Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Epilog

An einem hellen Sommermorgen, genau dreißig Jahre nach dem Aufstieg der ersten deutschen Luftflotte, geschah es, daß ein alter Mann, der eine verlaufene Henne suchte, einen kleinen Jungen durch die Ruinen von Bun Hill und in der Richtung der zerbröckelten Zinnen des Kristallpalastes mitnahm. Es war kein sehr alter Mann; in ein paar Wochen wurde er dreiundsechzig. Aber das fortwährende Bücken über Spaten und Harke, das Schleppen von Dünger und Gemüsen und das jeder Witterung in freier Luft Ausgesetztsein, ohne die Kleider zu wechseln, hatten ihn fast in die Form einer Sichel gebogen. Zudem hatte er fast alle seine Zähne verloren, was seine Verdauung, seinen Teint und seine Laune beeinträchtigt hatte. In Gesicht und Ausdruck glich er ganz merkwürdig dem alten Thomas Smallways, der dereinst Kutscher bei Sir Peter Bone gewesen war; und das war auch vollständig in der Ordnung, denn es war Tom Smallways, der Sohn, der einst den kleinen Grünkramhandel unter der Einschienenbahnbrücke in der Hauptstraße von Bun Hill innegehabt hatte. Jetzt gab es keine Grünkramläden mehr, und Tom lebte in einer der verödeten Villen dicht neben den brachliegenden Bauplätzen, die dereinst der Schauplatz seiner täglichen Gartenkünste gewesen und auch jetzt noch waren. Er und seine Frau wohnten im ersten Stock; und in den Wohn- und Speiseräumen, deren französische Fenster auf den Rasen hinausgingen, überhaupt im ganzen unteren Stock, hielt Jessika, jetzt eine hagere, runzlige, ziemlich kahlköpfige, aber noch immer höchst energische und tätige Alte, ihre drei Kühe und einen Haufen gackernder Hühner.

Die beiden waren Mitglieder einer kleinen Gemeinde von Herumstreichern und zurückgekehrten Flüchtlingen, vielleicht im ganzen hundertfünfzig Seelen, die sich, nach der Panik und Hungersnot und Pestilenz, die die Folgen des Krieges waren, in den neuen Verhältnissen niedergelassen hatten. Sie waren nacheinander aus allerlei seltsamen Verstecken und Zufluchtsorten gekommen, hatten sich inmitten der wohlbekannten Häuser angesiedelt und hatten den harten Kampf ums Brot gegen die Natur begonnen, der jetzt das Hauptinteresse ihres Lebens bildete. Sie waren – eben weil dieser Kampf sie so ganz in Anspruch nahm – friedliebende Leute, ganz besonders seitdem Wilkes, der Häuseragent, aufgestachelt durch einen nicht mehr ganz zeitgemäßen Traum von Erwerb, im Teich bei den zerstörten Gaswerken ertränkt worden war, weil er nach Rechtsansprüchen und Kontrakten fragte und überhaupt sich von streitsüchtiger Gesinnung zeigte. (Er war nicht etwa ermordet worden, wohlverstanden, sondern die Leute hatten ein exemplarisches Untertauchen etwa zehn Minuten über die der Gesundheit zuträgliche Grenze ausgedehnt.)

Diese kleine Gemeinde war von ihren früheren Gewohnheiten eines vorstädtischen Parasitentums zurückgekehrt zu einem Leben, wie es zweifellos undenkliche Zeiten hindurch das normale Leben der Menschheit gewesen war – ein Leben primitivster Landwirtschaft, in engster Berührung mit Kühen und Hühnern und kleinen Stücken Ackerland, ein Leben, das den Duft der Kühe aus- und einatmet, und dessen Bedürfnis nach Aufregung durch das Getriebe der Bakterien und Schädlinge befriedigt wird, die ihm entspringen. So war das Leben des europäischen Bauern gewesen, vom Morgendämmer der Geschichte an bis zum Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters, so war die große Mehrheit der Menschen in Asien und Afrika zu leben gewöhnt. Eine Zeitlang hatte es geschienen, als sollte Europa, dank seiner Maschinen und wissenschaftlichen Zivilisation, aus dem unaufhörlichen Kreislauf animalischer Karrengaularbeit emporgehoben werden und als sollte Amerika ihm von Anfang an ganz entgehen. Aber mit dem Zusammensturz des hohen, gefährlichen und großartigen Gebäudes der mechanischen Zivilisation, das wie ein Wunder erstanden war, sank der gemeine Mann zurück zur Erde, zurück zum Dünger …

Die kleinen Gemeinden, in denen noch tausend Erinnerungen eines höheren Lebens spukten, taten sich zusammen, machten sich fast stillschweigend ihre eigenen üblichen Gesetze und ergaben sich der Herrschaft eines Medizinmannes oder eines Priesters. Die Welt entdeckte aufs neue die Religion und das Bedürfnis nach etwas, was ihre vereinzelten Gemeinschaften zusammenhielt. In Bun Hill war dies Amt einem baptistischen Prediger anvertraut. Er lehrte einen einfachen, aber den Bedürfnissen angepaßten Glauben. In seiner Lehre kämpfte ein gutes Prinzip, die Welt genannt, unaufhörlich gegen einen teuflischen weiblichen Einfluß, das Rote Weib, und gegen einen bösen Geist, namens Alkohol, an. Dieser Alkohol war schon längst zu einem rein geistigen, von jeglichem Element materieller Anwendung freien Begriff geworden. Er stand in keinerlei Beziehungen zu den gelegentlichen Funden von Wein und Schnaps in den Kellern irgendeines Londoners, die für Bun Hill die einzigen Festtage bedeuteten. Der Prediger lehrte diesen Glauben an den Sonntagen. Werktags war er ein liebenswürdiger, gutherziger alter Mann, der die sonderbare Gewohnheit hatte, sich täglich die Hände und wenn möglich auch das Gesicht zu waschen und geradezu genial war im Schweineschlachten. Die Sonntagsgottesdienste wurden in der alten Kirche in Beckenham Road abgehalten, und die ganze Umgegend zeigte sich dabei in seltsamen Überbleibseln städtischer Kleidung aus der Zeit der Edwarde. Alle Männer, ohne Ausnahme, trugen Gehröcke, Zylinder und weiße Vorhemden, obgleich manche keine Schuhe anhatten. Tom zeichnete sich bei solchen Gelegenheiten ganz besonders aus, weil er einen Zylinder mit einer goldenen Tresse und einen grünen Rock und grüne Beinkleider trug, die er an einem Skelett im Keller der Städtischen Distriktbank gefunden hatte. Die Frauen, auch Jessika, kamen in Jacken und ungeheuren, mit künstlichen Blumen und exotischen Vogelfedern überladenen Hüten – in den Läden nordwärts gab es deren eine ganze Menge –, und die Kinder (viele Kinder gab es nicht, weil ein großer Teil der Neugeborenen schon nach wenigen Tagen an irgendeiner unerklärlichen Krankheit starb) trugen ähnliche Kleider, nur eben ihrer Größe angepaßt. Sogar Stringers kleiner, vierjähriger Enkel trug einen großen Zylinder.

Das war die Sonntagstracht des Bun Hiller Distrikts – ein merkwürdiger und interessanter Überrest der Tradition und Eleganz des wissenschaftlichen Zeitalters. An Wochentagen hingen merkwürdige schmutzige Fetzen von Baumwollstoff und rotem Flanell, Sackleinwand, Vorhangstoffen und alten Teppichlappen um die Leute herum, die entweder barfuß liefen oder grobe Holzsandalen anhatten. Es waren – das darf der Leser nicht vergessen – lauter Leute, die aus einer Stadtbevölkerung zu diesem Stadium barbarischen Bauerntums zurückgesunken waren und darum die primitiven Hilfsmittel, die dies barbarische Bauerntum besessen hätte, nicht besaßen. In vieler Hinsicht waren sie ganz merkwürdig tiefstehend und unzulänglich. Sie hatten jede Vorstellung von Textilindustrie verloren, sie vermochten sich kaum, auch wenn sie das Material dazu hatten, Kleider anzufertigen und waren gezwungen, die immer mehr abnehmenden Vorräte in den Ruinen ringsum zu plündern, um sich Kleidung zu verschaffen. All die zivilisierten Gewohnheiten, die sie dereinst gekannt hatten, waren durch das Aufhören der dazugehörigen Hilfsmittel – des modernen Verkehrs – der Wasserleitungen – der Schiffahrt – der Eisenbahn – nutzlos und wirkungslos geworden.

Ihre Kochkünste waren mehr als primitiv. Es war ein planloses Durcheinandermengen von Lebensmitteln über Holzfeuern in halbverrosteten Wohnzimmerkaminen; denn die Herde in der Küche verbrauchten zuviel Brennmaterial. Von Backen und Brauen oder Metallarbeiten hatte keiner von ihnen allen auch nur eine Ahnung.

Die Gewohnheit, Sackleinen und ähnliche grobe Stoffe zur Alltagskleidung zu benutzen, es mit Bindfaden umzuknüpfen und zum Warmhalten mit Watte und Stroh auszustopfen, gab diesen Menschen ein sonderbar »verpacktes« Aussehen; und da es ein Wochentag war, an dem Tom seinen kleinen Neffen auf der Suche nach seiner Henne mitnahm, waren die beiden auch so gekleidet …

»Also jetzt bist du endlich wirklich in Bun Hill, Teddy«, begann der alte Mann, seinen Schritt verlangsamend, sobald sie aus dem Bereich von Jessikas Augen waren. »Du bist der letzte von Berts Jungen, den ich kennenlerne. Watt hab' ich gesehen, den kleinen Bert hab' ich gesehen, Sissie und Mat, Tom, der nach mir heißt, und Peter. Die Leute, mit denen du gekommen bist, haben dich also ordentlich versorgt, was?«

»Es ging so«, sagte Teddy, der ein trockener, kleiner Junge war.

»Haben dich nicht aufgefressen unterwegs, was?«

»Sie waren schon in Ordnung«, sagte Teddy. »Und unterwegs, bei Leatherhead, haben wir einen gesehen, der auf einem Rad fuhr.«

»Herrje!« sagte Tom. »Viele solche gibt's heutzutag nimmer! Wohin fuhr er denn?«

»Er sagte, er wolle nach Dorking, wenn der Weg gut wäre. Aber ich glaub' nicht, daß er hingekommen ist. Um Burford rum war alles unter Wasser. Wir sind über den Berg gegangen, Onkel … die Römerstraße nennen sie's. Da ist's hoch und sicher.«

»Weiß nicht!« sagte der alte Tom. »Aber ein Rad! Weißt du gewiß, daß es ein Rad war? Mit zwei Rädern?«

»Es war eins, ganz gewiß!«

»Herrgott! Ich weiß noch die Zeit, Teddy, als alles voll war von Rädern … gerade hier, wenn man hier stand – der Weg war so eben wie ein Brett damals – konnte man dreißig oder vierzig oder noch mehr sehen … Automobile … wer weiß, was für komische Dinger …«

»Ach nee!« sagte Teddy.

»Jawohl. Den ganzen Tag lang sind sie vorbeigefahren … Hundert und aberhundert!«

»Aber wohin denn alle?« fragte Teddy.

»Nach Brighton … Brighton hast du nie gesehen, wahrscheinlich, es ist drunten an der See … großartiger Ort … und alle von London … aber auch zurück nach London …«

»Warum?«

»Nun … so …«

»Aber warum?«

»Warum, das weiß der liebe Herrgott, Teddy! Es war eben so. Dann … siehst du das große Ding dort … wie ein großer, dicker, rostiger Nagel, das höher ist als alle Häuser, und das andere dort drüben … und das dort … und was dort wie mitten zwischen die Häuser gefallen ist … das gehörte zur Einschienenbahn. Die Bahn ging auch nach Brighton, und Tag und Nacht fuhren die Leute darin … große Wagen, so groß wie Häuser, alle voller Leute.«

Der kleine Junge betrachtete sich die verrosteten Zeugen, die über den schmalen, schmutzigen Graben voller Kuhfladen ragten, der dereinst eine Straße gewesen war. Er war augenscheinlich geneigt, sich höchst skeptisch zu zeigen. Und dennoch … Die Ruinen waren da. Er zerbrach sich den Kopf mit Vorstellungen, die über seine Phantasie hinausgingen

»Wozu sind sie denn gefahren … alle?« fragte er.

»Weil sie mußten. Alles war damals unterwegs … alles.«

»Ja … aber wo kamen sie her?«

»Überall hier herum, Teddy, wohnten Leute … in all den Häusern … und die ganze Straße entlang immer mehr Häuser … und mehr Leute. Du glaubst das nicht, Teddy … aber es ist so, so wahr ich lebe! Du kannst den Weg hier immer weiter und weiter gehen, und siehst immer mehr Häuser und Häuser … Sie hören überhaupt nicht auf. Nie und niemals auf. Und immer größer werden sie.« Seine Stimme wurde leiser, als spräche er von geheimnisvollen Dingen. »Das ist London!« sagte er.

»Und das alles ist jetzt leer und verlassen. Kein Mensch kümmert sich darum. Kaum einen einzigen Menschen würde man finden … nichts als Hunde und Katzen, die hinter den Ratten her sind … bis man an Bromley und Beckenham vorüber ist. Und dann kommen die kentischen Leute mit ihren Schweineherden! (Nette Gesellschaft, das muß man sagen!) Ich sag' dir … von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang … alles so still wie ein Grab. Ich bin oft dagewesen … oft und oft!« Er verstummte.

»Und all die Häuser und Straßen und Wege waren früher voller Menschen … vor dem Luftkrieg und der Hungersnot und dem Roten Tod! Immer waren sie voller Menschen, Teddy. Und dann waren sie voll von Leichen. Keine Meile weit konnte man gehen, ohne daß der Gestank einem den Weg versperrte. Das war der Rote Tod … alle raffte er sie hin. Katzen und Hunde und Hühner und Ungeziefer packte es. Jedermann und jedes Ding war angesteckt. Bloß ein paar von uns blieben am Leben. Ich hab's überstanden, und deine Tante, wenn sie auch nicht mehr ist, was sie einmal war. Du kannst noch heut die Leichen in den Häusern sehen. Hier, in der Gegend, haben wir alle Häuser abgesucht, und genommen, was wir brauchten, und fast alle von den Leichen begraben. Aber dort – Norwood zu – sind noch Häuser mit den Scheiben in den Fenstern und die Möbel ganz unberührt … ganz verstaubt und halb vermodert … und die Gebeine von Menschen, manche in ihren Betten, manche sonst irgendwo im Haus … grade wie der Rote Tod sie vor fünfundzwanzig Jahren hingemäht hat. Ich bin einmal in einem gewesen … ich und Higgins, letztes Jahr … und da war ein Zimmer voller Bücher, Teddy … du weißt, was ich meine mit Büchern, Teddy?«

»Ich hab' schon welche gesehen. Welche mit Bildern.«

»Na ja, also, überall Bücher, Teddy, Hunderte und Hunderte von Büchern, über Bitten und Verstehen, wie es heißt, ganz ausgetrocknet und voller Moder. Ich war dafür, wir sollten sie einfach lassen … ich hab' nie viel vom Lesen gehalten … aber der alte Higgins mußte darin herumstöbern. ›Ich glaube, ich könnte noch heut ein jedes von ihnen lesen!‹ sagte er.

›Ach nee!‹ sag' ich.

›Doch!‹ sagt er und lacht und nimmt eins und schlägt es auf. Ich guckte hinein, und denk', Teddy, da war ein buntes Bild, o so wunderschön! Es waren Frauenzimmer drauf und Schlangen in einem Garten. Ich hab' noch nie so was gesehen.

›Das ist grade was für mich‹, sagt der alte Higgins, ›ausgezeichnet!‹ Und dabei gab er dem Buch einen freundlichen Klaps.«

Der alte Tom Smallways machte eine nachdrückliche Pause.

»Und dann?« sagte Teddy.

»Das ganze Buch zerfiel in Staub. In weißen Staub!« … Er verstummte noch nachdrücklicher. »An dem Tag haben wir keins von den Büchern mehr angerührt. Daraufhin

Eine lange Weile waren beide still. Dann wiederholte Tom, mit einem Gedanken spielend, der eine unheimliche Anziehungskraft auf ihn ausübte: »Den ganzen Tag liegen sie da … stumm wie das Grab.«

Teddy begriff endlich, worauf er hinaus wollte. »Liegen sie nicht auch nachts da?« fragte er.

Der alte Tom schüttelte den Kopf. »Das weiß kein Mensch, Junge! Kein Mensch!«

»Aber was können sie denn sonst machen?«

»Das weiß kein Mensch. Kein Mensch hat es gesehen … kein Mensch.«

»Kein Mensch?«

»Sie erzählen allerhand«, sagte der alte Tom. »Sie erzählen allerhand … Aber man kann ihnen nicht glauben. Ich geh', wenn's dunkel wird, nach Haus und bleib' zu Haus; also ich kann nichts sagen, nicht? Aber manche denken dies und manche das. Ich hab' gehört, es soll Unglück bringen, wenn man ihnen die Kleider auszieht, ehe die Gebeine weiß sind. Da sind Geschichten …«

Der Junge blickte seinen Oheim neugierig an. »Was für Geschichten?« sagte er.

»Geschichten von Mondscheinnächten und Dingen, die herumlaufen … Aber ich glaub' nicht daran. Ich bleib' in meinem Bett. Wenn man erst anfängt, auf Geschichten zu hören … großer Gott! Da kriegt man's am hellen Mittag auf freiem Feld mit der Angst!«

Der kleine Junge schaute um sich, und seine Fragen verstummten eine Weile.

»Sie erzählen von einem Schweinehirten in Beckenham, der drei Tage und drei Nächte in London verirrt war. Er wollte Whisky holen in Cheapside, und hat in den Ruinen den Weg verloren und lief immer weiter. Drei Tage und drei Nächte lief er herum, und die Straßen veränderten sich immerzu, so daß er nicht nach Hause fand. Wenn ihm nicht ein paar Worte aus der Bibel eingefallen wären, wär' er wahrscheinlich noch da. Den ganzen Tag lief er und die ganze Nacht. Und den ganzen Tag war alles still. So still wie der Tod war's den ganzen Tag, bis die Sonne unterging und es dämmerig wurde. Und da fing es an zu rauschen und zu wispern und zu trappeln wie von eiligen Füßen …«

Er hielt inne.

»Ja!« sagte atemlos der Kleine. »Weiter! Und dann?«

»Ein Geräusch von Wagen und Pferden, und von Omnibussen und Trambahnen, und ein Gepfeife, schrille Pfiffe, daß es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Und sobald das Gepfeife anfing, sah er auch alles, Leute, die durch die Straßen liefen, Leute in den Häusern und Läden, die arbeiteten, Automobile in den Straßen, eine Art Mondschein in allen Laternen und Fenstern. Ich sag' Leute, Teddy. Aber es waren keine Leute. Es waren die Geister von denen, die umgekommen waren, die Geister von allen denen, die früher die Straßen bevölkert hatten. Und sie gingen an ihm vorüber und durch ihn durch und beachteten ihn überhaupt nicht, wie Nebel oder Dunst gingen sie vorüber, Teddy. Und manche sahen vergnüglich aus, und manche waren grauenhafter als sich sagen läßt! Und einmal kam er an einen Ort, der Picadilly heißt, und es war ganz taghell vor lauter Lichtern, und die Trottoirs voll von Damen und Herren in kostbaren Kleidern, und auf der Straße lauter Taxameter, einer hinter dem andern. Und während er sie anguckte, wurden sie alle furchtbar im Gesicht … ganz furchtbar, Teddy. Ihm kam es auf einmal so vor, als sähen sie ihn, und die Frauen begannen nach ihm zu sehen und zu ihm zu reden – schlimme, schreckliche Dinge. Eine kam ganz nah zu ihm her, Teddy, grade auf ihn zu, und guckte ihm ins Gesicht – ganz von nahem. Und sie hatte überhaupt gar kein Gesicht, nur einen angemalten Totenkopf; alle waren sie angemalte Totenköpfe. Und eine nach der andern drängten sie sich an ihn heran und sagten schreckliche Dinge, und faßten nach ihm und drohten und schmeichelten ihm, daß ihm das Herz fast still stand vor Angst …«

»Ja …«, stieß Teddy während einer unerträglichen Pause hervor.

»Und da fielen ihm die Worte aus der Schrift ein und retteten ihm das Leben. ›Der Herr hilft mir!‹ sagte er, ›ich fürchte mich nicht!‹ und gleich darauf hörte er einen Hahn krähen und die Straße war ganz leer. Und darauf half ihm der Herr und führte ihn nach Hause.«

Teddy machte ganz starre Augen.

»Aber wer waren die Leute«, sagte er, »die in all den Häusern lebten? Was waren sie?«

»Feine Leute aus der Stadt, Leute, die Geld hatten – jedenfalls glaubten wir, es sei Geld, bis alles zusammenkrachte, und dann war es augenscheinlich bloß Papier … alle möglichen Papiere. Ja – mehr als hunderttausend! Millionen! Ich hab' die Hauptstraße dort so gesehen, daß man wahrhaftig nicht drauf vorwärts kam, in der Zeit, wenn die Leute einkauften … so viel Frauen und Leute kauften ein.«

»Aber woher hatten sie zu essen und überhaupt alles?«

»Aus den Läden, so wie ich einen hatte. Ich will dir den Platz zeigen, Teddy, wenn wir heimgehen. Heutzutage haben die Leute keine Vorstellung mehr davon, was ein Laden war – gar keine Vorstellung! Spiegelglasscheiben – das sind lauter böhmische Dörfer für sie. Denk doch, ich hab' manchmal ganze anderthalb Tonnen Kartoffeln auf einmal gehabt und damit gehandelt! Dir würden die Augen vor Bewunderung aus dem Kopf fallen, wenn du sehen könntest, was ich alles in meinem Laden gehabt habe! Körbe voll Birnen, Kastanien, Äpfel und Birnen und köstliche, große Nüsse!« Seine Stimme wurde ganz lüstern. »Und Bananen und Apfelsinen.«

»Was sind Bananen?« fragte der Junge. »Und Apfelsinen?«

»Früchte waren das. Süße, saftige, köstliche Früchte. Ausländische Früchte. Von Spanien und New York und allerhand Orten kamen sie, in Schiffen und allem möglichen. Aus der ganzen Welt kamen sie zu mir, und ich hab' sie in meinem Laden verkauft, Teddy! Ich, der ich jetzt neben dir geh' in ein paar alten Säcken und nach verlaufenen Hühnern suche! Und früher kamen Leute in meinen Laden, vornehme, schöne Damen, wie du dir's gar nicht träumen kannst, fein angezogen, und sagten: ›Nun, Mr. Smallways, was haben Sie Frisches heut morgen?‹ Und ich sag': ›Ich hab' da eine Sendung recht schöner kanadischer Äpfel!‹ Oder auch ich hatte Kastanien. Verstehst du? Und dann kauften sie. Gleich sagten sie: ›Schicken Sie mir ein paar Pfund.‹ Herrgott! War das ein Leben! Das Geschäft, die Arbeit, all die Dinge, die man sah, Automobile, die vorüberkamen, Wagen, Menschen, Drehorgelmänner, Musikanten. Immer kam irgendwas vorüber – immerzu. Wenn die leeren Häuser alle nicht wären, würd' ich denken, es sei ein Traum gewesen.«

»Aber warum sind alle die Leute gestorben, Onkel?« fragte Teddy.

»Einfach ein großer Krach!« sagte der alte Tom. »Alles ging gut, bis sie damals den Krieg anfingen. Alles lief wie ein Uhrwerk. Jedermann hatte seine Arbeit und war glücklich, und jeder hatte jeden Tag sein gutes, reichliches Essen.« Der Kleine sah ihn ungläubig an. »Wenn einer sonst keins hatte, so bekam er's im Armenhaus, einen guten Napf voll heißer Suppe – Brühe nannten sie es – und Brot – besser als irgendeiner es heutzutag backt richtiges weißes Brot, Herrschaftsbrot!«

Teddy staunte, sagte aber nichts. All dies erweckte in ihm innige Begierden, die zu bekämpfen er am geratensten fand.

Eine Zeitlang gab sich der alte Mann dem Vergnügen der Erinnerungen seines Gaumens hin. Seine Lippen bewegten sich. »Salm in Gelee«, flüsterte er, »mit Essig … Holländer Käse! Bier! Eine Pfeife Tabak!«

»Aber wie sind die Leute ums Leben gekommen?« fragte gleich darauf wieder Teddy.

»Der Krieg kam. Der Krieg, damit hat alles angefangen. Der Krieg schmetterte und tobte herum, aber wirklich getötet hat er nicht viele Menschen. Aber umgeworfen hat er alles. Nach London kamen sie und haben es angezündet und alle Schiffe, die sonst in der Themse waren, verbrannt und in den Grund gebohrt – wochenlang konnten wir den Rauch und Dampf sehen, und in den Kristallpalast haben sie eine Bombe geworfen und ihn in die Luft gesprengt und alle Eisenbahngeleise und alles zerstört. Menschen töteten sie eigentlich nur durch Zufall. Sie töteten mehr sich selber gegenseitig. Einmal war hier in der Nähe eine große Schlacht, Teddy – hoch in der Luft. Große Dinger, größer als fünfzig Häuser, größer als der Kristallpalast – größer als alles, flogen droben in der Luft herum und prügelten sich gegenseitig durch, und die Toten fielen nur so herunter. Fürchterlich! Aber sie töteten weniger die Menschen, als daß sie allem Geschäft ein Ende machten. Es war überhaupt kein Geschäft mehr, Teddy, und nirgends mehr Geld, und nichts zu kaufen, wenn man Geld hatte!«

»Aber wie sind denn die Leute ums Leben gekommen?« sagte in die Pause hinein der kleine Junge.

»Ich erzähl' es dir ja, Teddy«, sagte der alte Mann.

»Also, das nächste, was kam, war das Aufhören jeden Geschäfts. Ganz auf einmal schien es, als gäbe es irgendwie gar kein Geld mehr. Es gab Schecks – das war ein beschriebenes Stück Papier und war geradesogut wie Geld – genauso gut, als bekäme man es von den Kunden, verstehst du? Und auf einmal galten sie nicht mehr. Ich hatte noch drei, und zwei hatte ich als Wechsel weitergegeben. Dann hieß es, Fünfpfundnoten gälten nichts mehr, und dann fiel das Silber. Gold war überhaupt nicht zu haben – weder für Geld noch für gute Worte. Das hatten alles die Banken in London, und die Banken krachten. Alles war bankrott. Alles war arbeitslos. Alles.«

Er hielt inne und blickte seinen Zuhörer an. Das kluge Gesicht des Jungen drückte hoffnungslose Verwirrung hoffnungslose Verwirrung aus.

»So fing die Hungersnot an und die Revolution. Streiks kamen und Sozialismus … allerlei, bei dem ich nie mitgehalten hab' … immer ärger und ärger. Sie bekämpften einander und schössen einander über den Haufen, und plünderten und sengten. Sie stürmten die Banken in London und holten das Gold heraus. Aber sie konnten kein Brot aus dem Gold machen. Und was wir machten? Naja, wir verhielten uns ganz ruhig. Wir wollten nichts von den anderen und die anderen wollten nichts von uns. Ein paar alte Kartoffeln hatten wir noch; aber zumeist lebten wir von Ratten. Unser Haus war alt, voller Ratten; und denen schien der Hunger nichts anzuhaben. Wie oft haben wir eine Ratte gefangen! Wie oft! Aber die meisten von denen, die hier wohnten, hatten einen zu feinen Magen für Ratten. Mochten sie nicht so recht. Sie waren an allerhand Leckerbissen gewöhnt und konnten sich nicht mit der einfachen Kost befreunden. Jedenfalls nicht, bis es zu spät war. Lieber starben sie.

Der Hunger, der war es … an dem starben die Menschen. Noch ehe der Rote Tod kam, starben sie wie die Fliegen im Spätsommer. Wie gut ich noch alles weiß! Ich war einer von den ersten, die krank wurden. Ich war ausgegangen, um zu sehen, ob ich nicht eine Katze oder so was erwischen könnte, und ging dann nach meinem kleinen Grundstück, um nachzusehen, ob nicht noch vielleicht ein paar vergessene Rüben da wären; und auf einmal hatte ich ein ganz schreckliches Gefühl. Du hast keine Ahnung von den Schmerzen, Teddy – ganz zusammengezogen hat es mich. Dort an der Ecke lag ich – und deine Tante kam, um nach mir zu sehen, und schleppte mich heim wie einen Sack.

Ich wär' überhaupt nicht mehr gesund geworden, wenn deine Tante nicht gewesen wäre. ›Tom‹, sagte sie zu mir, ›du mußt einfach wieder gesund werden!‹ Und ich mußte! Dann wurde sie krank. Krank wurde sie wohl … aber das Sterben … das liegt deiner Tante nicht. ›Großer Gott!‹ sagte sie. ›Als ob ich einfach davongehen und dich allein hantieren lassen würde!‹ Jawohl, das hat sie gesagt. Die Zunge hat sie auf dem rechten Fleck, deine Tante! Aber ihr Haar hat's mitgenommen, und ich konnte sie bitten, soviel ich wollte, sie mochte die Perücke nicht tragen, die ich ihr gekauft hatte – von der alten Dame im Pfarrhaus …

Also, der Rote Tod, der fegte die Menschen einfach weg, Teddy. Von Begraben war gar keine Rede mehr. Und auch die Hunde und Katzen und Ratten und Pferde nahm er mit. Schließlich war jedes Haus und jeder Garten voll von Leichen. Nach London zu konnte man überhaupt nicht gehen, so rochen sie – und wir mußten aus der Hauptstraße ausziehen in die Villa, in der wir jetzt wohnen. Wasserleitungen und Kanalisation waren auch verseucht. Wo der Rote Tod herkam, das weiß der liebe Gott. Die einen sagten dies, die anderen das. Die einen sagten, es käme vom Rattenessen, und die anderen sagten, es käme vom Garnichts-Essen. Wieder andere sagten, die Asiaten hätten ihn von Tibet gebracht – wo er überhaupt gar nicht besonders gefährlich wäre. Alles, was ich weiß, ist, daß er nach der Hungersnot kam. Und die Hungersnot kam nach der Panik, und die Panik kam nach dem Krieg.«

Teddy dachte nach. »Was hat den Roten Tod gemacht?« fragte er.

»Ich hab' es dir doch erzählt!«

»Aber warum war denn eine Panik?«

»Es war eben eine.«

»Aber warum haben sie den Krieg angefangen?«

»Sie konnten nicht anders. Weil sie doch ihre Luftschiffe hatten.«

»Und wie ist der Krieg ausgegangen?«

»Ob er überhaupt aus ist, das weiß der liebe Gott, Junge«, sagte der alte Tom. »Ob er aus ist, das weiß der liebe Gott! Reisende, die hier durchkamen – erst vorigen Sommer war einer da, der sagte, sie machten noch immer weiter. Sie sagen, droben im Norden machten Haufen von Menschen noch immer weiter und ebenso in Deutschland und China und Amerika und wer weiß wo. Er sagte, sie hätten noch immer Flugmaschinen und Gas und alles mögliche. Jedenfalls – wir haben seit sieben Jahren nichts mehr gesehen, und in unsere Nähe ist niemand gekommen. Das letzte, was wir gesehen haben, war ein sonderbares, verschrumpftes Luftschiff, das davonflog – dort drüben … Es war ein ziemlich kleines Ding, und hing nach der einen Seite, als ob irgendwas damit los wäre.« Er deutete mit dem Finger und blieb an einer Lücke des Zauns stehen, den Überresten des alten Zauns, von dem aus er in Gesellschaft seines Nachbarn, Mr. Stringers, des Milchmanns, dereinst die Samstagabend-Übungen des südenglischen Luftschifferklubs beobachtet hatte. Vielleicht stiegen nebelhafte Erinnerungen an jenen Nachmittag in ihm auf.

»Dort unten … sieh … wo alles so ganz merkwürdig rot und hell aussieht … das war die Gasanstalt.«

»Was ist Gas?« fragte der Junge.

»Ach! irgendwas Filmiges – Ungreifbares, was man in die Ballons tut, damit sie steigen. Und auch gebrannt hat man es, ehe die Elektrizität kam.«

Der kleine Junge bemühte sich vergeblich, sich auf Grund dieser Einzelheiten eine Vorstellung von Gas zu machen. Darauf kehrten seine Gedanken zu einem früheren Thema zurück.

»Aber warum haben sie nicht aufgehört mit dem Krieg?«

»Aus Eigensinn. Jedem tat er weh … aber jeder tat auch den anderen weh … und alles war voller Stolz und Patriotismus, und so haben sie lieber alles über den Haufen geschmissen. Machten einfach weiter … immerzu. Und nachher waren sie verzweifelt und wütend.«

»Aber er hätte aufhören müssen!« sagte der Junge.

»Er hätte gar nicht anfangen müssen!« sagte der alte Tom. »Aber die Menschen waren hochmütig. Die Menschen waren hochmütig und überhebend und vornehmtuerisch. Hatten einfach zu viel zu essen und zu trinken. Nachgeben – das gab's nicht! Und nach einer Weile verlangte auch niemand mehr, daß der andere nachgeben sollte. Niemand verlangte das mehr …«

Er sog gedankenvoll an seinem welken Zahnfleisch, und sein Blick schweifte über das Tal hin, wo die zerbrochenen Scheiben des Kristallpalastes in der Sonne funkelten. Ein unklares, uferloses Gefühl vergeudeter und unwiderruflich verlorener Möglichkeiten überkam ihn. Und er wiederholte sein endgültiges Urteil über all diese Dinge – eigensinnig, langsam, abschließend – eine Schlußkritik des Ganzen:

»Du kannst sagen, was du willst«, sagte er. »Er hätte gar nie anfangen sollen.«

Er sagte es ganz einfach … Irgendwer hätte irgendwo irgend etwas verhindern müssen. Aber wer oder wie oder warum – das lag alles jenseits seines Horizonts …

 


 << zurück