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Sechstes Buch.
Venus der Abendstern

1

Dieses sechste Buch ist den Frauen gewidmet. Es soll von Liebe und Kameradschaft, von Mißtrauen und Feindseligkeit zwischen Mann und Frau erzählen. Das fünfte Buch ist noch nicht beendigt, doch will ich es eine Weile ruhen lassen, bis ich das sechste Buch ausgearbeitet habe. Eine Anzahl gewichtiger Fragen sind in dem fünften Buch aufgeworfen, aber nicht erörtert worden; ich muß später noch einmal auf sie zurückkommen. Ich bin, Gott weiß warum, ungeduldig, die Hauptumrisse meines ganzen Werkes vollendet vor mir zu haben, ehe ich mich der Behandlung jener Fragen wieder zuwende. Immerhin gibt das fünfte Buch, soweit es gediehen ist, die Vision einer geeinigten Weltzivilisation wieder; die große Revolution ist darin festgehalten.

Doch alle Pläne solcher Art bleiben abstrakt und unfruchtbar, solange sie die Frauen außer acht lassen. Der Mann kommt von der Frau und kehrt zur Frau zurück, um Bestätigung und Verwirklichung seines Selbst zu finden. Wohl kann er neue Welten allein entdecken, doch ohne die Frauen kann er nicht seßhaft werden, kann er nicht zur Ruhe kommen.

Mein Empfinden für den Wert der Frauen, meine Liebe für sie, mein Interesse an ihnen, sind seit meiner Jugend sehr gewachsen. Mein Verhältnis zu ihnen begann mit kindlichen Träumen der Unterwürfigkeit; im Knabenalter wich dieses Gefühl einer Gleichgültigkeit, die von häßlichen heißen Gelüsten unterbrochen wurde. Begierde mit einem Beigeschmack von Feindseligkeit beherrschte meine Jünglingszeit. Ich hatte beträchtliche Angst davor, meine persönliche Freiheit zu verlieren. Unmerklich brach sich der verdrängte Wunsch nach Hilfe, nach einem Gefährten Bahn. Heute finde ich, obwohl ich es nicht recht zugeben will, daß die heitere Klarheit meines Geistes ganz außerordentlich stark von Clementina abhängt. Wenn sie nun verschwände, so würde mein Leben hier zusammenbrechen. Ich kann gar nicht abschätzen, welch eine Tragödie das für mich bedeuten würde.

Ich habe viele Frauen gekannt. Manche von ihnen besaßen männliche Schöpferkraft und die Gabe, sich selbst zu behaupten. Viele wesentliche Züge des heutigen Daseins, die Propaganda für die Idee der Geburtenkontrolle zum Beispiel, sind fast ausschließlich ein Werk der Frauen. Trotzdem weiß ich nicht, ob und wie weit wir, die wir, von einer hohen Lebensauffassung erfüllt, an Stelle des triebhaften Wirrsals der heutigen Zeit wohldurchdachte Ordnung zu setzen uns bemühen, auf den tätigen Beistand der Frauen rechnen dürfen, ob wir nicht etwa offene oder heimliche Feinde an ihnen haben oder zumindest passive Widersacher, die unseren Wünschen instinktiv und unbewußt entgegenarbeiten.

Die revolutionären Kräfte unserer Zeit wirken nur durch vereinzelte Individuen. Ich habe darzulegen versucht, daß diese Kräfte sich nicht voll durchsetzen, nicht zu bewußter und sicherer Vorherrschaft gelangen können, solange sich nicht soziale Lebensformen entwickeln, in denen sie Ausdruck und Bestätigung finden. Es ist sehr merkwürdig, daß tätige und schöpferische Männer fast nie mit tätig schöpferischen Frauen in Verbindung treten oder auch nur mit solchen, die tatkräftige Helferinnen oder zumindest untergeordnete Mitarbeiterinnen wären, und daß andererseits, so viel ich weiß, die weit weniger zahlreichen schöpferisch oder wissenschaftlich begabten Frauen einsam bleiben oder mit unbedeutenden Männern zusammenleben. Das ist nicht etwa eine Anklage gegen das andere Geschlecht – auch keine gegen beide Geschlechter. Es ist nichts weiter als eine Feststellung: angestrengt arbeitende Männer und Frauen sind in dieser Beziehung unvorsichtig, sie lassen sich von ihren Gefühlen überrumpeln und wissen sich gegen Zersplitterung und Vergeudung ihrer Kräfte nicht zu schützen.

Ich habe allen Grund, den Frauen dankbar zu sein, und es beschleicht mich ein Gefühl der Beschämung, indem ich diese Zweifel niederschreibe. Ich kann aber nicht umhin, der Atmosphäre einer stetig wachsenden sexuellen Gegnerschaft, in der wir leben, gewahr zu werden. Eine der vier Frauen, die eine große Rolle in meinem Leben gespielt haben, steht mir treu ergeben zur Seite; eine wäre mir vielleicht eine Mitarbeiterin geworden, wenn ihre Kraft sich nicht so früh erschöpft hätte. Von den beiden anderen aber muß die eine als treulose Vergeuderin meiner armen Gaben gelten und die zweite als eine ehrliche Gegnerin, die schließlich ihre Macht über meine Gefühle erbarmungslos ausnützte. Die Geschichte meiner Ehe, diese kurze, rohe und gemeine Geschichte, ist typisch für die Konflikte unserer Zeit. Sie zeigt das gewöhnliche Mißverständnis an einem häßlichen und plumpen Einzelfall.

Ich bin mit der Geschichte meines Geschlechtslebens unzufrieden und diese Unzufriedenheit schärft mein Verständnis für das allgemeine Unbehagen im sexuellen Leben der heutigen Zeit. Die meisten tätig schaffenden Männer verzetteln ihre sexuellen Interessen, so wie ich das während des größten Teils meines Lebens getan habe; die Frauen fördern sie nicht in dem, was ihnen vor allem wichtig ist, sind ihnen keine Kameraden; die angetraute Gattin, eine elegante Zierpuppe zumeist, steht ihren wesentlichen Bestrebungen fern; sie setzen Söhne in die Welt, die von verknöcherten Pädagogen nach der alten Ordnung erzogen werden; sie begehen armselige Ehebrüche, haben Verhältnisse mit kleinen Tänzerinnen, Choristinnen und dergleichen Mädchen mehr. Das ist aber keineswegs das, was sie wollen – wie sie wohl erkennen würden, wenn sie sich ehrlich fragten, was sie in dieser Hinsicht vom Leben erwarten; es ist nur das, was ihnen zufällig zustößt. Es gibt noch keine Frau, die sie zu achten und zu umsorgen vermöchte, und das Leben bringt ihnen so viel Unerwartetes, ist so übervoll, daß sie kaum imstande sind, sich allein zurechtzufinden.

Ich weiß, daß ich das literarische Dekorum außer acht lasse, indem ich in diesem Buch ein vollkommen normales sexuelles Leben als Notwendigkeit hinstelle; man wird mir ein Übermaß an Sexualität vorwerfen, wenngleich ich in Wirklichkeit nur normal sexuell bin, allerdings aber abnormal freimütig. Unsere literarische Tradition entstammt Schulen und Universitäten, die fast bis zum heutigen Tag die verlogene und innerlich unsaubere Keuschheit der mittelalterlichen Romantik beherbergt haben. Diese Tradition befiehlt, daß wir uns entweder in Schweigen hüllen oder verschämt kichern. Wir müssen vorgeben, wir hätten keine Begierden oder sie seien etwas Komisches und irgendwie von keinerlei Bedeutung oder Wichtigkeit. Ich weigere mich, diesen mönchischen Vorschriften zu folgen. Ich glaube nicht, daß ein normaler Mann ein volles geistiges Leben führen kann, wenn er im Zustande sexueller Isoliertheit verharrt. Ich lehne den Gedanken ab, daß ich im Zölibat leben und mich einzig und allein wissenschaftlicher Arbeit widmen hätte können. Die medizinische Wissenschaft ist in diesen Fragen töricht zurückhaltend und undeutlich, und so muß ich mich an Beobachtungen halten, die infolge meiner besonderen Veranlagung einseitig sein mögen. Mein Eindruck ist, daß Abstinenz eine so ungeheure Menge innerer Konflikte verursacht, eine so dauernde, angestrengte Selbstbeherrschung und überdies allerlei ausgleichende Notbehelfe erfordert, so viele Launen und Demütigungen mit sich bringt, daß die Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit und die Kraftvergeudung weit schwerer wiegen als die Störungen in einem normalen Leben.

Ich bin überzeugt, daß das Gesagte für die Durchschnittsfrau ebenso gilt wie für den Durchschnittsmann. Es mag wohl Ausnahmemenschen geben, die in einer mir unvorstellbaren Weise von Sexuellem frei sind und ihre ganze Kraft schöpferischer Arbeit zuwenden können. Ich selbst kenne deren keinen, aber sie mögen vereinzelt vorkommen. Es wird behauptet, daß verschiedene religiöse Mystiker von großer Organisationskraft sich zu ungetrübter Abstinenz durchgerungen hätten, zum Beispiel die heilige Therese, der heilige Dominikus und Ignatius von Loyola. Solch eine Befreiung vom Geschlechtstriebe bei ungeschmälerter Tatkraft ist gegen alle biologischen Voraussetzungen; der Ton, den durch das Zölibat gebundene Priester und die fromme Literatur anschlagen, scheint mir weniger auf ein Freisein vom Triebe hinzudeuten als auf eine verzehrende negative Besessenheit. Für die meisten von uns ist sexuelles Leben eine Notwendigkeit, und zwar nicht nur als eine Befriedigung der Begierde, von der wir uns anders nicht zu befreien imstande sind, sondern auch als eine Quelle der Tatkraft, des Selbstvertrauens und des schöpferischen Vermögens. Es ist ein wesentlicher Teil, vielleicht sogar die Grundlage unserer Existenz. Für mich und Menschen meiner Art ist das verrufene Haus ebenso nutzlos wie das Kloster. Ich bedarf der Achtung, der Freundschaft, des Mitgefühls und der Hilfsbereitschaft einer Frau ganz ebenso sehr wie der geschlechtlichen Beziehung zu ihr. Und wenn man dieses Thema mit einer voll entwickelten klugen Frau erörtert, so wird sie, davon bin ich überzeugt, von sich dasselbe sagen, wie ich von mir. Gefährten gab es lange, ehe Gatte und Gattin oder Mätresse in der Geschichte aufgetaucht sind, und es ist möglich, daß die ursprüngliche Beziehung die beiden anderen, jüngeren überdauern wird.

Die meisten Männer und Frauen, die in dem modernen Weltstaate, dem wir entgegenschreiten, eine führende Rolle spielen werden, müssen sich glücklich paaren und glücklich gepaart leben, wenn sie ihre Arbeit tun sollen, und alle sozialen Einrichtungen und Moralcodes, die heute bestehen, werden sich dieser Grundbedingung anpassen müssen. Indem jene Menschen ihre besonderen Ziele und Aufgaben erkennen und ein ihnen gemäßes sexuelles Leben entwickeln, werden sie zu einer neuen Auffassung der notwendigen Einschränkungen und Gebote gelangen und einen neuen Code ausbilden. Heute leben wir in sexueller Hinsicht in einer Welt vermischter und halb hinfälliger Sittengesetze und unregelmäßiger und sonderbarer Experimente. Die meisten Menschen tun das, was ihrer Meinung nach von Freunden und Nachbarn gut geheißen werden wird – oder geben sich zumindest den Anschein, es zu tun. Nur wenige haben den Mut, ihren Mangel an innerer Überzeugung einzugestehen. Der größere Teil der jüngeren Generation gebildeter oder halb gebildeter Leute in Europa und Amerika scheint mir überhaupt keine geschlechtliche Moral mehr zu haben, sondern nur zynische Gepflogenheiten – was die unvermeidliche Folge einer Atmosphäre von offenkundiger Lüge und Unaufrichtigkeit ist.

Ich glaube, es ist der Mühe wert, hier wieder geschichtlich zu werden und eine Übersicht über die Entwicklung der Gebote, Verbote, Gebräuche, Traditionen und Konventionen zu geben, die den heutigen Wirrwarr zustande gebracht haben. Indem man überlegt, auf welche Weise man in eine Lage geraten ist, findet man zuweilen eine Möglichkeit, ihr wieder zu entrinnen. Laßt uns einmal sehen, inwieweit diese Verwirrung analysiert werden kann, und festzustellen versuchen, ob es vernünftig oder sinnlos ist, wenn wir eine freie Gesellschaft wohlgepaarter und miteinander arbeitender Frauen und Männer fordern.

Es mag sein, daß wir Unmögliches verlangen; daß ein unlöslicher Konflikt von Interessen und Instinkten zwischen Mann und Frau besteht und daß die Menschheit bis zum Ende aller Tage so weiter leben muß, wie ich gelebt habe, wie die meisten Menschen, die ich kenne, leben: bald gemartert, bald entzückt, bald zerrüttet, bald zugrunde gerichtet von den unbezähmbaren geschlechtlichen Trieben. Wenn dem so ist, wird schöpferische Arbeit niemals unser ganzes Leben erfüllen; wir werden ihr nur so viel Kraft widmen können, als uns das verzehrende Erbe an Begierden und Sinnenlust übrig läßt, jenes Erbe aus dem Kampfe, durch den wir geworden sind.


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