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6. Kapitel
Das verhexte Zimmer

Nun geschah es, daß am frühen Morgen des Pfingstmontags, bevor Millie aus den Federn getrieben wurde, Mr. und Mrs. Hall gemeinsam aufstanden und geräuschlos in den Keller gingen. Ihre Arbeit dort war eine Privatangelegenheit und stand im Zusammenhange mit dem spezifischen Gewicht ihres Bieres.

Sie waren kaum im Keller angelangt, als Mrs. Hall fand, daß sie die Flasche Sassaparille aus ihrem gemeinsamen Zimmer mitzunehmen vergessen hatte. Da sie die Sachverständige und Leiterin in dieser kleinen Angelegenheit war, so war es nur in der Ordnung, daß Hall die Flasche holte.

Im Flur sah er mit Erstaunen, daß die Tür des Fremden halb offen stand. Er ging in sein eigenes Zimmer und fand die Flasche an ihrem Platz.

Als er aber mit derselben zurückkehrte, bemerkte er, daß die Riegel der Haustür zurückgeschoben und das Tor nur einfach zugeklinkt war. Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Gedanke, diese Tatsache mit des Fremden Zimmer im ersten Stock und dem Verdacht, den ihm Teddy Henfrey eingeflößt hatte, in Verbindung zu bringen. Er erinnerte sich deutlich, das Licht gehalten zu haben, als Mrs. Hall die Tür für die Nacht verriegelte. Bei dem überraschenden Anblick blieb er mit offenem Munde stehen, dann ging er, die Flasche in der Hand, noch einmal hinauf. Er klopfte an der Tür des Fremden. Keine Antwort. Er klopfte wieder; dann stieß er die Tür weit auf und trat ein.

Es war, wie er erwartet hatte. Das Bett und auch das Zimmer waren leer. Und was selbst seiner schwerfälligen Intelligenz noch merkwürdiger erschien, auf dem Stuhl neben dem Bett und auf dem Bettrand lagen Kleidungsstücke herum, soviel er wußte, die einzigen Kleider des Gastes und alle seine Verbände. Selbst der große Schlapphut war nachlässig über den Bettpfosten gestülpt.

Wie Hall dort stand, drang die Stimme seiner Frau in dem fragenden Tonfalle höchster Ungeduld aus den Tiefen des Kellers zu ihm herauf: »Georg! Hast du, was wir brauchen?«

Darauf wandte er sich um und eilte zu ihr hinunter. »Jenny!« rief er ihr über das Geländer der Kellerstiege zu, »Henfrey hat recht mit dem, was er sagt; er ist nicht in seinem Zimmer und die Haustür ist nicht verriegelt!«

Anfangs verstand ihn Mrs. Hall nicht; aber sobald sie es begriff, beschloß sie, sich das leere Zimmer selbst anzusehen. Hall, der die Flasche noch immer in der Hand hielt, ging voran. »Wenn er auch nicht da ist,« sagte er, »seine Kleider sind da. Und was kann er ohne Kleider tun? Eine sehr kuriose Geschichte!«

Als sie die Kellertreppe heraufkamen, glaubten sie beide, wie man später feststellte, die Haustür auf- und zugehen zu hören. Aber da sie sahen, daß die Tür geschlossen und nichts dort war, machte damals keiner von beiden eine Bemerkung darüber. Auf dem Gang eilte Mrs. Hall an ihrem Gatten vorbei und lief zuerst die Treppe hinauf. Jemand nieste auf der Stiege. Hall, der sechs Schritte hinter ihr ging, glaubte, daß sie genießt habe. Sie, die voranging, war der Meinung, daß es ihr Mann gewesen sei. Sie riß die Tür auf und sah ins Zimmer hinein. »Das ist doch merkwürdig,« sagte sie.

Sie hörte ein Räuspern dicht hinter sich; und als sie den Kopf wandte, war sie erstaunt, Hall ein Dutzend Schritte weit entfernt auf der obersten Stufe zu sehen. Aber im nächsten Augenblick stand er neben ihr. Sie beugte sich nieder und legte ihre Hand auf das Kissen und dann unter das Bettuch.

»Ganz kalt,« sagte sie. »Er ist seit mehr als einer Stunde auf.«

Da ereignete sich etwas höchst Wunderbares.

Die Bettücher ballten sich zusammen, erhoben sich plötzlich zu einer Art Hügel und flogen dann geradeaus über den Bettrand hinweg. Gerade, als ob eine Hand sie in der Mitte gepackt und beiseite geworfen hätte. Unmittelbar darauf schnellte der Hut vom Bettpfosten weg, flog im Halbkreis durch die Luft und traf Mrs. Hall mitten ins Gesicht. Ebenso schnell kam der Schwamm vom Waschtisch und dann drehte der Stuhl – des Fremden Rock und Beinkleider nachlässig beiseite werfend und mit einem, dem des Fremden merkwürdig ähnlich klingenden trockenen Auflachen – alle vier Beine gegen Mrs. Hall, schien einen Augenblick auf sie zu zielen und ging dann auf sie los. Sie kreischte auf und drehte sich um; da kamen die Stuhlbeine langsam, aber sicher auf ihren Rücken zu und trieben sie und Hall aus dem Zimmer. Die Tür schlug heftig zu und wurde verriegelt. Einen Augenblick lang schienen Stuhl und Bett einen Siegestanz aufzuführen, dann wurde plötzlich alles still.

Mrs. Hall lag halb ohnmächtig in den Armen ihres Gatten. Mit schwerer Mühe gelang es ihm und Millie, die durch das Angstgeschrei wach geworden war, sie die Treppe hinunterzuschaffen und mit den Mitteln, die man in solchen Fällen anzuwenden pflegt, zu stärken.

»Das waren Geister!« stöhnte Mrs. Hall. »Ich weiß, daß es Geister waren. Ich habe in den Zeitungen davon gelesen. Tische und Stühle springen und tanzen herum ...«

»Nimm noch einen Tropfen, Jenny,« begütigte Hall. »Es wird dich beruhigen.«

»Sperr ihn aus! Laß ihn nicht wieder herein! Ich ahnte es ... Ich hätte es wissen können! Mit seinen Glasaugen und dem verbundenen Kopf, und nie ging er Sonntags in die Kirche, und alle diese Flaschen, mehr als ein Christenmensch haben darf. Er hat die Möbel verhext ... Meine gute alte Zimmereinrichtung! In diesem selbigen Stuhl pflegte meine liebe selige Mutter zu sitzen, wie ich noch ein kleines Mädchen war! Zu denken, daß er jetzt auf mich losgeht!«

»Nimm noch einen Tropfen, Jenny,« sagte Hall; »deine Nerven sind in einem schrecklichen Zustand.«

Im goldenen Morgensonnenschein schickten sie Millie über die Gasse, Mr. Sandy Wadgers, den Schmied, zu wecken.

»Eine Empfehlung von Mr. Hall und die Möbel oben benehmen sich so seltsam, ob Mr. Wadgers herüberkommen wolle?«

Mr. Wadgers war ein kluger Mann und ein findiger Kopf. Er nahm den Fall sehr ernsthaft. »Ich will verdammt sein, wenn das nicht Hexerei ist,« war seine Ansicht. »Solchen Dingen ist man nicht gewachsen.«

Sehr bedächtig folgte er dem Rufe. Sie baten ihn, voraus ins Zimmer hinaufzugehen, aber er schien es damit nicht eilig zu haben und zog es vor, auf dem Gange mit ihnen zu sprechen. Drüben kam Huxters Lehrling heraus und begann die Fensterladen zu öffnen. Er wurde herübergerufen, um an der Beratung teilzunehmen. Natürlicherweise folgte ihm Mr. Huxter wenige Minuten später. Die Neigung des Angelsachsen für parlamentarische Formen trat deutlich zutage: es wurde sehr viel gesprochen, aber wenig getan.

»Wir wollen erst die Tatsachen rekapitulieren,« verlangte Mr. Sandy Wadgers. »Wir müssen uns klar darüber sein, ob wir auch recht daran tun, die Tür dort gewaltsam zu öffnen. Eine unversperrte Tür kann man immer öffnen, aber wenn man einmal eine erbrochen hat, kann man es nicht mehr ungeschehen machen.«

Und plötzlich und wunderbarerweise öffnete sich die Tür des Zimmers oben von selbst, und wie sie betroffen hinaufblickten, sahen sie auf der Treppe die vermummte Gestalt des Fremden, der sie mit seinen unvernünftig großen Schutzgläsern noch starrer und undurchdringlicher als sonst anblickte. Steif und langsam kam er herab, den Blick unverwandt auf sie geheftet. Er ging durch den Flur, glotzte sie an, dann blieb er stehen.

»Da – seht,« sagte er. Ihre Augen folgten der Richtung seines behandschuhten Fingers und sahen eine Flasche Sassaparille dicht neben der Kellertür stehen. Dann ging er ins Gastzimmer und schlug schnell und boshaft die Tür vor ihrer Nase zu.

Kein Wort wurde gesprochen, bis das letzte Echo verhallt war. Sie starrten einander an.

»Wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte!« begann Mr. Wadgers, ließ aber den Satz unvollendet.

»Ich würde hineingehen und mit ihm sprechen,« wandte er sich hierauf zu Hall. »Ich würde auf einer Erklärung bestehen.«

Es brauchte einige Zeit, bevor man den Mann so weit gebracht hatte. Endlich klopfte er an, öffnete die Tür und begann:

»Bitte um Entschuldigung ...«

»Gehen Sie zum Teufel!« rief der Fremde mit fürchterlicher Stimme, »und schließen Sie die Tür hinter sich!«

So endigte diese kurze Unterredung.


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