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So entsinne ich mich meines Jünglingsalters als einer Zeit verborgener Kämpfe und anhaltender Beängstigung, gemildert durch Spötterei und Gelächter. Sorglose Jugend fürwahr! Im Innern die immer wiederkehrenden, lauernden und erschreckenden Angriffe der Geschlechtlichkeit auf meine Freiheit und mein Schaffen; draußen die gefährliche Welt, die Feindseligkeit der Tradition des ›alten Mannes‹ gegen die Jugend, die sozialen Hindernisse und die beiden Mächte Führung und Zucht, die es ganz deutlich darauf abgesehen hatten, den größten Teil unserer Generation zu Ergebenheit, Selbstverleugnung, Demütigung und schwerer Arbeit zu zwingen.

Ich hatte ein klares Bild vor mir, das ich als die Verwirklichung meines wahren Ichs zu erkennen glaubte. Ich wünschte mich mit der experimentellen Molekularwissenschaft gründlich vertraut zu machen, wollte diesem Studium meine ganze Kraft widmen; ich wußte, daß ich mich in diesem Streben gegen eine Unzahl hemmender Einflüsse würde wehren müssen. Die wissenschaftliche Forschung wurde in jenen Tagen noch weniger gefördert als heute. Ich hätte mich jedoch zu einer gesicherten Stellung durchgerungen, wenn ich unablässig und konzentriert gearbeitet hätte. Aber das konnte ich nicht. Die Sexualität packte mich unversehens und riß mich aus der Laufbahn, die ich erwählt hatte. Ich wurde von sinnlicher Leidenschaft erfaßt und heiratete – heiratete um eines Kusses willen und schuf mir damit unselige Verwirrung.

Ich weiß nicht, ob ich mich heute von den Folgen jener großen Verwirrung schon ganz befreit habe. Sie trieb mich von dem schmalen Pfade der Wissenschaft ab, den ich hatte einschlagen wollen, und führte mich auf die Wege, denen ich gefolgt bin. Ich rang mich zu der ganz anderen Art von Freiheit durch, die ich jetzt genieße. Vielleicht ist es eine großzügigere Freiheit, aber sie ist nicht so hoch und sie ist nicht so heiter und klar wie die der Wissenschaft. Alle Probleme und alle Sorgen des Lebens sind mit hineinverwoben.

Es ist mir unangenehm, die Geschichte meiner Ehe erzählen zu müssen. Ich bemerke, daß ich sie so lange wie möglich hinausgeschoben habe; daß ich infolge dieses inneren Widerstandes zum Beispiel fast alles, was ich über meinen Bruder zu sagen habe, früher erzählte. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum ich den Tatsachen jener fernen Periode meiner Vergangenheit – sie scheint mir ferner als meine Kindheit – nicht ins Auge sehen sollte; doch habe ich den Gedanken daran so lange in mir unterdrückt, daß dies zu tun eine Gewohnheit geworden ist. Es fällt mir schwer, mir die Tatsachen der Reihe nach ins Gedächtnis zu rufen, und über meine damalige Gemütsverfassung muß ich so urteilen, als schilderte ich einen Fremden.

Als Dickon nach Bloomsbury gezogen war, fühlte ich mich eine Zeit lang in Brompton sehr einsam. Allmählich aber füllte sich die Leere, die durch seinen Abgang entstanden war, mit anderen Leuten. Das gesellschaftliche Leben eines South Kensingtoner Studenten war zu jener Zeit fast gar nicht organisiert; es gab keine Students' Union, keine Tennisklubs oder ähnliches. Es gab nicht einmal eine Studentenkantine. Es gab einen kleinen Diskussionsklub, der sich größtenteils aus Studenten der Biologie und Geologie zusammensetzte. Dort empfing ich meine ersten Ideen über Sozialismus. Ich machte die Bekanntschaft eines Jünglings meines Alters, namens Crewe, der gleich mir ziemlich vorgeschrittene Arbeit in der Physik leistete; mit ihm unternahm ich des öfteren Spaziergänge, während welcher wir angeregt zu plaudern pflegten; auch mit einem oder zwei anderen Mitgliedern des Diskussionsklubs befreundete ich mich. Crewe hatte einen Bruder in der Kunstschule und durch diesen lernte ich die etwas romantischere Seite des Lebens von South Kensington kennen.

Die Crewes bewohnten ein großes, baufälliges, halb freistehendes graues Haus in einer Seitengasse der Fulham Road. Obwohl ich hunderte Male bei ihnen war, entsinne ich mich weder des Namens der Gasse noch der Nummer des Hauses. Es gab dort jeden Sonntag Nachmittag- und Abendzusammenkünfte; zwangloses Erscheinen ohne Einladung, kaltes Abendessen, Sandwiches, Salat und Kompott. Der Vater Crewe war ein sehr alter, versonnener Herr mit einem langen dünnen Bart; er stand, die Hände in den Hosentaschen, herum und sah aus, als ob er wünschte, er wäre woanders. Er hatte eine Privatschule geleitet und sich nun zur Ruhe gesetzt. Der regierende Geist war Mrs. Crewe. Sie war weitaus jünger als er, sehr rosig und üppig, hatte feine Handgelenke, sonderbare elegante Bewegungen und einen Konversationsstil, den sie sich aus den Romanen von George Meredith angeeignet hatte. Sie war Schriftstellerin, schrieb reizende kleine Liebesgeschichten und Kindererzählungen für Zeitungen, auch Gedichte und Kritiken. Sie ließ durchblicken, daß sie mit ihrer Schriftstellerei nicht viel Geld verdiene, ihre Kunst sei nichts für die große Menge. Sie liebte die Jugend und hatte Interesse für die Pläne junger Menschen; ihre Freude an vertraulichen Gesprächen war groß. Andauernd bemühte sie sich, einen auszuhorchen; aber da in den Tiefen meines Gemütes nicht viel anderes verborgen war als gewisse Rätselfragen über Quarzfäden und Kristallbildungen sowie eine ungestüme, aber schlecht formulierte Wut gegen die Natur und die soziale Ordnung, so konnte ich nicht in dem Maße, wie ich es gewünscht hätte, auf ihr freundliches Interesse eingehen.

Sie erpreßte mir das Geständnis, daß ich wissenschaftlichen Ehrgeiz besäße; das bedeutete für sie, daß ich so berühmt wie Professor Huxley oder Lord Kelvin werden wolle. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß ich wißbegierig sein könnte, ohne zunächst an Ruhm und Ehren zu denken. Rastlos war sie bemüht, herauszufinden, ob ich nicht jemanden, ein Mädchen natürlich, hätte, das meine ehrgeizigen Pläne ›inspiriere‹. Meiner Meinung nach ist die weibliche Inspiration rein biologisch und nicht molekular. Ich wich ihrer Neugier aus – ich fürchte, manchmal in recht unhöflicher Weise; jetzt erst wird es mir klar, wie tapfer sie die Lust, mich über meine Eltern auszufragen, bekämpft haben muß. Günstig für diese Seelenforschung war, daß der Einfluß Merediths ihnen jede brutale Deutlichkeit nahm.

Sie irritierte mich, sie brachte mich in Verlegenheit, aber ich hatte sie – ich weiß nicht, warum – sehr gern. Auch sie hatte mich gern. Oft sah ich, wie ihre hellen kleinen braunen Augen im Zimmer umherschweiften, um mich zu suchen; ein komisches rundes Gesicht hatte sie unter dem Häubchen, das sie trug, und sie nickte und winkte mir in einer Art zu, die mich – ich weiß nicht, wozu – aufmuntern sollte.

Während sie ihr schönes Handgelenk beim Harfenspiel zur Geltung brachte, blickten mich ihre Augen zuweilen verständnisvoll an. Jeden Sonntag spielte sie ein Weilchen die Harfe und da hatte jedes Gespräch zu verstummen. Einer von uns mußte stets auf einem kleinen Stühlchen neben der Harfenistin sitzen und eine verzückte Miene zeigen. Gewöhnlich fiel diese Rolle irgend einem unvorbereiteten Neuankömmling zu, der von diesem drohenden Harfenspiel noch nichts ahnte.

»Der junge Herr Philosoph grübelt noch immer über seine Schmelztiegel nach«, rief sie durch das ganze Zimmer zu mir herüber.

»Lassen Sie sich durch die Hexe warnen.« Und dabei drohte sie mit dem Finger. »Es gibt auch Zauberkessel und nicht nur Tiegel, Herr Alchimist.«

Ich tat, als verstünde ich, was sie meinte.

Nie zuvor war mir solch ein verblüffender Konversationsstil begegnet.

An diesen Sonntagen kamen die verschiedensten Leute zu Mrs. Crewe. Einige waren wirklich bekannte Schriftsteller oder Schauspieler, Leute, deren Namen man auf Programmen oder unter Zeitungsartikeln gedruckt lesen konnte, die meisten aber waren Anfänger, wenn auch in vorgerückten Jahren, aber ebenso gewichtig und ernst und mit Koteletten behaftet wie die Wohlbekannten. Einige frühe Mitglieder der ›Fabian Society‹ pflegten zu erscheinen, ebenso etliche sonderbare Philosophen. Eines Abends schien Mrs. Crewes Konversation besonders verschroben, und ich gewahrte Mr. Bernard Shaw, der in der Ecke mit einer Gruppe von Leuten sprach. Zu jener Zeit war er ein schmächtiger junger Musikkritiker. Der eine oder andere Roman aus seiner Feder dürfte damals schon bekannt gewesen sein, doch gab es noch wenig Anzeichen für seine dramatische Karriere.

Der größte Teil der Gesellschaft bestand jedoch aus unbekannten jungen Leuten. Da waren die drei Crewe-Mädchen, jede von einem großen Kreis intimer Freundinnen umgeben, und die beiden Söhne des Hauses mit ihren Kameraden. Manchmal war die Jugend so überwiegend vertreten, daß man alle geistreiche Konversation aufgab und zu kindlichen Spielen überging.

Die Gesellschaften wurden auch in den Sommermonaten fortgesetzt; im Mai und Juni begab man sich in den Garten, einen Stadtgarten mit Kies und Platanenbäumen, der seinen Zauber der Dämmerung und Dunkelheit oder einem Dutzend bunter Lampions verdankte.

In jenem Garten gewann Clara an einem mondhellen Abend mit einem Male geheimnisvolle Schönheit. Wir gingen flüsternd nebeneinander her, zögerten, und küßten einander. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, was es heißt, einen süßen, lebenden Körper in den Armen zu halten und einen leidenschaftlichen Kuß zu trinken.

In diesem Augenblick sammelten sich alle irrenden Sehnsüchte meines Lebens zu einem einzigen Wunsch: Clara zu besitzen. Ich drückte sie an mich, doch mit einem Ruck endete ihre leidenschaftliche Erwiderung meiner Zärtlichkeit und sie entrang sich meiner Umarmung.

Die Tür war aufgegangen, und irgend jemand kam aus dem Hause in den Garten. »Es ist spät,« sagte sie, »man wird uns vermissen, laß uns hineingehen.«

Wir gingen, ohne ein weiteres Wort zu tauschen, in das erleuchtete Haus zurück, die Gesellschaft ging erst in später Stunde auseinander. Clara, deren Gesicht ich nun wieder deutlich sehen konnte, schien in einen fernen, leise triumphierenden Traum versunken. Sie blickte mich nicht an. Bis zum Schlusse des Abends blickte sie mir nicht mehr in die Augen. Unsere Gastgeberin stand an der Tür und sah uns hereinkommen.

»Sollte endlich ein warmer Hauch«, flüsterte sie mir geheimnisvoll zu, »auf Sir Galahads weißen Schild gefallen sein?«

Ich antwortete, daß der Abend reizend gewesen sei, und fragte, ob es mir gestattet sein würde, sie nach den Ferien wieder zu besuchen.

»Ich fürchtete schon, die Morgendämmerung würde nie kommen«, sagte Mrs. Crewe. »Nun! Ach! – Sie werden menschlich sein.«

Irgend etwas werde ich wohl erwidert haben; ich weiß nicht mehr, was es war. Ich erinnere mich nur, daß ich Clara nach Hause begleiten wollte, daß sie aber in Gesellschaft von Vettern und Basen wegging und ich einen langen Mondschein-Spaziergang durch den Hyde-Park machte.


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