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Wenn je die Geschichte der großen Revolution in den menschlichen Angelegenheiten niedergeschrieben werden sollte, dann muß zum mindesten ein Bild des prophetischen amerikanischen Juden, David Lubin, darin sein. Er war ein Vorläufer, eine Gestalt etwa wie Roger Bacon in seiner bisher noch nicht anerkannten Voraussicht. Wir aßen zweimal miteinander zu Mittag und wechselten mehrere Briefe. Sein letzter Brief an mich datiert vom Oktober neunzehnhundertachtzehn.

Ich traf Lubin zufällig im Schiffszug von Dover nach London, drei oder vier Jahre vor dem Krieg. Er war darauf erpicht, mit jemandem zu sprechen, und ich war der einzige Mitreisende in seinem Abteil. Er war empört über irgendeinen Zwischenfall bei der Zollrevision. Ich glaube, sie hatten einige französische Bücher, die er mit sich führte, überprüft. Sie hatten, wie er dachte, den Argwohn gehabt, daß er – gerade er, David! König David Lubin! – unpassende Bücher einschmuggeln wollte.

Ich war bereit, mit ihm zu sympathisieren. Ich hasse Zollhäuser ebenso wie ich Könige hasse als in die Augen springende Beispiele für die närrischen Grenzen, die die Menschheit in kleine Stückchen aufteilen. Durch meine Sympathie ermuntert, eröffnete er sich mir. Dies sei ganz seine Ansicht, stimmte er mir zu, und insofern er in Betracht käme, hätte er schon ungeheure Dinge getan, um diese Trennungen abzuschaffen. Er hatte eine flammende, überwältigende Art zu reden und einen übertriebenen Stil im Vortrag; er war offenkundig maßlos eitel und damals, als ich ihm zuhörte, schenkte ich seinen Reden nur schwachen Glauben. Er war damals schon ein ältlicher Mann; er hatte das brennende Auge, die Bewegungen und die Betonung eines alten Propheten; ich konnte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem großen Mr. Gladstone, dem zweiten Mr. G. meiner Kindheit, wahrnehmen. Was er zu sagen hatte, war mit den merkwürdigsten Theorien über Israel und die Welt vermischt; er war ein Jude mit heftigem Rassenbewußtsein, bibelfest, hebräisch sprechend, in Polen geboren, erzogen in dem heftigen, sentimentalen, demokratischen Unternehmergeist Westamerikas. Er erzählte mir, daß er zwölfjährig bei irgend einem kleinen Juwelenhändler in Massachusetts begonnen habe, zuerst als Polierer von Krawattennadeln – er wurde entlassen, weil er das Gold wegpolierte – und dann hatte er blaue Brillen gemacht. Mit sechzehn Jahren war er westwärts gezogen, war in Öllampen gereist, interessierte sich für Gold, handelte mit Trödelkram und eröffnete den ersten Einheitspreis-Laden in Sacramento-City. Einheitspreis bedeutete in diesem Fall festgesetzte Preise; es war nicht ein Einheitspreisladen wie Wollworth's in London. Dieser ›one-price‹-Laden wurde zur Grundlage seines ungeheuren Vermögens; »David Lubin,« sagte er wie in einem Schrei, » one-price« und tapste dabei mit der Hand auf mein Knie. Er hatte unter dem Verkaufstisch seines Ladens geschlafen, in einer Koje, die er sich selbst gebaut hatte. Er hat Hunger und Durst kennengelernt. Nach zehn Jahren hat er das größte Warenhaus und Zweigstellen an der Küste des stillen Ozeans. Jedoch war er auch einige Tage in der Wüste herumgewandert und das Gefühl für Gott, den Gott der Wüste und Israels, hatte ihn überwältigt. Er aß kein Schweinefleisch wie so manche erfolgreiche Juden, wenn sie zu Reichtum gelangen.

»Nichts für mich, das Monokel, nichts für mich, das Mädchen mit den blonden Haaren!« Er nahm seine alte Mutter, die ihn hebräische Lieder singen gelehrt und ihm Maimonides zu lesen gegeben hatte, auf eine Pilgerfahrt nach Palästina mit. So schenkte er nun sein ganzes Leben, abgesehen von der Mühe, die ihm das Warenhaus kostete, dem Gotte Israels und dem Dienst der Menschheit. Nach dem Erfolg seines Ladens war er vorübergehend Bauer geworden, um die Einfachheit seiner Seele wieder herzustellen, dann kamen große wirtschaftliche Entdeckungen und dann seine Mission. Während unseres ganzen Gespräches fiel es ihm nie ein, daß auch ich irgend einen Kampf mit der Welt durchzufechten haben oder mich der Menschheit irgendwie verpflichtet fühlen könnte. Er sprach zu mir, als wäre ich der eingefleischte Typus von einem Engländer, als wäre ich so, wie man ihn seit Jahrhunderten kennt, als ob niemand in Europa Geschäftsaufschwung und Niedergang kennte, so daß das amerikanische Wunder eines Mannes, der klein beginnt, um schließlich zu bedeutendem Reichtum zu gelangen, mich in ungeheure Verblüffung und Erstaunen versetzen müßte. Ich war keineswegs verblüfft. Aber es interessierte mich damals ganz besonders, ihn von seiner Mission reden zu hören.

Mein erster Eindruck war, daß diese Mission ihm hauptsächlich dazu diente, eine sonderbare Besuchstournee bei den regierenden Häuptern Europas zu machen. Er erzählte mir, daß er eben in Konstantinopel mit dem Großvezier gesprochen hatte, daß er mit der Königin von Rumänien in Korrespondenz stehe; daß er auf seinem Rückweg bei dem König von Italien vorgesprochen habe; daß er mit Stolypin, dem damaligen Kanzler des Zaren, in Verbindung gestanden sei und den russischen Finanzminister in seinem Haus in Finnland aufgesucht habe. Er fügte hinzu, daß er für seine eigenen Zwecke mit mehr als vierzig Regierungen – die genaue Zahl habe ich vergessen – Verträge abgeschlossen habe, was ich damals für phantastische Übertreibung oder schlechtweg für eine dicke Lüge hielt.

Jedoch es war keine Lüge. Es war buchstäblich wahr. Dieser Einheitspreis-Kaufmann mit seinen närrischen Manieren und seinem prahlerischen Gehaben hatte eine wirkliche Mission und er schuf ein Werk von ungeheurer Bedeutung. Er war, wenngleich nur in einer Hinsicht, ein sehr großer Mann. Er hatte seine Erfahrungen als ein Überseekaufmann und als bankrotter kalifornischer Obstverschiffer so weit verbessert und so weit ausgedehnt, daß er schließlich dahin gelangte, in das wirtschaftliche Leben der ganzen Menschheit einzugreifen. Die ihm innewohnende Eitelkeit verblendete ihn doch nicht so weit, daß er die wirklichen Bedürfnisse der Weltwirtschaft übersah. Sein innerliches Leben war kindlich phantastisch; er schien die Tatsache bedeutsam zu finden, daß er denselben Namen trug wie König David und nicht Pinkus hieß wie sein Großvater, und zwar aus dem Grunde, weil er, vier Tage alt, sich an einer Kerzenflamme verbrannt hatte und ein alter Rabbi, um seine Mutter zu trösten, dem Kind eine große Zukunft prophezeit hatte; er identifizierte sich mit dem mystisch unsterblichen Israel, das alle Nationen verband. Jesaias war sein Lieblingsprophet. Durch Israels Leidensweg sollte die ganze Menschheit gerettet werden. Äußerlich jedoch wendete er sich ganz praktisch als Farmer, Handels- und Finanzmann dem Abendlande zu und sein Blick für diese Dinge war klar und lebhaft.

Das internationale Institut für Agrikultur, das er im Jahre neunzehnhundertfünf durch seine Beharrlichkeit, seine Begeisterung und seinen Mut ins Leben gerufen hatte und das nun in einem von ihm gebauten Hause auf dem Baugrund der Villa Borghese stand, verkörperte die Vision eines weltumspannenden Wirtschaftslebens, das gerecht, produktiv und glücklich vor sich gehen kann. Alles, was er dafür und für sich selbst verlangte, fand ich ganz berechtigt. Er war nach Rom gegangen, hatte sich in San Rossire in das Königliche Jagdhaus gestürzt und hatte dem jungen König von Italien prophezeit, ganz ähnlich wie einst irgend ein Prophet der Wüste in Ziegenfellen dem König Israel oder Juda; der König baute ihm darauf sein Institut, gewährte ihm jegliche Erleichterung und eröffnete ihm damit die Tore Washingtons und eines jeglichen europäischen Landes. Er tauchte wie aus dem Nichts auf, prophezeite und organisierte nicht einmal selbst, sondern rief bloß Organisation ins Leben. Er spielte Amerika gegen Europa aus und Europa gegen Amerika, während er dieses Institut zuwege brachte. Er plante die Sache nach amerikanischer Art als ein Wirtschaftsparlament mit einem Ober- und einem Unterhaus (was für ein Fluch sind doch die amerikanische und die britische Konstitution für die menschliche Phantasie!) und ich vermute stark, seine letzten Jahre waren ihm getrübt worden, weil niemand anerkannte, daß er als erster den Völkerbund begründet hätte. Aber das, was er geplant hat, so wie er es mir damals darlegte, war etwas weit Moderneres, Praktischeres und Weitsichtigeres als irgendein Völkerbund. Es sollte nicht organisiertes Reden sein, sondern gesammeltes Wissen.

Das internationale Institut der Agrikultur sollte vor allem eine Zensur der Weltproduktion sein. Mehr als zweiundfünfzig Regierungen unterhielten es durch Subsidien, jeder unterschrieb den gleichen Vertrag und es wurde durch ein permanentes Komitee von den Repräsentanten der betreffenden Nationen verwaltet. Es führte eine Statistik der Ernten und schuf einen Überblick über die ganze Bodenkultur der Erde, beides auf Grundlage telegraphischer Nachrichten von den Getreidebörsen der beteiligten Länder. Woche um Woche, Monat um Monat wurde die Produktion verzeichnet, so daß die geschätzten Vorräte schon im vorhinein für die wahrscheinlichen Anforderungen verteilt und umgeleitet werden konnten. Das Institut entwickelte nebstbei noch Departements, die sich mit der Verhütung von Pflanzenkrankheiten beschäftigten, ferner mit Meteorologie und Bodenbaugesetzgebung. Das alles bestand.

Aber Lubin war sich wohl bewußt, daß er es bei dem noch nicht bewenden lassen konnte, und entschlossen, die Sache weiter auszubreiten. Wenn einmal diese glatte Form für wirtschaftliches Verständnis geschaffen war, so würde sich ganz deutlich die Notwendigkeit ergeben, die Transportbedingungen der Welt zu revidieren. An diesem Plan arbeitete er schon, als ich ihn kennen lernte, und bis zur Zeit seines Todes. Der bestehende Zustand der internationalen Transportmöglichkeiten war, wie er erkannte, Zufälligkeiten ausgesetzt und viel zu planlos. Wenn man die Kontrolle darüber zentralisierte, ein allübersehendes Auge schüfe, ein reguliertes System, so könnte man den Weltverkehr ebenso klar und bestimmt ordnen wie irgendein Exportgeschäft. Und übrigens, meinte er, die Agrikultur bedeute noch nicht den ganzen Inhalt der Wirtschaftsinteressen; sobald die Methoden des Instituts einmal festgelegt waren, konnte man sie mit geeigneten Veränderungen auch auf andere Haupt-Stapelwaren des menschlichen Verbrauchs anwenden, wie auf Kohle, Öl, Stahl und andere Metalle. So griff dieser Export-Prophet aus Sacramento immer weiter um sich, bis er schließlich Romer, Steinhart, Crest und Co. die Hände reichen konnte. Anstatt des dunklen, verwirrten, sprunghaften, abenteuerlichen Geschäftswesens könnten wir, wie er behauptete, auf den Grundlagen seines Instituts ein klares, ordentliches, reibungsloses System aufbauen. Ich teilte ihm mit, daß Romer, Steinhart, Crest und Co. gewiß bereit sein würden, sein Institut zu unterstützen, wenn je Könige oder Veziere versagen sollten.

Der Sturm des großen Krieges verschüttete Lubins Internationalismus. Es gab ein schmählich kleines, sentimentales Dinner im August neunzehnhundertvierzehn, als die französischen, deutschen, österreichischen und belgischen Mitglieder seines Stabes miteinander auf den Weltfrieden der Zukunft tranken, über ihre nächstliegenden Pflichten sprachen und sich in einem Zustand feierlicher Betretenheit in ihre kriegerischen Länder zurückzogen. Es war der Anfang vom Ende dieses Kapitels in der Geschichte des Internationalismus. Bald war auch Italien mit in den Krieg hineingezogen, und was von dem Institut übrig geblieben war – Frauen, Krüppel und Untaugliche waren nun seine Beamten –, beschäftigte sich damit, die Verbündeten mit Nahrungsmitteln zu versorgen.

Seit dem Krieg habe ich wenig davon gehört. Es steht nun wohl in der Dunkelheit, in dem Schatten des zurückgestellten Königs. Lubin starb Ende des Jahres neunzehnhundertachtzehn während der Grippeepidemie. Der Krieg war noch zu nahe, als daß er ihn unbeeinflußt hätte beurteilen können; er war ganz und gar für die Entente gewesen, und als er starb, war der Gott Israels in all seinen Reden und Taten noch recht empört über Deutschland. Ich glaube, Lubin hatte eine Zeit lang versagt und seinen Einfluß verloren. Der Krieg stellte ihm eine Menge verwirrender Rätsel und seinem undisziplinierten Geist war es nicht immer leicht herauszufinden, auf welche Weise Jesaias sie gelöst wünschte. Seine letzten Bemühungen gingen dahin, sein Institut dem Schutze des geplanten Völkerbundes anzuvertrauen. Sein letzter Brief an mich war in diesem Sinne geschrieben.

Er wurde Anfang Januar neunzehnhundertneunzehn in Rom beerdigt und sein Leichenzug fuhr unbeachtet durch die Straßen, die in Flaggenpracht auf den Besuch des Präsidenten Wilson warteten.

Wilson wußte nichts von ihm, nichts von seinem Institut noch irgend etwas von seinen Anregungen.


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