbare begann sich zu entkleiden. Kemp erreichte mit drei Schritten die Tür, als der Unsichtbare mit einem lauten Ausruf aufsprang. Kemp riß die Tür auf.

Zugleich hörte man das Geräusch eilends sich nähernder Schritte und Stimmengewirr von unten.

Mit einer schnellen Bewegung warf Kemp den Unsichtbaren zurück, sprang beiseite und schlug die Tür hinter sich zu. Den Schlüssel hatte er schon früher von außen ins Schloß gesteckt. Im nächsten Augenblick wäre Griffin im Studierzimmer gefangen gewesen – hätte sich nicht ein geringfügiger Umstand ereignet. Der Schlüssel war am Morgen hastig hineingeschoben worden. Als Kemp die Tür zuschlug, fiel er auf den Teppich.

Kemp wurde kreideweiß. Mit beiden Händen umklammerte er die Türklinke. Einen Augenblick hielt er sie fest zu. Dann gab sie sechs Zoll weit nach. Aber es gelang ihm, sie wieder zu schließen. Das zweite Mal öffnete sie sich einen Fuß weit und der Schlafrock zwängte sich in die Öffnung. Unsichtbare Finger umklammerten seinen Hals, so daß er die Türklinke loslassen mußte, um sich zu verteidigen. Er wurde zurückgedrängt und mit Gewalt in einen Winkel des Ganges geschleudert. Der Schlafrock flog über ihn hinweg. In der Mitte der Treppe stand der Empfänger von Kemps Brief, Oberst Adye, Chef der Polizei in Burdock. Verblüfft starrte er auf das plötzliche Erscheinen Kemps und den außergewöhnlichen Anblick von leer durch die Luft fliegenden Kleidern. Er sah, wie Kemp niedergeworfen wurde und sich wieder zu erheben suchte. Er sah ihn vorwärts eilen und dann wuchtig zusammenstürzen.

Dann erhielt er plötzlich selbst einen heftigen Stoß. Durch ein Nichts! Es schien, als ob ein schweres Gewicht sich auf ihn lege und er wurde kopfüber die Treppe hinunterbefördert. Ein unsichtbarer Fuß trat auf seinen Rücken, geisterhafte Fußtritte gingen die Treppe hinab, er hörte die beiden Schutzmänner in der Halle laut schreien und die Haustür heftig zuschlagen. Ganz verwirrt setzte er sich auf. Er sah, wie Kemp mit blutenden Lippen und geschwollenem Gesicht, einen roten Schlafrock im Arme, die Treppe herunterwankte.

»Mein Gott!« rief Kemp, »das Spiel ist aus! Er ist fort!«


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