Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9.
Auf der Ziegeninsel

I

Das Anprallen einer Kugel an den Felsen neben ihm erinnerte ihn daran, daß er ein sichtbarer Gegenstand war und, wenigstens zum Teil, deutsche Uniform trug. Er flüchtete wieder zu den Bäumen, und eine Weile duckte er sich, hockte auf den Boden und suchte Deckung, wie ein Kücken, das sich im Schilf vor eingebildeten Habichten verkriecht. »Geschlagen!« flüsterte er. »Geschlagen und vernichtet …Verjagt von Gelben … von Chinesen.«

Schließlich kam er in einem Dickicht von Sträuchern in der Nähe einer geschlossenen und verödeten Erfrischungshalle, von der aus man das amerikanische Ufer erblickte, zur Ruhe. Die Büsche bildeten eine Art Höhle oder Hafen für ihn; sie schlossen sich über seinem Kopf dicht zusammen. Er blickte über die Fälle, aber das Feuern hatte ganz aufgehört und alles schien ruhig. Der asiatische Aeroplan hatte seine bisherige Stellung über der Kettenbrücke verlassen und hing jetzt regungslos über der Stadt Niagara, den ganzen Umkreis der Elektrizitätswerke, der der Schauplatz des Landgefechts gewesen war, überschattend. Das Ungetüm hatte eine Miene ruhiger, sicherer Überlegenheit; und vom Stern wehte, in dekorativer Heiterkeit, eine lange, fließende Flagge, das Rot-Schwarz-Gelb des großen Staatenbundes, Sonnenaufgang und Drache. Dahinter, im Osten, sehr viel höher, hing ein zweiter Aeroplan; und als Bert wieder Mut schöpfte und herauskroch und den Hals verdrehte, fand er gegen Sonnenuntergang im Süden ein weiteres bewegungsloses Luftschiff.

»Alle Wetter!« sagte er. »Geschlagen und verjagt! Großer Gott!« Anfänglich schien es, als wäre der Kampf in der Stadt ganz vorüber, obgleich noch eine deutsche Flagge von einem der zertrümmerten Häuser flatterte. Über den Elektrizitätswerken wehte ein weißes Tuch, und es blieb auch während der Ereignisse, welche jetzt folgten. Bald kam ein Geräusch von Schüssen, und man sah deutsche Soldaten rennen. Sie verschwanden zwischen den Häusern, und jetzt kamen zwei Mechaniker in blauen Hemden und Beinkleidern, eifrig verfolgt von drei japanischen Soldaten. Der vordere der Flüchtlinge war ein gut gebauter Mensch, der leicht und rasch lief; der zweite war untersetzt und klein und ziemlich dick. Er lief in komischen Sprüngen und Sätzen, die fetten Arme in die Seiten gestemmt, den Kopf hintenüber geworfen. Die Verfolger trugen Uniformen und dunkle, leichte Helme aus Metall und Leder. Der kleine Mann stolperte, und Bert hielt den Atem an; ein neuer Schrecken des Krieges ging ihm auf.

Der vorderste Japaner kam dem Verfolgten um drei Schritte näher, so nah, daß er mit dem Schwert nach ihm schlagen konnte; er verfehlte ihn aber im Laufen.

Sie rannten noch ein Dutzend Schritte weiter, dann schlug der Japaner wieder zu, und Bert vernahm über das Wasser weg einen schwachen Laut, etwa wie das Muh einer Zwergkuh, während der dicke kleine Mann vornüber stürzte. Noch einen Hieb und wieder einen führte der Japaner nach dem am Boden Liegenden, der sich vergeblich mit den Händen zu decken suchte. »Oh, ich kann nicht mehr!« rief Bert, dem Weinen nahe, mit hervorquellenden Augen hinüberstarrend. Der Japaner führte einen vierten Streich und folgte dann, als seine beiden Kameraden ihn eingeholt hatten, dem schnelleren der beiden Verfolgten. Der hinterste Japaner blieb stehen und drehte sich um. Vielleicht hatte er irgendeine Bewegung bemerkt – jedenfalls stand er still und führte dann und wann einen Hieb nach dem Gefallenen.

»Oo-oo!« stöhnte Bert bei jedem Schlag; er drückte sich dichter in das Buschwerk und wurde sehr still. Gleich darauf kam aus der Stadt ein Geräusch von Schüssen, und dann war alles ruhig, alles, sogar das Lazarett.

Bald darauf sah er kleine Gestalten aus den Häusern auftauchen, ihre Schwerter in die Scheide stecken und zu den Trümmern der Flugmaschinen gehen, die die Bombe vernichtet hatte. Andere kamen und führten unbeschädigte Aeroplane, etwa wie Radfahrer ihre Räder führen, sprangen in den Sattel und erhoben sich in die Luft. Eine Reihe von drei Luftschiffen erschien fern im Osten und flog gegen den Zenit zu. Das eine, das tief über der Stadt hing, senkte sich noch tiefer und warf eine Strickleiter aus, um vom Elektrizitätswerk Leute aufzusammeln.

Lange Zeit beobachtete Bert die Vorgänge in der Stadt drüben, wie ein Kaninchen, das eine Jagd beobachtet. Er sah Männer von Haus zu Haus gehen, um sie, wie er bald merkte, anzuzünden, und hörte eine Reihe dumpfer Knalle aus dem Maschinenhaus der Werke. In den Elektrizitätsanlagen auf der kanadischen Seite fanden ähnliche Vorgänge statt. Mittlerweile erschienen mehr und mehr Luftschiffe und eine Unmenge von Flugmaschinen, bis es ihm schien, als ob wenigstens ein Drittel der asiatischen Flotte sich wieder vereinigt hätte. Er beobachtete sie von seinem Dickicht aus krampfhaft, regungslos, sah, wie sie sich sammelten und ordneten, wie sie signalisierten und Leute von unten aufnahmen, bis sie schließlich in der Richtung des flammenden Sonnenuntergangs davonsegelten, dem großen asiatischen Sammelpunkt über den Ölquellen von Cleveland zu. Sie wurden kleiner und kleiner, und ließen ihn allein zurück – soweit er wußte, der einzige lebende Mensch in einer Welt von Trümmern und unbeschreiblicher, fremdartiger Verlassenheit. Er sah sie entschweben und verschwinden. Mit offenem Munde starrte er ihnen nach.

»Wetter!« sagte er endlich, wie einer, der aus einem Traume erwacht.

Es war weit mehr, als nur persönliche Trostlosigkeit und Verzweiflung, was seine Seele überflutete. Ihm schien, als müßte das der Sonnenuntergang seiner ganzen Rasse sein …

 

II

Seine eigene Lage stellte sich ihm überhaupt anfänglich keineswegs in bestimmten und verständlichen Umrissen dar. So viel war in letzter Zeit mit ihm geschehen, so ohne jeglichen Belang waren seine eigenen Bestrebungen gewesen, daß er passiv und planlos gewesen war. Sein letzter eigener Plan war gewesen, als Wüstenderwisch an der englischen Küste entlangzuziehen und seine Nebenmenschen mit raffinierten Kunstdarbietungen zu beglücken. Die Vorsehung hatte das vereitelt. Die Vorsehung hatte es für gut befunden, ihn anderen Schicksalen anheimzugeben, hatte ihn von einem Ort zum anderen gejagt und ihn schließlich auf dieses kleine Felseneiland zwischen den Katarakten geschleudert. Für den Augenblick ging es ihm nicht gleich auf, daß jetzt die Reihe, sich zu betätigen, an ihm war. Er hatte ein seltsames Gefühl, als müßte alles das enden, wie ein Traum endet, als würde er im nächsten Augenblick wieder in der Welt Grubbs und Ednas und Bun Hills sein, als müsse dies Tosen, dies unaufhaltsam glitzernde Wasser zur Seite gezogen werden, wie ein Vorhang nach einem Jahrmarkttheater vorgezogen wird; und der altvertraute, gewöhnliche Alltag würde wieder sein Recht behaupten. Es würde interessant sein, den Leuten zu erzählen, wie er den Niagara gesehen hatte. Und dann kamen Kurzens Worte ihm in den Sinn: »Menschen, weggerissen von denen, die sie lieben; Heimstätten zerstört; Geschöpfe voller Leben und Erinnerungen und kleiner Eigenarten – in Stücke gerissen, dem Hungertod ausgesetzt, vernichtet …«

Halb ungläubig fragte er sich, ob das wirklich wahr sei? Es war so schwer, es sich vorzustellen. Ob es möglich war, daß auch Tom und Jessica, weit in der Ferne, in Not und Verzweiflung waren? Ob der kleine Grünkramhandel nicht mehr existierte, mit Jessica, die untertänigst bediente und dann und wann in scharfen Seitenbemerkungen Tom den Kopf wusch und in pünktlicher Strenge den Kunden die Waren schickte? …

Er versuchte sich zu erinnern, was für ein Tag in der Woche es eigentlich war, und fand, daß er jedes Zeitgefühl verloren hatte. Vielleicht war es Sonntag. Dann gingen sie daheim in die Kirche, oder vielleicht auch versteckten sie sich irgendwo – in Büschen? Was wohl aus ihrem Hauswirt, dem Schlächter, geworden war … und aus Butteridge und all den Menschen am Dymchurcher Strand? In London – das wußte er – war irgend etwas geschehen. Ein Bombardement. Aber wer hatte es bombardiert? Ob auch Tom und Jessica verjagt waren von seltsamen gelben Männern mit langen, nackten Schwertern und bösen Augen?

Alle möglichen Arten von Heimsuchung fielen ihm ein; aber bald beherrschte ein Gedanke alle andern: Ob sie wohl viel zu essen hatten? Die Frage beschäftigte ihn über alles.

Wenn man sehr hungrig war – ob man dann Ratten essen würde?

Und nach und nach ging es ihm auf, daß ein ganz besonderer Kummer, der ihn bedrückte, weniger von Furcht und patriotischer Trauer herrührte als von Hunger. Aber natürlich – hungrig war er!

Er überlegte und wandte sich dann nach der kleinen Erfrischungshalle, die nah bei der zerstörten Brücke stand.

»Etwas müßte doch da sein.«

Er wanderte ein- oder zweimal darum herum und bohrte dann sein Taschenmesser in die geschlossenen Läden, eine Arbeit, bei der er sich bald durch einen Holzpflock weiterhalf, den er in der Nähe fand. Schließlich gab auch einer der Läden nach, und er konnte den Kopf hineinstecken.

»Futter!« sagte er. »Also doch! Wenigstens …«

Er erwischte glücklich den inneren Riegel des Ladens und bald lag das ganze Etablissement seiner Unternehmungslust offen. Er fand verschiedene Flaschen sterilisierter Milch, eine Menge Mineralwasser, zwei Büchsen Biskuit, einen Vorrat sehr alter Kuchen, Zigaretten, sehr reichlich, aber sehr trocken, einen Haufen sehr saftloser Apfelsinen, Nüsse, ein paar Büchsen eingemachten Gewürzes und sonstiger Konserven, und dazu Teller, Messer und Gabeln, die für Dutzende von Gästen genügt hätten … Auch eine große Zinkkiste war da. Aber es gelang ihm nicht, sie zu öffnen.

»Verhungern ist nicht!« sagte Bert. »Vorläufig wenigstens.« Er setzte sich hinters Büfett und erquickte sich mit Biskuits und Milch. Für den Augenblick war er völlig befriedigt.

»Wirklich ein Ausruhen«, murmelte er, emsig kauend und dabei unruhig um sich spähend, »wenn man durchgemacht hat, was ich durchgemacht habe …«

»Donnerwetter! So ein Tag! Herrje! So ein Tag!«

Dann war er wieder ganz Neugierde und Erstaunen. »Alle Wetter!« rief er. »So ein Kampf! Und alle kaputt! Drunter und drüber! Luftschiffe … Drachenflieger … alle! Möcht' wissen, was aus der »Zeppelin« geworden ist? … Und aus Kurz … was mag aus dem geworden sein? … Ein guter Kerl … dieser Kurz …«

Ein Phantom herrscherlicher Einsamkeit stieg vor ihm auf. »Indien!« murmelte er …

Aber gleich darauf kam ein praktischeres Interesse.

»Ob ich wohl irgendwas finde, mit dem man dies Corned beef aufmachen könnte?«

 

III

Nachdem Bert geschwelgt hatte, steckte er sich eine Zigarette an und überlegte eine Weile. »Möcht' wissen, wo Grubb ist!« sagte er. »Möcht' wissen, ob die wohl auch wissen möchten, was aus mir geworden ist?«

Dann beschäftigte er sich wieder mit seinen eigenen Angelegenheiten. »Werd' wohl eine ganze Weile auf der Insel hier bleiben müssen!«

Er bemühte sich, möglichst selbstgewiß und vergnügt zu sein; aber die Unrast des Gesellschaftstiers, das sich verlassen sieht, überkam ihn. Ein Bedürfnis, über seine Schulter zurückzuschauen, packte ihn und stachelte ihn auf, sich die Insel näher zu beschauen.

Nur sehr langsam wurden ihm die Eigentümlichkeiten seiner ganzen Lage klar … nur sehr langsam ging es ihm auf, daß der Zusammensturz des Brückenbogens zwischen der Grünen Insel und dem Festland ihn völlig von der Welt abgeschnitten hatte. Dies dämmerte ihm tatsächlich erst, als er wieder zu der Stelle zurückkam, wo das Vorderteil der »Hohenzollern« wie ein gestrandetes Schiff lag, und als er die zertrümmerte Brücke vor sich sah. Aber es war weiter keine Überraschung für ihn; es war einfach eine Tatsache inmitten einer Menge anderer, seltsamer, außergewöhnlicher Tatsachen. Eine Weile starrte er die zertrümmerten Kabinen der »Hohenzollern« und ihre zerrissenen Fenstervorhänge an … daß lebende Geschöpfe dahinter versteckt sein könnten, das kam ihm gar nicht zum Bewußtsein. Es war alles so verdreht und verzerrt und so völlig zerstört … Dann beschaute er sich eine Zeitlang den Abendhimmel. Ein Wolkendunst stieg auf; nirgends mehr war ein Luftschiff zu sehen. Eine Schwalbe surrte vorüber und erhaschte eine unsichtbare Beute. »Wie ein Traum!« wiederholte er.

Darauf fesselten eine Zeitlang die Wasserfälle seine Aufmerksamkeit.

»Ein Getöse … Und immer fort und fort tosen sie … und sprühen … Immer fort …«

Schließlich wurden seine Interessen persönlich. »Was soll ich tun?«

Er überlegte. »Keine Ahnung!« sagte er.

Eins stand hauptsächlich vor seinem Bewußtsein: vor vierzehn Tagen noch war er in Bun Hill gewesen – hatte an Reisen gar nicht gedacht … und jetzt befand er sich zwischen den Niagarafällen – zwischen den Trümmern und der Verheerung der größten Luftschlacht der Welt … Und in der Zwischenzeit war er in Frankreich gewesen, in Belgien, in Deutschland, in England, in Irland, in einer ganzen Menge anderer Länder. Es war ja interessant … man konnte auch viel darüber reden … aber von praktischem Nutzen war es jetzt gerade nicht. »Ob man wohl wieder fortkommt von hier?« dachte er. »Ob es einen Ausweg gibt? Und wenn nicht … na, schön!«

Weitere Überlegung machte ihm die Sache schon klarer. »Ich hab' mich ganz schön in die Patsche geritten, als ich über die Brücke ging …«

»Immerhin … die Japaner haben mich wenigstens nicht erwischt. Die hätten kurzen Prozeß gemacht. Nein! Und doch …«

Er beschloß, zur Luna-Insel zurückzukehren. Eine ganze Weile starrte er hinüber zur kanadischen Küste, zu den zerstörten Hotels und Häusern und den zerschmetterten Bäumen des Viktoria-Parks, die jetzt im Sonnenuntergang rosig erglühten …

Kein menschliches Wesen zeigte sich in dieser Szene unerhörter Verwüstung. Er kehrte zur amerikanischen Seite der Insel zurück, ging dicht neben dem verbogenen Aluminiumwrack der »Hohenzollern« vorbei, hinüber nach Green Island und betrachtete angstvoll die hoffnungslose Lücke in der weiter entfernten Brücke und das schäumende Wasser darunter. In der Richtung von Buffalo stieg noch immer dichter Rauch auf, und in der Nähe des Bahnhofs von Niagara standen die Häuser in hellen Flammen. Alles war verödet jetzt, alles war still. Ein kleines, verlassenes Etwas lag auf einem Querweg zwischen Stadt und Landstraße, ein zerknülltes Bündel Kleider, aus dem leblose Glieder hervorragten …

»'n bißchen Umschau halten!« sagte Bert. Er schlug einen Pfad ein, der quer über die Insel führte, und entdeckte bald die Überreste der zwei asiatischen Aeroplane, die im Kampf, der der »Hohenzollern« verhängnisvoll werden sollte, gefallen waren.

Ganz nahe dabei fand er auch die Überreste eines Aeronauten.

Die Maschine war augenscheinlich senkrecht herabgestürzt und hatte sich in den zerfetzten Zweigen einer Baumgruppe verfangen. Ihre zerbrochenen, verbogenen Flügel und geknickten Rippen ragten zwischen dem frisch zersplitterten Holz hervor; die Vorderspitze steckte in der Erde. Der Aeronaut baumelte, wie eine Spukgestalt, mit dem Kopf nach unten, ein paar Schritt davon zwischen den Ästen und Blättern; und Bert entdeckte ihn erst, als er sich von dem Aeroplan abwandte. In der Stille und Dämmerung des Abends – die Sonne war verschwunden und der Wind hatte sich völlig gelegt– war dies umgekehrte, gelbe Gesicht, das er da plötzlich ein paar Schritt weit von sich entdeckte, keineswegs ein besonders beruhigender Gegenstand. Ein abgebrochener Ast hatte sich mitten durch die Kehle des Mannes gebohrt, und also gespießt hing er da, ein lebloses fremdartiges Etwas … Seine Hand hielt noch, mit dem Griff des Todes, ein kurzes, leichtes Gewehr.

Eine Zeitlang stand Bert ganz still und besah sich dies Ding.

Dann fing er an, sich zu entfernen, indem er fortwährend zurückblickte.

In einer Lichtung blieb er plötzlich stehen.

»Wetter!« flüsterte er, »ich weiß nicht … ich mag Leichen nicht … Ich wollte, der Kerl war' lebendig.«

Den Pfad, in dem der Chinese hing, mochte er nicht weiter gehen. Er fühlte, er konnte jetzt keine Bäume mehr um sich haben, er würde sich wohler fühlen in der Nähe des geselligen Plätscherns und Tosens der Fälle.

Auf einem offenen Rasenplatz neben den rauschenden Wassern stieß er auf den zweiten Aeroplan. Dieser schien überhaupt kaum beschädigt. Er sah aus, als hätte er sich ganz langsam zur Ruhe herabgesenkt. Er lag auf der Seite; der eine Flügel stand in die Luft. Kein Aeronaut war in der Nähe, weder ein toter, noch ein lebendiger. Ganz verlassen lag die Maschine da; und das Wasser rieselte über ihren langen Schweif.

Lange Zeit stand Bert in einiger Entfernung still und blickte in die sinkenden Schatten der Bäume, in der Erwartung, wieder einen toten oder lebendigen Chinesen zu entdecken. Dann näherte er sich der Maschine äußerst vorsichtig und betrachtete ihre weitausgebreiteten Schwingen, ihr großes Steuerrad und den leeren Sattel. Sie zu berühren wagte er nicht.

»Ich wollte, der andere wär' nicht da«, sagte er. »Ich wollte, er wär' nicht da!«

Jetzt sah er in einem Wirbel, der ein paar Schritte weit entfernt hinter einer vorspringenden Felsspitze sprudelte, etwas auf- und niedertauchen. Es schien ihn gegen seinen Willen anzuziehen, dies unablässig kreisende Etwas …

Was mochte es sein?

»Verflucht!« sagte Bert. »Wieder einer!«

Es hielt ihn wie in einem Bann. Er sagte sich selbst, es sei der zweite Aeronaut, der im Gefecht erschossen und aus dem Sattel gefallen war, während er zu landen versuchte. Er nahm einen Anlauf zum Fortgehen; dann kam ihm der Gedanke, einen Zweig oder so etwas zu holen, und dies wirbelnde Ding in den Strom hinauszustoßen. Dann brauchte er sich wenigstens nur vor einem Leichnam zu graulen. Einen – das konnte er vielleicht noch ertragen. Er zauderte und zwang sich dann in einer seltsamen Aufregung, diesen Entschluß auszuführen. Er ging zu den Sträuchern hinüber, schnitt sich einen Stock ab, kehrte zu den Felsen zurück und kletterte auf einen Vorsprung zwischen der Felsenspitze und dem Wasser. Vom Sonnenuntergang zeigte sich jetzt keine Spur mehr; Mücken schwirrten umher – und er war ganz naß von Schweiß.

Er versuchte, das blaugekleidete Etwas mit seinem Stock zu erreichen, verfehlte es, versuchte es noch einmal, als es wieder in seine Nähe kam, und diesmal mit besserem Erfolg; während es in den Strom hinausflutete, drehte es sich; das Licht blinkte auf goldenem Haar. Es war Kurz.

Es war Kurz. Weiß und tot und sehr still. Keine Täuschung war möglich. Es war noch hell genug, um ihn zu erkennen. Der Strom erfaßte ihn, und er schien sich in seine raschen Arme zu legen, wie einer, der sich zur Ruhe streckt. Sehr weiß war sein Gesicht jetzt; alle Farbe war daraus gewichen.

Ein Gefühl unendlicher Verzweiflung überflutete Bert, als der Leichnam in Richtung Fall seinen Augen entschwand.

»Kurz!« rief er. »Kurz! Das hab' ich nicht gewollt! Verlaß mich doch nicht, Kurz! Verlaß mich nicht!«

Verlassenheit und Trostlosigkeit überwältigten ihn. Er brach zusammen. Da stand er im Abendlicht auf dem Felsen und jammerte und schluchzte, leidenschaftlich, wie ein Kind. Ihm war, als wäre das Glied, das ihn an all dies gefesselt hatte, zerbrochen und verschwunden. Er hatte Angst wie ein Kind in einem verlassenen Zimmer. Er hatte Angst, einfach Angst, ganz unverhüllte Angst …

Um ihn sank die Dämmerung. Die Bäume waren voll seltsamer Schatten. Alles um ihn her ward fremdartig, seltsam, ungreifbar und unwirklich, wie die Dinge oft im Traum sind. »O Gott! Das halt' ich nicht aus!« sagte er und kauerte sich am Boden nieder; und plötzlich kam eine wilde Trauer über den Tod von Kurz, dem Tapferen, dem Gütigen, ihm zu Hilfe; und sein Jammern löste sich in Tränen. Er kauerte nicht mehr; er lag, alle viere von sich gestreckt, im Gras und ballte in ohnmächtigem Grimm die Faust.

»Dieser Krieg!« schrie er. »Dieser verdammte Blödsinn von einem Krieg! …«

»O Kurz! Leutnant Kurz!«

»Es ist aus!« sagte er. »Es ist aus! Ich hab' genug und mehr als genug! Die ganze Welt ist ein Mumpitz, es ist kein Sinn drin! Jetzt wird's Nacht … Wenn er kommt … Aber er kann nicht kommen … Er kann nicht …

»Wenn er kommt, so stürz' ich mich ins Wasser …«

Nach einer Weile redete er weiter, leise, kaum hörbar:

»Ich brauch' doch eigentlich keine Angst zu haben. Es ist ja nur Einbildung. Armer, guter Kurz! Er ahnte schon, wie's kommen würde. Hat's vorausgesehen! Den Brief hat er mir nicht gegeben, auch nicht gesagt, wie die Dame heißt. Es ist gerade so, wie er's gesagt hat … die Leute werden weggerissen von den Ihren … und herumgeworfen … überall … Ganz genau, wie er's gesagt hat … Da bin ich … weggeworfen … Tausende von Meilen von Edna oder Grubb und allen meinen Leuten … wie eine Pflanze, die mit der Wurzel ausgerissen ist … Und so ist jeder Krieg gewesen, bloß daß ich zu dumm war, das zu begreifen. Immer. In allen möglichen Löchern und Winkeln sind die Leute gestorben, und niemand hat es verstanden, niemand hat es gefühlt und der Geschichte ein Ende gemacht! Alle dachten, der Krieg wäre was Großartiges! Herrgott! …

»Meine Edna! Das war ein lieber Kerl … von innen und von außen! Das muß wahr sein! Unser Ausflug damals im Boot in Kingston …

»Donnerwetter … und ich seh' sie doch noch wieder! Jedenfalls – mein Fehler soll's nicht sein, wenn nichts draus wird …«

 

IV

Und plötzlich, mitten in diesem heroischen Entschluß, wurde Bert starr und steif vor Entsetzen. Etwas kroch durch das Gras auf ihn zu. Etwas kroch auf ihn zu, hielt inne, kroch weiter auf ihn zu durch das schattenhafte, dunkle Gras. Die Nacht war geladen mit Grauen … Eine Zeitlang war es still. Bert wagte nicht mehr zu atmen. Es war doch nicht etwa … Nein, es war zu klein …

Mit einem Sprung stürzte es plötzlich auf ihn los; mit einem kleinen, miauenden Schrei und steif erhobenem Schwanz. Es war ein winziges, abgemagertes Kätzchen.

»Alle Wetter, Pussy! Was du mir für einen Schreck eingejagt hast!« sagte Bert, dem die Schweißtropfen auf der Stirn standen.

 

V

Die ganze Nacht saß er, den Rücken an einen Baumstumpf gelehnt, und hielt das Kätzchen im Arm. Sein Geist war müde. Er redete oder dachte nicht mehr zusammenhängend. Gegen Morgendämmern schlummerte er ein.

Als er erwachte, war er zwar noch steif, aber etwas mutiger. Das Kätzchen schlief warm und tröstlich unter seinem Rock. Alle Angst war, wie er fand, aus den Schatten der Bäume verschwunden.

Er streichelte das Kätzchen, und die kleine Kreatur erwachte schnurrend zu außerordentlicher Zärtlichkeit. »Du möchtest Milch«, sagte er. »Freilich, das möchtest du. Und ich könnt' auch ein bißchen Frühstück brauchen.«

Er gähnte und erhob sich, mit dem Kätzchen auf der Schulter, starrte um sich und gedachte der Ereignisse des vergangenen Tags, der grauen, überwältigenden Geschehnisse  …

»Irgendwas muß geschehen!« sagte er.

Er wandte sich den Bäumen zu und betrachtete bald darauf wieder den toten Aeronauten. Das Kätzchen hielt er dabei zum Trost fest an seinen Hals gedrückt. Schrecklich war der Leichnam; aber lange nicht so schrecklich, als er in der Dämmerung gewesen war. Die Glieder waren schlaffer, das Gewehr war zu Boden gefallen und lag da, halb im Gras versteckt.

»Wir werden ihn wohl begraben müssen, Miezchen!« sagte Bert und blickte sich hilflos auf dem steinigen Boden um. Wir müssen ja doch auf der Insel bleiben mit ihm.«

Es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich abzuwenden und nach der Erfrischungshalle weiterzugehen vermochte. »Erst Frühstück!« sagte er, »auf jeden Fall!« Und er streichelte das Kätzchen auf seiner Schulter. Das Tierchen rieb sein pelziges kleines Gesicht zärtlich an seiner Wange und begann an seinem Ohr zu knabbern.

»Milch möchtest du, was?« sagte er und wandte dem Toten entschlossen den Rücken, als wäre er ihm völlig gleichgültig.

Es überraschte ihn, die Tür der Erfrischungshalle offen zu finden, obgleich er sie am Abend zuvor sorgfältig verschlossen und verriegelt hatte. Er fand auch ein paar schmutzige Teller, die er am Abend vorher nicht bemerkt hatte. Dann entdeckte er, daß die Haken des Zinnkastens aufgebrochen waren und daß er sich öffnen ließ. Am vorigen Abend hatte er das nicht gesehen.

»Dumm von mir!« sagte Bert. »Und die ganze Zeit hab' ich an dem Schloß herumgewirtschaftet und gebohrt, und hab' das gar nicht bemerkt.« Augenscheinlich hatte der Kasten als Eisschrank gedient; aber jetzt enthielt er nichts mehr als die Überreste von einem halben Dutzend gebratener Hühner, eine zweideutige Substanz, die vielleicht dereinst Butter gewesen war, und einen auffallend unangenehmen Geruch. Sorgfältig machte er den Deckel wieder zu.

Dann gab er der Katze ein bißchen Milch in einem schmutzigen Teller und beobachtete eine ganze Weile die kleine, eifrige Zunge. Hierauf machte er eine Art Inventur der Vorräte: sechs noch ungeöffnete Flaschen Milch und eine geöffnete, sechzig Flaschen Mineralwasser, ein großer Vorrat an Limonaden, etwa zweitausend Zigaretten und mehr als hundert Zigarren, neun Apfelsinen, zwei unangebrochene Büchsen Corned beef, eine angebrochene, und fünf große Büchsen kalifornischer Pfirsiche. Er kritzelte alles auf ein Stückchen Papier. »Viel solides Futter ist's nicht«, sagte er. »Immerhin … na, sagen wir vierzehn Tage …

»Wer weiß, was in vierzehn Tagen geschehen kann!«

Er gab dem Kätzchen eine kleine zweite Portion und ein Restchen Corned beef und ging dann, um nach den Trümmern der »Hohenzollern« zu sehen. Die kleine Kreatur rannte, mit steif erhobenem Schwanz und äußerst vergnügt, hinter ihm drein. Das Wrack hatte in der Nacht seinen Platz gewechselt; es schien jetzt viel fester als zuvor sich auf Green Island niedergelassen zu haben. Berts Auge wanderte hinüber zu der zerstörten Brücke und dann weiter zu der stummen Verwüstung der Stadt. Nichts regte sich da drüben als ein Haufen Krähen. Sie beschäftigten sich eifrig mit dem Mechaniker, dessen Ende er gestern mit angesehen hatte … Hunde sah er nicht; nur heulen hörte er einen.

»Wir müssen sehen, daß wir irgendwie herauskommen, Pussy!« sagte er. »Die Milch reicht nicht ewig – jedenfalls nicht bei dem Tempo, in dem du frißt!«

Er betrachtete die schleusenähnliche Flut vor sich. »Wasser genug!« sagte er. »Am Getränk wird's uns nicht fehlen.«

Dann beschloß er eine möglichst genaue Erforschung der ganzen Insel. Nach einer Weile kam er an eine verschlossene Gitterpforte, über der »Biddle-Stairs« stand. Er kletterte hinüber und entdeckte eine steile Holztreppe, die inmitten eines unendlichen und beständig zunehmenden Getöses von Wasser auf ein Felsenplateau hinabführte. Er ließ das Kätzchen oben, stieg hinab und entdeckte mit einem plötzlichen Aufrauschen von Hoffnung einen Pfad zwischen den Felsen am Fuß des herabtosenden mittleren Falls. Vielleicht war das eine Art Weg …

Aber er führte ihn nur in das betäubende Toben der Windhöhle; und nachdem er etwa eine Viertelstunde halb besinnungslos zwischen dem kompakten Felsen und dem fast ebenso kompakten Wasserfall zugebracht hatte, fand er, daß dies auch kein besonders wünschenswerter Weg nach Kanada sei und kehrte wieder um. Während er Biddle-Stairs emporklomm, hörte er etwas, was ihm wie eine Art Echo vorkam, ein Geräusch wie von einem Menschen, der auf dem Pfad über ihm ging. Als er auf den Gipfel gelangte, war der Platz so verlassen wie zuvor.

Nun ging er weiter, in ständiger Begleitung des Kätzchens, das lustig neben ihm hersprang – zu einer Treppe, auf einen vorspringenden Felsbrocken, der mitten auf die riesige grüne Majestät des Hufeisenfalls hinausging. Eine Weile stand er hier schweigend da.

»Man sollt' es nicht glauben«, sagte er schließlich, »daß es überhaupt so viel Wasser geben kann … Es geht einem schließlich auf die Nerven … all dies Tosen und Sprühen … Es klingt, als ob Leute redeten … und umhergingen … Es klingt, wie alles, woran man gerade selber denkt …«

Er ging wieder zur Treppe zurück. »So werd' ich wohl immerzu um die verwünschte Insel herumlaufen«, sagte er müde. »Immerzu … immerzu … immerzu …«

Bald darauf stand er wieder neben dem weniger beschädigten asiatischen Aeroplan. Er starrte ihn an und das Kätzchen beschnüffelte ihn.

»Kaputt!« sagte er.

Mit einem unwillkürlichen Zusammenzucken blickte er auf.

Von den Bäumen her kamen langsam zwei große, hagere Gestalten auf ihn zu. Sie waren verrußt, zerfetzt, verbunden … der Hinterste hinkte und hatte einen weißeingewickelten Kopf; aber der Vordere trug sich auch jetzt noch, wie es einem Prinzen geziemt, obwohl sein rechter Arm in einer Schlinge lag und seine eine Gesichtshälfte verbrüht war und wie Feuer brennen mußte. Es war Prinz Karl Albert, der Kriegsherr, der »deutsche Alexander«, und der Mann hinter ihm war der Vogelgesichtige, den man dereinst aus seiner Kabine gejagt hatte, um sie für Bert zu räumen.

 

VI

Mit dieser Erscheinung begann für Bert eine neue Phase auf der Ziegeninsel. Er hörte auf, ein einziger Repräsentant der Menschheit in einem unendlichen, unbegreiflichen und unbeherrschbaren All zu sein und wurde aufs neue ein Herdentier, ein Mensch in einer Welt von Menschen. Einen Augenblick lang erschienen die beiden ihm furchtbar; dann waren sie ihm süß … willkommen, wie Brüder. Sie waren ja in der gleichen bösen Lage wie er, ausgesetzt und hilflos. Es verlangte ihn dringend danach, genau zu erfahren, was sie alles erlebt hatten. Was tat es, daß der eine ein Prinz, daß sie beide fremde Offiziere waren, daß vielleicht keiner von ihnen ein verständliches Englisch sprach? Seine angeborene ungenierte Selbstsicherheit war viel zu groß, als daß er daran gedacht hätte; und jedenfalls hatten die asiatischen Flotten alle derartigen kleinlichen Unterschiede mit sich fortgeschwemmt. »Hallo!« sagte er. »Wie kommen denn Sie hierher?«

»Es ist der Engländer, der uns die Butteridge-Maschine gebracht hat«, sagte der Vogelgesichtige auf deutsch; und dann, als Bert sich näherte, in einem Ton des Entsetzens: »Salutieren!« und noch einmal, lauter: »Salutieren!«

»Wetter!« sagte Bert; mit Mühe hielt er eine weitere Bemerkung zurück. Er riß die Augen auf und salutierte linkisch; in einem Moment wurde er zu einem maskierten, argwöhnisch-feindseligen Lebewesen, mit dem ein Hand-in-Hand-Gehen eine Unmöglichkeit war.

Eine Weile betrachteten die beiden klassischen Typen moderner Aristokratie dies schwierige Problem eines angelsächsischen Bürgers, jenes rätselhaften Bürgers, der einem geheimnisvollen Gesetz seines Bluts zufolge weder zum Soldaten taugte noch Demokrat war. Bert bot keineswegs einen schönen Anblick; aber auf irgendeine unerklärliche Art sah er widersetzlich aus. Er trug einen billigen blauen Baumwollanzug, der schon deutliche Zeichen von Abgetragenheit verriet und dessen loser Schnitt ihn breiter erscheinen ließ, als er in Wirklichkeit war. Über seinem wenig ansprechenden Gesicht saß eine deutsche Mütze, die ihm viel zu groß war; die Beinkleider waren hochgezogen und steckten in den Gummistiefeln eines gefallenen deutschen Luftschiffers. Er sah aus wie ein tieferstehendes Geschöpf, aber nicht wie ein sehr bequemes tieferstehendes Geschöpf, und sie haßten ihn ganz instinktiv.

Der Prinz deutete auf die Flugmaschine und sagte etwas in gebrochenem Englisch, das Bert für Deutsch hielt und nicht verstand. Er gab dies auch zu verstehen.

»Dummer Kerl!« sagte der vogelgesichtige Offizier unter seinem Verband hervor.

Wieder hob der Prinz seine unverletzte Hand. »Verstehen Sie diesen Drachenflieger?«

Bert begann, die Situation zu begreifen. Er betrachtete die asiatische Maschine. »Es ist ausländisches Fabrikat«, sagte er ausweichend.

Die beiden Deutschen berieten. »Sie sind … Fachmann?« fragte der Prinz.

»Die Reparatur wird gemacht!« sagte Bert, ganz im Tonfall Grubbs.

Der Prinz suchte in seinem Wortschatz nach. »Kann man«, sagte er in wunderlichem Englisch, »fliegen damit?«

Bert überlegte und kratzte sich langsam das Kinn. »Muß es mir erst ansehen«, erwiderte er … »Es ist bös mitgenommen.«

Er machte mit seinen Zähnen ein Geräusch, das er auch von Grubb gelernt hatte, steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte zu der Maschine zurück. Grubb, als Typ feiner Art, kaute immer irgend etwas; Bert konnte nur in der Einbildung kauen. »Drei Tage wird's schon kosten«, sagte er, kauend. Zum erstenmal dämmerte ihm der Gedanke auf, daß in dieser Maschine allerhand Möglichkeiten verborgen lagen. Ohne allen Zweifel war der Flügel, der auf der Erde lag, ernstlich beschädigt. Die drei Rippen, die ihn stützten, waren über einer Felskante abgeknickt, und es schien auch, als wäre der Motor stark mitgenommen. Der Flügelhaken auf dieser einen Seite war ebenfalls verbogen; doch brauchte das den Flug nicht notwendig zu beeinträchtigen. Bert kratzte sich wieder die Backe und beschaute sich die weite, sonnbeglänzte Fläche des Oberen Falls. »Wir schaffend schon«, sagte er … »Überlassen Sie's nur mir.«

Wieder untersuchte er die Maschine aufs genaueste, während der Prinz und der Offizier ihm zusahen. In Bun Hill hatten Bert und Grubb bei ihrem Mietsräderlager hauptsächlich der Ersatzreparaturmethode gehuldigt. Das heißt, sie ersetzten Fehlendes durch Teile von andern Maschinen. Eine Maschine, die zum Ausleihen doch zu augenscheinlich verdorben war, hatte immerhin noch einen Kapitalwert. Sie wurde einfach zu einer Art Magazin von Muttern, Schrauben, Rädern, Speichen, Felgen, Kettengliedern und so weiter; eine unerschöpfliche Fundgrube schlechtpassender »Teile«, die die Defekte der noch im Umlauf befindlichen Maschinen ersetzen mußten. Und da hinten, zwischen den Bäumen, war ja noch ein zweiter asiatischer Aeroplan …

Das Kätzchen schnurrte unbeachtet um Berts Luftschifferstiefel herum.

»Bringen Sie den Drachenflieger wieder in Ordnung!« sagte der Prinz.

» Wenn ich ihn wieder in Ordnung bringe«, sagte Bert, dem plötzlich ein ganz neuer Gedanke kam, »so kann noch immer keiner von uns drauf fliegen.«

» Ich werde damit fliegen!« sagte der Prinz.

»Und sich wahrscheinlich den Hals brechen«, sagte Bert nach einer Pause.

Der Prinz verstand ihn nicht und beachtete überhaupt nicht, was er sagte. Er deutete mit seinem behandschuhten Finger auf die Maschine und wandte sich mit einer Bemerkung auf deutsch zu dem vogelgesichtigen Offizier. Der Offizier antwortete, und als Erwiderung machte der Prinz eine umfassende Gebärde gegen den Horizont. Darauf sprach er – augenscheinlich mit großer Beredsamkeit. Bert beobachtete ihn und erriet ungefähr, was er sagte. »Wahrscheinlicher ist's, daß Sie sich den Hals brechen«, sagte er. »Aber einerlei. Los!«

Er fing an, den Sattel und den Motor des Drachenfliegers nach Werkzeugen zu untersuchen. Auch vermißte er dringend irgendwelche ölige, schwarze Substanz – für sein Gesicht und seine Hände … Denn die erste Regel in der Kunst der Reparatur – so wie die Firma Grubb & Smallways sie verstand – war, sich Hände und Gesicht möglichst gründlich und ausgiebig zu beschmieren. Er zog auch seinen Rock und seine Weste aus und schob seine Mütze sorglich nach hinten – damit er sich leichter kratzen konnte.

Der Prinz und der Vogelgesichtige wollten ihm augenscheinlich gern zusehen. Aber es gelang ihm, ihnen klarzumachen, daß ihn dies genieren und belästigen würde, und daß er überhaupt erst eine Weile sinnieren müßte, ehe er sich an die Arbeit machte. Sie überlegten es sich; aber seine Geschäftserfahrung gab ihm etwas von der autoritären Art des Fachmenschen dem Laien gegenüber. Er ging geradewegs zu dem zweiten Aeroplan, holte das Gewehr und die Munition des toten Aeronauten und versteckte beides in einem naheliegenden Busch Brennesseln. »Das war' in Ordnung!« sagte er. Darauf machte er sich an eine gründliche Untersuchung der zwischen den Bäumen hängenden Flügeltrümmer. Nach einer Weile ging er zu dem ersten Aeroplan zurück, um die beiden zu vergleichen. Augenscheinlich war es ganz gut möglich, die Bun Hiller Methode anzuwenden, vorausgesetzt, daß mit dem Motor nichts Besonderes und Unverständliches los war.

Bald darauf kehrten auch die Deutschen zurück und fanden ihn – schon reichlich schmierig –, wie er, mit einem Ausdruck tiefster Sachkundigkeit, Schrauben und Zangen und Schraubenzieher handhabte. Als der Vogelgesichtige ein paar Worte an ihn richtete, machte er nur eine Handbewegung: »Nong comprong! Schweigen Sie! Es hat keinen Zweck …«

Und plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Der Tote muß begraben werden!« sagte er, mit dem Daumen über die Schulter deutend.

 

VII

Mit dem Auftauchen der beiden Männer hatte Berts Welt sich aufs neue verwandelt. Wie ein Vorhang fiel es vor die unendliche, fürchterliche Einsamkeit, die ihn so ganz überwältigt hatte. Er lebte in einer Welt von drei Menschen, einer winzigen menschlichen Welt, die aber trotz allem sein Gehirn mit emsigen Phantasien, mit Plänen und allerhand schlauen Gedanken füllte. Was dachten die beiden? Was dachten sie von ihm? Was war ihre Absicht? Hundert geschäftige Fäden verschlangen sich in seinem Geist, während er emsig mit dem asiatischen Aeroplan beschäftigt war. Wie Blasen in kohlensaurem Wasser stiegen neue Ideen in ihm auf.

»Alle Wetter!« sagte er plötzlich. Es war ihm mit einemmal als ganz besonders vernunftlose Ungerechtigkeit des Schicksals aufgegangen, daß die zwei noch lebten – und daß Kurz tot war! Die ganze Mannschaft der »Hohenzollern« war erschossen oder verbrannt oder ertrunken oder zerschmettert; bloß die beiden, die sich in die gepolsterte erste Kabine verkrochen hatten, waren noch am Leben …

»Wahrscheinlich denkt er, es ist sein verdammter Stern!« murmelte Bert. Er war über alle Maßen empört.

Er richtete sich auf und blickte die beiden Männer an. Sie standen Seite an Seite und betrachteten ihn. »Es geht nicht«, sagte er, »wenn Sie mich so anstarren. Sie bringen mich bloß aus dem Konzept!« Und als er sah, daß sie ihn nicht verstanden, ging er mit dem Schraubenzieher in der Hand auf sie zu. Während er so ging, fand er plötzlich, daß der Prinz doch eine unendlich große, kräftige und erhaben aussehende Persönlichkeit war. Trotzdem sagte er, zwischen den Bäumen durchzeigend: »Ein Toter!«

Der Vogelgesichtige kam jetzt mit einer deutschen Antwort.

»Ein Toter!« wiederholte Bert. »Da!«

Es kostete viel Schwierigkeit, sie dazu zu bewegen, sich den toten Chinesen anzusehen. Endlich führte er sie zu ihm hin. Darauf deuteten sie an, daß es seine – eines Gemeinen – Pflicht wäre, den Leichnam zum Stromufer zu schleppen und ihn so aus der Welt zu schaffen. Ein ziemlich hitziges Gebärdenspiel erfolgte, und schließlich gab sich der Vogelgesichtige zu einer Art Handreichung her. Sie schleppten den schlaffen und jetzt ziemlich angeschwollenen Asiaten zwischen den Bäumen durch und warfen ihn, nach ein paar Ruhepausen – denn er war recht schwer – in den westlichen Fall. Schließlich kehrte Bert mit schmerzenden Armen und in einem Zustand düsterer Widersetzlichkeit zu der fachmännischen Untersuchung der Flugmaschine zurück. »So 'ne Frechheit!' sagte er. »Als ob ich einer von ihren deutschen Untertanen wäre! Hochnäsiger Kerl!«

Und er erging sich in Vorstellungen, was wohl geschehen würde, wenn die Flugmaschine wieder hergestellt wäre – wenn sie überhaupt wieder herzustellen war.

Die zwei Deutschen gingen wieder; und nach kurzer Überlegung nahm Bert ein paar Schraubenmuttern aus der Maschine, zog seinen Rock und seine Weste wieder an, schob die Muttern in die Tasche und versteckte die Geräte und Werkzeuge des zweiten Aeroplan zwischen den Ästen eines Baums. »Bravo!« sagte er, während er nach der letzten dieser Vorsichtsmaßregeln zur Erde sprang. Der Prinz und sein Begleiter erschienen eben wieder am Stromufer, als er zu der Maschine zurückkehrte. Der Prinz schaute ihm eine Weile zu, ging dann zu der Teilung der Wasser und blieb mit gekreuzten Armen in tiefen Gedanken stehen. Der vogelgesichtige Offizier näherte sich, mit einem englischen Satz beladen, Bert. »Gehen Sie«, sagte er mit einer hilflosen Gebärde, »und essen Sie!«

Als Bert zur Erfrischungshalle gelangte, fand er, daß sämtliche Nahrungsmittel verschwunden waren, mit Ausnahme einer Portion Corned beef und dreier Biskuits. Unter dem Ladentisch kroch mit einem ärgerlichen Schnurren das Kätzchen hervor. »Aber natürlich!« sagte Bert. »Wo ist denn deine Milch?«

Eine Minute oder zwei ließ er die Wut in sich mächtig anschwellen; dann nahm er den Teller in eine Hand, die Biskuits in die andere, und ging, den Prinzen aufzusuchen, wobei er allerhand Bissiges über »Essen« und sein eigenes intimstes Innere vor sich hinmurmelte. Er näherte sich den beiden – ohne zu salutieren.

»He!« sagte er zornig. »Was, zum Teufel, soll das heißen!«

Ein gänzlich zweckloser Wortwechsel folgte. Bert betonte auf englisch die Bun Hiller Theorie der Beziehungen zwischen Ernährung und Leistungsfähigkeit, und der Vogelgesichtige erwiderte auf deutsch in Sentenzen über Nationalität und Disziplin. Der Prinz, der mittlerweile Berts geistige und körperliche Eigenart begutachtet hatte, ging plötzlich zum Angriff über. Er packte Bert an den Schultern und schüttelte ihn so, daß seine Taschen klapperten, schrie ihm etwas ins Gesicht und schleuderte ihn dann von sich. Er behandelte ihn wie einen deutschen Untertan. Bert taumelte, blaß und verstört, zurück, war aber kraft seiner ganzen Frechlings-Lebensanschauung, zu einem fest entschlossen: er mußte sich mit dem Prinzen raufen. »Wetter!« stammelte er, seinen Rock zuknöpfend …

»Na!« rief der Prinz, »werden Sie wohl gehen?« Dann, das kampflustige Funkeln in Berts Augen bemerkend, zog er seinen Degen.

Jetzt legte sich der Vogelgesichtige ins Mittel, indem er etwas auf deutsch sagte und nach dem Himmel deutete. Fern im Südwesten erschien ein japanisches Luftschiff, das sich ihnen schnell näherte. Das brachte den Konflikt zu einem raschen Ende. Der Prinz war der erste, der die Situation voll erfaßte und zum Rückzug blies. Alle drei schossen wie die Kaninchen den Bäumen zu und rannten ängstlich hin und her, bis sie eine Art Erdloch fanden, das dicht und hoch mit Gras bewachsen war. Und da hockten sie nun – keine sechs Schritt voneinander entfernt. Lange Zeit saßen sie so – bis über die Ohren im Gras – und beobachteten durch die Baumzweige das Luftschiff. Bert hatte den größten Teil seines Corned beef verloren, fand aber immerhin noch die Zwiebäcke in seiner Hand und verzehrte sie geruhsam. Das Ungeheuer flog fast senkrecht über ihnen hin, entfernte sich in Richtung Niagara und ließ sich jenseits der Elektrizitätsanlagen herab. Solang es in der Nähe war, verhielten sich alle drei ganz ruhig; gleich darauf aber verfielen sie in einen Meinungsaustausch, der sich vielleicht nur infolge der Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu verständigen, nicht zu unmittelbarer Handgreiflichkeit entwickelte.

Bert war der erste, der anfing; und er redete auch immer weiter, unbekümmert darum, was sie von seiner Suada verstanden oder nicht. Jedenfalls mußte schon seine Stimme allein seine kriegerischen Absichten verraten.

»Ihr möchtet, ich soll die Maschine in Ordnung bringen«, fing er an. »Dann laßt nur lieber die Hände von mir!«

Da seine Worte keine Beachtung fanden, wiederholte er sie.

Daraufhin verbreitete er sich über diesen Punkt weiter, und der Geist der Rede kam über ihn. »Ihr denkt, ihr habt da einen Menschen erwischt, den ihr herumpuffen und schikanieren könnt, wie eure Leute! Aber da täuscht ihr euch ganz gewaltig! Verstanden? Ich hab' euch und eure Mätzchen satt. Ich hab' mir die Geschichte überlegt mit euch und eurem Krieg und eurer Weltherrschaft und dem ganzen Mumpitz! Mumpitz ist es, weiter nichts! Niemand anders als ihr Deutschen habt von Anfang an den ganzen Krawall in Europa angestiftet! Und alles um nichts und wieder nichts. Einfach aus dummem Getue. Einfach, weil ihr eure Uniformen und Flaggen habt! Seht doch mich an – hab' ich etwa etwas von euch wollen? Keinen Pfifferling hab' ich mich geschoren um euch! Und auf einmal packt ihr einen – stehlt einen ganz einfach –! Und da ist man nun – Tausende von Meilen von daheim fort, von allem! Und eure ganze alberne Flotte in Fetzen gehauen! Und dabei vollführt ihr noch immer das gleiche Getue! Aber das gibt's nicht mehr, das sag' ich euch! – Seht euch doch mal an, was ihr zuwege gebracht habt! Die Art und Weise, wie ihr New York zertrümmert, die Menschen, die ihr umgebracht, das Material, das ihr vergeudet habt! Könnt ihr denn gar nichts lernen draus?«

»Dummer Kerl!« sagte plötzlich der Vogelgesichtige in einem Ton intensivster Feindseligkeit, indem er Bert unter seinem Verband hervor anfunkelte. »Esel!«

»Jawohl – ich versteh' ganz gut, was das heißt! Dummer Esel! Ich weiß schon! Aber wer ist der Esel – er oder ich? Wie ich ein kleiner Junge war, hab' ich oft Schauergeschichten gelesen von allerhand Abenteurern und all solchem Mumpitz. Ich bin drüber weg. Aber was steckt ihm im Kopf? Nichts als Blödsinn von Napoleon und Alexander und seiner eigenen verflixten Familie und sich selber und Gott und David und derartigem Zeug! Jeder, aber auch jeder, der nicht gerade solch ein alberner, aufgeblasener Prinz ist, hätte all das, was geschehen ist, vorausgesehen … Wir – in Europa im schönsten Durcheinander – mit unsern Flaggen und dummen Zeitungen, die uns gegeneinander aufhetzen und voneinander fernhielten – und auf der andern Seite China, das so fest zusammenhielt wie ein Laib Käse, mit seinen Millionen und aber Millionen Menschen, die nichts brauchten als ein bißchen Wissen und Unternehmungsgeist, um es mit uns allen zusammen aufnehmen zu können! Ihr habt ja wohl gedacht, die könnten euch nichts anhaben! Und auf einmal haben sie da ihre Flugmaschinen – und paff! – da haben wir's! Und solang sie überhaupt noch keine Kanonen und Armeen drüben hatten, gaben wir ja keine Ruhe! Wir mußten so lang an ihnen herumzerren und -rütteln, bis sie sie glücklich auch hatten! Wir haben sie ja ganz einfach gezwungen, uns einmal eine Tracht Prügel zu versetzen, so wie wir's jetzt erlebt haben. Wir gaben ja doch keinen Frieden, ehe wir sie hatten! Na – wie gesagt – jetzt haben wir's!«

Der Vogelgesichtige schrie ihn an, er möge das Maul halten, und fing mit dem Prinzen ein Gespräch an.

»Ich bin ein britischer Bürger«, sagte Bert. » Ihr braucht nicht zuzuhören, aber ich brauch auch nicht den Mund zu halten.« Und eine ganze Weile fuhr er noch in seinen Ausführungen über Imperialismus, Militarismus und internationale Politik fort. Aber die Unterhaltung der beiden störte ihn doch, und eine Zeitlang wiederholte er nur immer wieder gewisse Schmähworte, wie »aufgeblasener Einfaltspinsel« und ähnliche ältere und neuere Liebenswürdigkeiten.

Dann fiel ihm auf einmal wieder sein Hauptkummer ein. »Übrigens – he da, ihr – he! Was ich eigentlich sagen wollte: wo sind die Vorräte, die dort in der Bude waren? Das möcht' ich wissen! Wo habt ihr sie hingetan?«

Sie fuhren fort, sich auf deutsch miteinander zu unterhalten. Er wiederholte seine Frage. Sie beachteten ihn nicht. Er fragte zum drittenmal – in einem unverschämt herausfordernden Ton.

Ein schwüles Schweigen trat ein. Ein paar Sekunden lang schauten die drei einander an. Der Prinz fixierte Bert und Bert erbebte unter diesem Blick. Dann erhob sich der Prinz langsam, und der vogelgesichtige Offizier schnellte neben ihm in die Höhe. Bert blieb auf der Erde kauern.

»Ruhe!« sagte der Prinz.

Und Bert merkte, daß der Augenblick für Beredsamkeit schlecht gewählt war.

Die beiden Deutschen blickten nach ihm herüber, wie er da hockte … Einen Moment schien es, als drohe der Tod … Dann wandte der Prinz sich ab und die beiden entfernten sich in Richtung Flugmaschine.

»Alle Wetter!« flüsterte Bert, und ein einziges, leises Schimpfwort entfuhr ihm … Noch drei Minuten etwa blieb er sitzen; dann sprang er auf und lief zu den Weiden, in denen er das Gewehr des chinesischen Aeronauten versteckt hatte.

 

VIII

Von diesem Augenblick ab tat keiner von den dreien mehr so, als stünde Bert unter dem Befehl des Prinzen oder als solle er die Flugmaschine reparieren. Die beiden Deutschen ergriffen von der letzteren Besitz und machten sich selbst an die Arbeit. Bert wanderte mit seiner neuen Waffe nach dem Terrapinfelsen und ließ sich da nieder, um sie zu untersuchen. Es war ein kurzes, großkalibriges Gewehr mit fast vollem Magazin. Er nahm die Patronen sorgfältig heraus, versuchte den Drücker und das Funktionieren der einzelnen Teile, bis er sicher war, daß sie ihm geläufig waren, und lud dann sorgsam aufs neue. Darauffiel ihm ein, daß er hungrig war, und er ging, das Gewehr unter dem Arm, zur Erfrischungshalle, um sie von innen und außen zu besichtigen. Er war klug genug, einzusehen, daß es besser war, wenn der Prinz und sein Gefährte ihn nicht mit dem Gewehr erblickten. Solange sie ihn für unbewaffnet hielten, würden sie ihn in Frieden lassen; was aber die napoleonische Persönlichkeit tun würde, wenn sie Berts Waffe sah – das konnte man nicht wissen. Auch aus einem andern Grund mied er ihre Nähe: er fühlte, in ihm kochte ein ganz unerschöpflicher Quell der Wut, und er hegte die Befürchtung, es möchte ihn die Lust anwandeln, die beiden Männer zu erschießen. Er hatte wirklich die größte Lust, sie über den Haufen zu schießen, und dachte dabei doch, das wäre etwas ganz Entsetzliches. Die beiden entgegengesetzten Seiten seiner widerspruchsvollen Zivilisation lagen in ihm im Kampf.

In der Nähe der Erfrischungshalle tauchte auch das Kätzchen wieder auf – augenscheinlich sehr gierig nach Milch. Das stachelte Berts eigenes grimmiges Hungergefühl ganz gewaltig an. Während er umherstöberte, fing er mit sich selbst zu reden an; und nach einer Weile blieb er, laute Verwünschungen ausstoßend, stehen. Von Hochmut und Krieg und Imperialismus redete er. » Jeder andere Prinz wäre einfach untergegangen mit seinem Schiff und seiner Mannschaft!« schrie er.

Die zwei Deutschen bei der Flugmaschine hörten seine Stimme in Zwischenräumen durch das Tosen der Wasser tönen. Ihre Blicke trafen sich; beide lächelten leise.

Eine Zeitlang dachte er daran, sich in die Erfrischungsbude zu setzen und sie da zu erwarten. Dann fiel ihm ein, daß er sie da denn doch gar zu dicht auf dem Leib hätte, und er schlenderte, das Gewehr unterm Arm, zur Spitze der Luna-Insel, um sich die Situation zu überlegen.

Anfänglich war sie ihm verhältnismäßig einfach erschienen; aber während er darüber nachdachte, mehrten und vergrößerten sich die Möglichkeiten. Jene beiden hatten Degen. Ob einer von ihnen auch einen Revolver hatte?

Und wenn er sie beide über den Haufen schoß, fand er vielleicht die Vorräte überhaupt nie …

Bis jetzt war er, mit seinem Gewehr unterm Arm, in einem Bewußtsein selbstherrlicher Sicherheit umhergelaufen. Aber wenn sie nun das Gewehr erblickten und ihn aus dem Hinterhalt anfielen? Die Ziegeninsel bestand ja doch aus lauter Deckung – Bäume, Felsen, Dickichte, eine Menge von Unregelmäßigkeiten …

Warum überhaupt nicht einfach gehen und sie beide umbringen – jetzt – sofort?

»Ich kann nicht!« sagte Bert, den Gedanken von sich schiebend. »Erst müssen sie mich dazu zwingen.«

Aber sich so ganz von ihnen zu entfernen, war ein Fehler. Das wurde ihm plötzlich klar. Er mußte sie im Auge behalten, mußte »rekognoszieren«. Dann würde er sehen, was sie machten, ob einer von ihnen einen Revolver hatte, wo sie die Lebensmittel versteckt hielten. Er würde dann auch besser beobachten können, was sie eigentlich mit ihm vorhatten. Wenn er ihnen nicht nachspionierte, würden einfach sie ihm nachspionieren. Dieser Gedanke erschien ihm so hervorragend vernünftig, daß er auch sofort danach zu handeln begann. Er überdachte seinen Anzug und warf seinen Kragen und die verräterische weiße Aeronautenmütze in die Tiefe des Wassers unter ihm. Dann klappte er seinen Rockkragen auf, um jeden Schimmer seines schmutzigen Hemds zu verbergen. Die Werkzeuge und Muttern in seinen Taschen machten ein klapperndes Geräusch; er wickelte ein paar Briefe und sein Taschentuch darum. Dann machte er sich, vorsichtig und geräuschlos, auf den Weg, bei jedem Schritt scharf um sich schauend. Lautes Knarren und Hämmern zeigte ihm bald deutlich an, daß er sich seinen Feinden näherte. Gleich darauf erblickte er sie auch – augenscheinlich in einer Art Rauferei mit der asiatischen Flugmaschine begriffen. Sie waren in Hemdärmeln, hatten ihre Degen abgeschnallt und arbeiteten wie die Ochsen. Offenbar drehten sie die Maschine eben um und hatten dabei viel Schwierigkeit mit dem langen Schweif, der zwischen den Bäumen hing. Als Bert sie sah, ließ er sich flach auf die Erde fallen, schlängelte sich bis zu einem kleinen Erdloch und beobachtete von dort, wie sie sich abmühten. Ab und zu zielte er – zum Zeitvertreib – mit seinem Gewehr nach einem von den beiden.

Er fand, daß es wirklich interessant war, ihnen zuzusehen; so interessant, daß er ihnen manchmal beinah einen guten Rat zugerufen hätte. Er wußte – wenn sie die Maschine umgedreht hatten, würden sie auch sofort die Muttern und Werkzeuge, die er in der Tasche hatte, benötigen. Dann würden sie nach ihm suchen. Jedenfalls würden sie auf den Gedanken kommen, daß er sie sich angeeignet oder sie versteckt hätte. Ob er sein Gewehr versteckte und mit ihnen um Lebensmittel verhandelte – zum Tausch gegen die Werkzeuge, die er in der Tasche hatte? Aber er fühlte – er konnte sich nicht mehr von dem Gewehr trennen, nachdem er einmal seine vertraueneinflößende Nähe gekostet hatte. Das Kätzchen erschien wieder auf der Bildfläche, begrüßte ihn mit unendlich wichtigem Getue, leckte ihn ab und biß ihn ins Ohr …

Die Sonne stieg gegen Mittag; einmal erblickte Bert etwas, was die Deutschen nicht sahen: ein asiatisches Luftschiff, das ganz fern im Süden erschien und rasch ostwärts flog.

Schließlich war die Flugmaschine umgedreht und stand richtig auf ihrem Rad, die Haken aufwärts nach den Fällen gewandt. Die beiden Offiziere trockneten sich die Gesichter, zogen die Röcke wieder an, schnallten ihre Degen um und redeten und betrugen sich wie Menschen, die sich zu einem guten, arbeitsreichen Vormittag beglückwünschen. Dann gingen sie rasch zur Erfrischungshalle, der Prinz voran. Bert wurde sofort lebendig; aber es war ihm unmöglich, ihnen rasch und unhörbar genug zu folgen, um noch das Versteck der Nahrungsmittel herauszufinden. Als er die beiden wieder erblickte, saßen sie, mit dem Rücken gegen die Bude, jeder einen Teller auf den Knien, mit einer Büchse Corned beef und einem Teller voll Biskuit zwischen sich. Sie schienen äußerst aufgeräumt; der Prinz lachte sogar einmal. Bei diesem Anblick stürzten Berts Pläne zusammen. Ein grimmiger Hunger überwältigte ihn. Plötzlich erschien er vor den beiden, das Gewehr in der Hand, in einer Entfernung von vielleicht zwanzig Schritt.

»Hände hoch!« sagte er mit harter, entschlossener Stimme.

Der Prinz zögerte; dann flogen zwei Paar Hände in die Höhe. Das Gewehr hatte die beiden völlig überrascht.

»Aufgestanden!« sagte Bert … »Gabel weg!« Sie gehorchten.

»Was jetzt?« fragte Bert sich selber. »Abmarsch – vermutlich!«

Also – »Los!« kommandierte er. »Hier – diesen Weg!«

Der Prinz gehorchte mit auffallender Hast. Als er die Höhe der Lichtung erreicht hatte, sagte er rasch etwas zu dem Vogelgesichtigen, und beide fingen, mit einem gänzlichen Mangel an Würde, zu laufen an.

Bert kam plötzlich – zu spät – ein ärgerlicher Gedanke.

»Herrgott!« rief er zornig. »Natürlich! Ich hätt' ihnen ihre Degen abnehmen müssen! Heda!«

Aber die beiden Deutschen waren schon außer Sicht und jedenfalls sicher zwischen den Bäumen versteckt. Bert nahm seine Zuflucht zu allerhand Flüchen und Verwünschungen, ging dann zu der Erfrischungshalle, untersuchte flüchtig die Möglichkeit eines Flankenangriffs, stellte sein Gewehr an einen günstigen Platz neben sich und fiel, mit einer krampfhaften Pause zwischen jedem Mundvoll, über den Teller des Prinzen her. Er hatte ihn eben geleert und die Überreste dem Kätzchen gegeben und begann just mit dem zweiten Teller, als dieser plötzlich in seiner Hand zerbrach. Er starrte umher, während es ihm langsam dämmerte, daß er den Augenblick zuvor im Dickicht ein Knacken gehört hatte. Dann sprang er auf, packte mit der einen Hand das Gewehr, mit der andern den Teller mit Corned beef und floh um die Halle herum nach der andern Seite der Lichtung. Währenddem kam ein zweiter Knall aus dem Dickicht, und mit zischendem Geräusch fuhr etwas an seinem Ohr vorüber.

Er hielt in seinem Lauf nicht inne, bis er an einem, wie ihm schien, zur Verteidigung trefflich geeigneten Punkt in der Nähe der Luna-Insel angelangt war. Hier versteckte er sich, schwer atmend und erwartungsvoll …

»Also haben sie doch einen Revolver!« flüsterte er … »Möcht' wissen, ob sie gar zwei haben? Wenn … großer Gott! Dann bin ich geliefert!«

»Wo ist die Katze? Frißt das Corned beef auf, vermutlich! Das kleine Luder!«

 

IX

So also begann der Krieg auf der Ziegeninsel. Er dauerte einen Tag und eine Nacht, den längsten Tag und die längste Nacht, die Bert je erlebt hatte. Er lag ganz still und lauschte und beobachtete. Dabei machte er Pläne, was er nun eigentlich tun wollte. Eins war klar – er mußte die beiden Männer töten, wenn er konnte, oder sie würden ihn töten, wenn sie konnten. Der Preis, um den sie kämpften, war: erstlich die Nahrungsmittel und dann die Flugmaschine und das zweifelhafte Privilegium, einen Ritt darauf zu probieren. Mißlang er, so kostete es natürlich das Leben, glückte er, so konnte man an irgendeinen andern Ort gelangen. Eine Weile versuchte Bert sich vorzustellen, wie etwa dieser andere Ort beschaffen sein könnte. Allerlei Möglichkeiten stellten sich ihm dar. Wüsten, ergrimmte Amerikaner, Japaner, Chinesen – vielleicht sogar Indianer! (Ob es überhaupt noch Indianer gab?)

»Man muß es nehmen, wie's kommt!« sagte sich Bert. »Einen andern Weg aus der Geschichte heraus seh' ich nicht.«

Klangen da nicht Stimmen? Er merkte, daß seine Aufmerksamkeit anfangen wollte, nachzulassen. Eine Zeitlang waren alle seine Sinne aufs äußerste angespannt. Das Tosen der Fälle verwirrte ihn; alle möglichen Laute klangen darin, Schritte, Stimmen, Ausrufe und Geschrei …

»So ein dummer Wasserfall!« sagte Bert. »Hat das auch einen Sinn? Immerzu fallen und fallen!«

Aber einerlei! Was mochten die Deutschen jetzt treiben? Ob sie zu der Flugmaschine zurückkehrten? Anfangen konnten sie nichts damit, weil er die Muttern und Werkzeuge und Schrauben und Schraubenzieher hatte. Aber wenn sie die andern Geräte fanden, die er in einem Baum versteckt hatte! Er hatte sie natürlich gut versteckt, aber sie konnten sie ja trotzdem finden. Sicher konnte man nicht sein – natürlich. Er versuchte, sich ganz genau zu entsinnen, wie er die Werkzeuge versteckt hatte. Er versuchte, sich selber einzureden, sie wären ganz sicher und unauffindbar versteckt; aber sein Gedächtnis fing an, ihm allerhand Streiche zu spielen. Hatte er wirklich den Schraubenzieher so in der Gabel des Asts versteckt, daß der Griff nicht hervorsah und blinkte …? Sch! Was war das? Regte sich dort jemand in den Büschen? Drohend flog der Gewehrlauf in die Höhe. Nein! Wo war die Katze? Aber nein! Es war nichts als Einbildung! Nicht einmal die Katze.

Die Deutschen würden selbstverständlich die Werkzeuge, die er in der Tasche mit sich trug, vermissen und danach suchen. Das war ja klar. Dann würden sie natürlich auf den Gedanken kommen, daß er sie hatte und ihn verfolgen. Er brauchte also bloß ganz still in seinem Versteck zu bleiben, so würden sie schon ankommen. Oder war diese Folgerung nicht richtig? Würden sie vielleicht noch weitere lose Teile der Maschine entfernen und verstecken, und dann auf der Lauer liegen, bis er käme? Nein, das würden sie jedenfalls nicht tun. Sie waren ja doch zwei gegen einen. Sie würden gar nicht auf den Gedanken kommen, daß er auf der Flugmaschine Reißaus nehmen könnte, würden überhaupt nicht annehmen, daß er sich derselben nähern würde, und würden sie folglich auch nicht beschädigen oder demolieren. Das entschied er – war wenigstens klar. Aber wenn sie nun bei den Nahrungsmitteln auf der Lauer lagen? Aber das wiederum würden sie nicht tun, weil sie wußten, er hatte einen Haufen Corned beef mitgenommen. In der Büchse war so viel, daß es ihm, wenn er mäßig aß, mehrere Tage lang reichen konnte. Freilich, sie konnten, anstatt ihn anzugreifen, versuchen, ihn auszuhungern. –

Mit einem Ruck richtete er sich auf. Auf einmal war ihm die tatsächliche Schwäche seiner Position klar: er konnte einschlafen!

Keine zehn Minuten stand er unter der Suggestion dieser Idee, als er auch schon merkte, daß er einschlief!

Er rieb sich die Augen und faßte sein Gewehr. Bis jetzt hatte er gar nicht gefühlt, wie intensiv einschläfernd die amerikanische Sonne, die amerikanische Luft, das betäubende, in Schlummer wiegende Tosen des Niagara war. Bisher hatte all das im ganzen eher aufreizend auf ihn gewirkt …

Wenn er nicht so viel und so hastig gegessen hätte, würde er sich jetzt nicht so schwer fühlen. Ob Vegetarier immer wach und lebendig waren? …

Wieder rüttelte er sich mit einem Ruck auf.

Er mußte irgend etwas tun, sonst schlief er ein. Und wenn er einschlief, so war zehn gegen eins zu wetten, daß sie ihn finden und ein Ende machen würden. Wenn er regungslos und lautlos da sitzen blieb, würde er rettungslos einschlafen. Immer noch besser, selbst einen Angriff zu wagen! Dieses Schlafbedürfnis würde ihn schließlich ausliefern! Bei den beiden lag die Sache ganz anders; einer konnte schlafen, während der andere wachte. Das würden sie ja auch, wenn er sich's recht überlegte, immer tun: der eine würde ausführen, was sie gerade wollten, und der andere würde irgendwo daneben im Hinterhalt liegen – schußbereit. Sie konnten ihn auf diese Weise sogar in eine Falle locken, indem der eine als Köder diente.

Das brachte seine Gedanken in eine andere Richtung. Wie dumm von ihm, daß er seine Mütze weggeworfen hatte! Sie wäre ja unschätzbar gewesen – auf einem Stock! Ganz besonders nachts.

Dann empfand er den dringenden Wunsch nach etwas Trinkbarem. Er befriedigte ihn eine Weile, indem er einen Kieselstein in den Mund nahm. Darauf kehrte das Schlafbedürfnis wieder. Immer klarer wurde es ihm, daß er den Angriff wagen mußte. Wie so mancher große General vor ihm empfand er seine Bagage, das heißt seine Büchse Corned beef, als ernstliches Hindernis der Bewegungsfreiheit. Er entschloß sich, das Beef lose in die Tasche zu stecken und die Büchse wegzuwerfen. Es war ja vielleicht nicht gerade ein ideales Verfahren, aber wenn man im Feld ist, muß man sich zu helfen wissen. Ungefähr zehn Schritte weit kroch er; dann lähmten ihn plötzlich die Möglichkeiten der Situation vollständig.

Es war ein stiller Nachmittag. Das Tosen der Wasser hob diese unendliche Stille nur noch schärfer hervor. Er war nach bestem Ermessen auf den Tod zweier Menschen bedacht, die über ihm standen … Und auch sie waren nach Kräften auf seinen Tod bedacht … Was mochten sie treiben … hinter all dieser Stille?

Wenn er nun ganz plötzlich vor ihnen stand und feuerte – und fehlte?

 

X

Er kroch weiter, hielt inne, lauschte und kroch wieder weiter, bis die Nacht sank. Und der deutsche Alexander und sein Leutnant taten zweifellos dasselbe. Eine Karte von der Ziegeninsel, in großem Maßstab und mit roten und blauen Linien bezeichnet, die die strategischen Bewegungen markierten, hätte zweifellos eine Menge Kreuzungen aufgewiesen; aber in Wirklichkeit erblickte diesen ganzen, jahrhundertelangen Tag voll ermüdender Wachsamkeit keine Partei die andere. Bert wußte nie, wie nah er ihnen kam oder wie fern von ihnen er war. Schläfrig war er nicht mehr, als die Nacht kam, aber durstig. Er befand sich in der Nähe des amerikanischen Falls. Der Gedanke war in ihm aufgetaucht, daß seine Feinde sich im Wrack der »Hohenzollern« befinden könnten, das gegen die Grüne Insel geklemmt lag. Er wurde unternehmend, gab jeglichen Versuch auf, sich noch länger zu verstecken und ging über die kleine Brücke zur Stromteilung hinüber. Er fand aber niemand. Es war sein erster Besuch bei den riesenhaften Luftschifftrümmern, und er betrachtete und untersuchte sie voller Neugier im schwachen Licht der Dämmerung. Er entdeckte, daß die vorderste Kabine beinah intakt war; nur die Tür hing nach unten und eine Ecke stand unter Wasser. Er kroch hinein, trank und verfiel dann plötzlich auf die wundervolle Idee, die Tür zuzumachen und darauf zu schlafen.

Aber jetzt konnte er überhaupt gar nicht mehr schlafen. Gegen Morgen nickte er ein bißchen ein, und als er erwachte, war es heller Tag. Er frühstückte – Corned beef und Wasser – und blieb eine Weile im Vollgefühl seiner sicheren Position sitzen. Schließlich wurde er wieder unternehmend und kühn. Er beschloß, der Sache sofort, auf irgendeine Weise, ein Ende zu machen. Er hatte diese ewige Kriecherei satt. Also machte er sich im Morgensonnenschein auf den Weg, das Gewehr in der Hand, unbekümmert, ob man seinen Schritt hörte oder nicht. Er wanderte rund um die Erfrischungshalle, ohne jemand zu entdecken, und hierauf weiter, durch die Bäume, zur Flugmaschine. Plötzlich stieß er auf den Vogelgesichtigen, der, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, über seine gekreuzten Arme geneigt, auf der Erde saß und schlief. Sein Verband war ihm tief über das eine Auge gerutscht.

Bert blieb mit einem Ruck stehen und betrachtete ihn aus einer Entfernung von ungefähr fünfzehn Schritt, das Gewehr schußbereit erhoben. Wo war der Prinz? Jetzt sah er neben dem dahinterstehenden Baum eine Schulter hervorblicken. Entschlossen machte er fünf Schritte nach links. Der große Mann wurde sichtbar, gegen den Stamm gelehnt, in einer Hand die Pistole, in der andern den Degen – und gähnend – fürchterlich gähnend! Einen Mann, der gähnt, kann man nicht über den Haufen schießen, fand Bert. Er näherte sich, das Gewehr im Anschlag, seinem Feind; eine törichte Vorstellung von »Hände hoch!« spukte in seinem Gehirn. Der Prinz bemerkte ihn; der gähnende Mund schnappte zu wie ein Schloß; er richtete sich steif auf. Bert blieb schweigend stehen. Einen Augenblick lang betrachteten die beiden einander.

Wäre der Prinz klug gewesen, so wäre er vermutlich hinter den Baum geschlüpft. Statt dessen stieß er einen Ruf aus und hob Pistole und Degen. Daraufhin legte Bert wie ein Automat den Finger auf den Drücker …

Es war seine erste Erfahrung mit einem Oxygengeschoß. Eine große Flamme sprühte mitten aus dem Prinzen heraus, ein blendender Schein – dann ein Knall wie von einer Kanone – etwas Heißes, Feuchtes flog Bert ins Gesicht. Dann sah er durch einen Wirbel blendenden Rauchs und Dampfes Gliedmaßen und einen stürzenden, zerschmetterten Körper zur Erde fallen …

Bert war so erstaunt, daß er mit offenem Mund dastand, und der vogelgesichtige Offizier ihn ohne jeden Kampf hätte zusammenhauen können. Statt dessen rannte dieser durch das Unterholz davon, sich ängstlich hinter jeden Baum duckend. Bert raffte sich zu einer kurzen, nutzlosen Verfolgung auf; aber er hatte keinerlei Lust, noch weiter zu morden. Er kehrte zu dem zermalmten, zerfetzten Ding zurück, das noch eben erst der große Prinz Karl Albert gewesen war. Er betrachtete die versengte, auseinandergerissene Vegetation ringsumher. Da und dort erkannte er auch etwas … Auf spitzen Zehen ging er näher und hob den heißen Revolver auf; die Kugeln waren sämtlich geplatzt. Jetzt machte eine freundschaftliche und aufmunternde Gegenwart sich bemerkbar: er war höchlichst betreten, daß ein so junges Geschöpf ein so fürchterliches Schauspiel mit ansehen sollte.

»He, Mieze«, sagte er, »das ist nicht der Ort für dich!« Mit drei langen Schritten durchquerte er den Schauplatz der Verwüstung, packte das Kätzchen geschickt und ging dann mit dem laut schnurrenden Tierchen auf der Achsel zur Erfrischungshalle zurück.

» Dir macht das augenscheinlich nicht viel aus!« sagte er. Eine Weile stöberte er umher; schließlich entdeckte er auch den Rest der Vorräte unter dem Dach. »Kommt einem doch bitter vor«, sagte er, während er einen Teller mit Milch füllte, »daß drei Menschen, die so miteinander in die Klemme geraten sind, nicht zusammenhalten können! Aber er und seine Prinzerei – es ging einfach zu weit!«

»Herrgott!« dachte er weiter, während er auf dem Schanktisch saß und aß. »Eine sonderbare Sache, dies Leben! Da sitz' ich nun. Hab' sein Bild gesehen, hab' seinen Namen gehört, seit ich noch ein kleiner Junge in Röckchen war. Der Prinz Karl Albert! Und wenn mir einer gesagt hätt', ich würd' ihn dereinst in Fetzen schießen – na ja! Geglaubt hätt' ich's nicht, Pussy! Der Kerl damals in Margate hätt' es mir auch sagen können! Dabei hat er mir nichts gesagt, als daß ich schwach auf der Brust sei!

Und der andere Kerl – der wird's auch nicht lange treiben! Was in aller Welt soll ich mit ihm anfangen?«

Er betrachtete die Bäume ringsum mit einem scharfen, blauen Auge und faßte nach dem Gewehr auf seinen Knien. »Die Umbringerei gefällt mir nicht, Puß«, sagte er. »Es ist gerade, wie Kurz sagte – vom Sich-ans-Blutvergießen-Gewöhnen! Mir scheint, du wirst recht jung daran gewöhnt … Wenn der Prinz zu mir hergekommen war' und gesagt hätte: Geben Sie mir die Hand! … ich hätt' ihm meine Hand gegeben! … Da ist nun der andere Bursche … versteckt sich irgendwo … Ein Loch hat er schon im Kopf, und mit seinem Bein sieht's auch übel aus. Und Brandnarben … Donnerwetter! Und noch keine drei Wochen ist's her, daß ich ihn zum erstenmal gesehen hab' … fein und tipp-topp … die Hände voller Haarbürsten … und voller Verwünschungen gegen mich! Von Kopf bis Fuß ein Gentleman! Und jetzt ist er schon ein halber Wilder. Was fang' ich mit ihm an? Die Flugmaschine kann ich ihm nicht lassen … das wär' doch ein bißchen zu viel … Und wenn ich ihn nicht umbringe, verhungert er einfach da auf der Insel … Naja … einen Degen hat er ja … freilich …«

Nachdem er sich eine Zigarette angesteckt hatte, vertiefte er sich wieder in sein Philosophieren.

»Ein Blödsinn ist der Krieg, Puß. Ein Blödsinn! Wir gewöhnlichen Menschen – wir waren einfach Narren. Dachten, die Großen wüßten, was sie täten. Aber sie wußten's nicht. Schau dir diesen Menschen an! Ganz Deutschland hatte er hinter sich … und was hat er daraus gemacht? Vernichtung und Zerstörung und Sinnlosigkeit … Und fertig! Und das Ende ein Wirrwarr von Blut und Stiefeln und Durcheinander … Ein Haufen von Scheußlichkeiten … weiter nichts! Der Prinz Karl Albert! Und all seine Leute und all seine Schiffe, die Luftschiffe, die Drachenflieger … alle dahin … wie ein Haufen Papierdrachen … zwischen diesem Loch hier und Deutschland! Und der Kampf, und das Brennen und Sengen und Vernichten, das er angefangen hat, geht weiter … ein Krieg ohne Ende … über die ganze Welt!

Werd' ihn ja wohl erschießen müssen, den anderen! Wird ja wohl sein müssen. Aber meine Liebhaberei ist das nicht, Pussy!«

Eine Weile suchte er unter dem Tosen des Wasserfalls die Insel ab nach dem verwundeten Offizier und jagte ihn auch schließlich aus einem Gebüsch in der Nähe der Biddle-Stairs-Höhe auf. Aber als er die hinkende, geduckte Gestalt vor sich erblickte, wurde die Weichmütigkeit in ihm zu groß; er vermochte ihn weder zu verfolgen noch zu erschießen. »Ich kann nicht!« sagte er. »Das ist nun einmal so. Ich hab' nicht das Zeug dazu! Ich muß ihn laufen lassen!« Und er wandte sich in die Richtung zur Flugmaschine.

Er sah den vogelgesichtigen Offizier niemals wieder; auch keinerlei Spuren seiner Gegenwart. Gegen Abend packte ihn eine Angst vor einem Überfall aus dem Hinterhalt; er suchte und forschte eine Stunde lang mit allem Eifer; umsonst. Dann schlief er an einem guten, zur Verteidigung prächtig geeigneten Punkt auf dem Ausläufer der Felsspitze ein, die in den kanadischen Fall hineinragte. Mitten in der Nacht wachte er vor panischem Schrecken auf und feuerte. Aber es war nichts. Schlafen konnte er nicht mehr von da ab. Morgens packte ihn eine seltsame Besorgnis um den Verschwundenen; er suchte nach ihm, wie nach einem verlorenen, irrenden Bruder. »Wenn ich bloß ein bißchen Deutsch könnte!« sagte er. »Dann würd' ich gröhlen! Alles kommt bloß davon, daß ich kein Deutsch kann. Da läßt sich nichts erklären …«

Später entdeckte er Spuren eines Versuchs, die Lücke der zerstörten Brücke zu überspannen. Ein Seil mit einem Ring daran war über das Wasser geschleudert worden und hatte sich an der Architektur des vorspringenden Gitterwerks gefangen. Das Ende des Seils schleppte in dem brodelnden Wasser über dem Fall …

Aber der vogelgesichtige Offizier lag schon Schulter an Schulter mit einer gewissen leblosen Masse, die dereinst der Leutnant Kurz, ein chinesischer Aeronaut, eine tote Kuh und allerhand sonstige unerfreuliche Gesellschaft gewesen war … drunten im Riesenwirbel eines zwei und ein viertel Meilen entfernten Strudels. Nie zuvor war dieser große Sammelplatz, dieses unaufhörliche, ziellose, immer wieder zum Ring sich schließende Hasten von Vergeudung und Vernichtung so überfüllt gewesen von seltsamem und traurigem Strandgut … Rundum und immer rundum wirbelte es; und jeder Tag brachte neue Beute, verunglückte Tiere, Trümmer von Schiffen und Flugmaschinen, Haufen von Menschen aus den Städten an den Ufern der großen Seen … Vieles kam von Cleveland … Und alles sammelte sich hier und wirbelte in unaufhörlichem Strudel umher; und über allem sammelte sich ein täglich zunehmender Schwarm von Vögeln.

 


 << zurück weiter >>