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8

Nicht, wie versprochen, um fünf Uhr, sondern erst gegen acht Uhr erscheint der Chirurg. Es ist inzwischen fast unerträglich schwül geworden, und als der Arzt, ein untersetzter, stark nach Lysol und Maiglöckchen riechender Herr mit Doppelkinn und prallen dunkelroten Wangen, eintritt, beginnt draußen ein Gewitter mit Donner und Blitz und Hagel aus schwefelgelben Wolken niederzugehen. Der Arzt legt erst würdevoll seinen Hut und seine Handschuhe ab, er stellt sich vor dem Kranken in Positur, wobei er sein fettes Kinn durch würdevolles Zurückwerfen des Kopfes zu verbergen sucht, als wäre er ein Pferd, das mit aufgerecktem Schwanenhalse Hohe Schule zu reiten hätte. Nachdem er, wie er glaubt, genügend Eindruck auf uns gemacht hat, beugt er sich zu dem Kranken herab. Seine starren Züge lösen sich, er untersucht den schlafenden, durch starkes Rütteln nicht zu erweckenden Vater mit seinen ausgepolsterten Fingerspitzen, zieht ihm dann, um den Gehalt des Blutes an Farbe zu prüfen, das linke untere Augenlid herunter, streicht ihm in Gedanken das spärliche Haar an den Ohren zurecht, nickt dann zum Abschluß sich selbst zu, deckt mit Sorgfalt den Vater wieder zu und wendet sich ab. Eine Operation wäre möglich, sagt er. »Ob sie Erfolg verspricht?« fragen wir aus einem Munde. »Sie verspricht ihn wohl, hält ihn aber meistens nicht«, antwortet er mit kühlem Ärztewitz. Ob wir nicht wenigstens mit einer nochmaligen Besserung rechnen dürfen, frage ich. Meine Mutter schluchzt in sich hinein, beißt mit ihren Perlenzähnchen in ein spitzenbesetztes Taschentuch. Der Arzt hat bereits den Hut in der Hand, er läßt seinen Blick über die ärmliche Einrichtung des aus einem Saale in ein improvisiertes Krankenzimmer verwandelten dreifenstrigen Raumes schweifen, erinnert sich des vornehmen Namens, der ihm vom Hofe sicherlich bekannt ist, legt dann den Hut aus der Hand und kommt nochmals zum Krankenbette zurück. Er läßt sich in den Lehnstuhl fallen und überlegt von neuem. »Ich könnte die Operation natürlich versuchen«, sagt er schließlich, »aber der Erfolg wird selbst im Falle des Gelingens nur ein vorübergehender sein. Aufzuhalten ist dieser Prozeß nicht. Ob der Kräftezustand für einen langwierigen und technisch schwierigen Eingriff, allemal ein Triumph der Chirurgie, ausreicht, ist auch ein Problem. Ob es nicht besser ist, wir lassen den Kranken ruhig hinüberschlummern, ersparen ihm Schmerzen, soweit es nur möglich ist? Das können wir.« – »Handelt es sich um eine unmittelbare Gefahr?« frage ich, mit dem Aufgebot aller Kräfte mich beherrschend. »Ach nein, keine Gefahr, nur eine naturwissenschaftliche Notwendigkeit.« – »Und wie lange?« – »Die Diagnose ist Sache der Menschen, die Voraussage Sache des Himmels. Raum zu Illusionen ist immer da. Tage oder Monate, wer weiß es ... niemand, nicht einmal der, den es am meisten angeht ... und soll es auch nicht wissen ...«

Was können wir anderes tun als schweigen. Der Arzt wirft einen Blick durch die trüben Scheiben auf die mit Regendampf erfüllte Straße. Dann tut er, damit doch auch von seiner Seite etwas geschehe, mit einer Füllfeder ein paar unleserliche Schriftzüge auf ein Blatt Papier und heißt uns das Rezept besorgen. So will er uns den Trost geben, daß noch nicht alle Hilfe vergebens sei, obwohl nur meine Mutter sich täuschen läßt, weil sie dies will. Ich habe aus dem Schweigen des Arztes über sein Wiederkommen entnehmen müssen, daß er daran nicht denke und daß nichts mehr zu erwarten sei. Ich spreche hier ruhig die Tatsachen aus. Was in mir vorging, kann ich nicht in Worte fassen.

Man muß sich an das Greifbare halten, so spärlich, so nichtsbedeutend, so verzweifelnd es ist. Wie soll in einem jungen Menschen hoher Ehrgeiz, leidenschaftliches Streben möglich sein, wenn er sieht, wie wenig der Welt ein Menschenleben bedeutet, das Leben seines Vaters, das ihm das wichtigste, das einzig Wichtige im Dasein ist? Er fasse die Welt in ihrer Unendlichkeit bis an die wandlosen Räume von Ewigkeit und Universum, und er wird doch immer nur an seinem Vater Halt gewinnen; auch Nationalgefühl ist nur Vatergefühl. Er beschäftige sich mit dem bitter Notwendigen, mit dem Kampf um den täglichen Bissen Brot, er wird doch immer nur bei seinem Vater Frieden und Sättigung finden oder bei seinen Nachkommen. Ist irgendwo in dieser haltlosen Welt Stütze und wahre Verwandtschaft, müheloses Verstehen, Nebeneinanderleben ohne Kampf und Bitterkeit, richtige Freude am Menschen, das, was ich bei Titurel ersehnte und nie erlebte, bei meinem Vater wäre es gewesen. Kein Raum zu Illusionen, wie der kluge Professor sagt. Er hat nur zu sehr recht. Recht hat er mit seinem zweifelnden Blick, der die ganze ärmliche, ausgeräumte Herrlichkeit unserer Wohnung umfaßt, sich fragend, wie diese unwohnlichen, kahlen Räume, in denen kein altes Stück noch gut ist, in denen aber ebenso jedes gute neue Stück fehlt, wie diese miserable, abgenutzte Möblierung zu unserm vornehmen Namen paßt. Ja, wir sind die kleinere Linie, mit uns wird niemand zu rechnen haben. Aber ich habe in der kurzen Zeit nach Onderkuhle zu rechnen begonnen. Ich weiß, welchen Lohn dieser Professor für seinen kurzen Besuch fordern kann, und ich gebe ihm eine etwas höhere Summe. Ich sehe sehr gut sein staunendes, aber beherrschtes Lächeln. Noch an der Schwelle besinnt er sich, ob er uns die Gunst seines Wiederkommens versprechen soll. Aber er ist ehrlich genug, uns die nutzlose Ausgabe, sich den unnötigen Weg und vergeblichen Zeitverlust zu ersparen.

Kann etwas so erledigt sein, daß es keiner weiteren Mühe wert ist? »Wie alt?« fragt der Arzt noch an der Entreetür. Als er das Alter vernimmt, zuckt er die schweren Achseln, als wolle er sagen: »Genug! Genug gelebt!« Ist es nicht besser, einer wenig bemittelten Familie den letzten Pfennig zu nehmen, dafür aber auch die letzte Anstrengung zu leisten, ein Leben wie dieses zu fristen bis ans Menschenmögliche? Nur einen Monat länger, eine Woche länger, selbst der »vorübergehende Erfolg«, von dem er verachtungsvoll sprach, ist er nicht viel, muß er nicht alles sein für einen Sohn? Wie kann einer, der doch viele Mittel kennt, so kühl die Treppe über die Treppenläufer hinabgehen und uns, während er eine Zigarette anzündet, mit gelangweilten Lippen die Worte zurufen: »Wird hoffentlich bald noch besser werden!«

Wir kehren in das Krankenzimmer zurück, suchen das Rezept, finden es aber in der Dämmerung des wolkigen, schweren Abends nicht. Wir öffnen das Fenster weit. Es strömt eine fast greifbare, starke, reine Nachtgewitterluft hinein, die mit magnetischer Kraft geladen ist und der sich niemand, der noch atmet, entziehen kann. Und was die Bemühungen des Professors nicht gekonnt haben, das kann dieser balsamische Gewitterbrodem. Der Kranke erwacht, er ist ohne Schmerzen, klar bei Besinnung, er lebt auf im wahrsten Sinne des Wortes. Er ähnelt jetzt wieder dem Mann, der mich früher in Onderkuhle besucht hat. Wir sprechen wieder von alten Tagen und tun so, als wäre es noch für uns alle die alte Zeit. Wir täuschen einander, der Vater, die Mutter und ich, wir reden davon, wie wir uns die Zeit der »großen Ferien« einrichten wollen, wir berühren auch flüchtig das Projekt der Reise nach Zentralafrika mit dem Herzog, wovon ich meinem Vater eine Andeutung gemacht habe, und mein Vater spielt mit mir eine kleine Komödie gegenüber meiner Mutter. Er weiß, wie alles ist.

Noch liegen Wolken über der Stadt, es wird dunkel. Es kommt die Stunde, zu der man mich in der Fabrik erwartet. Käme ich nicht, um pünktlich anzutreten, so könnte mir nicht viel geschehen. Ich könnte hierbleiben, ich könnte auch nach dem Tode meines Vaters an der winzigen Lebensrente (wie winzig sie ist, habe ich erst heute bei dem Diktieren der Testamentsklausel erfahren) Anteil haben und so mit durchkriechen. Mein Platz in der Fabrik wäre bald ausgefüllt, es ist ja nicht einmal eine Lücke zu schließen. Aber etwas treibt mich dorthin. Ich habe das Gefühl, wenn ich eine Arbeit tue, könne ich dem Schicksal trauen. Das »im ganzen Wohlwollende der Welt« würde mich nicht betrügen und meinen Vater sterben lassen, während ich in der Fabrik die immer gleichen Handgriffe verrichtete, die jedes anderen Hand ebensogut verrichten könnte. Auch er, den es nach mir am meisten angeht, scheint mir recht zu geben. Zwar hat er sich bis jetzt jedes Urteils über meine Proletarierarbeit enthalten, aber wenn ich heute abend meiner Mutter einrede, ich müsse mich mit Freunden von Onderkuhle in einer Bar treffen, lächelt er mir zustimmend zum Abschied zu.

So sonderbar es klingt: zum ersten Male an diesem Tage fühle ich mich Punkt neun Uhr abends beim Eintritt in die Turbinenhalle beruhigt. Ich habe den Glauben, während der nächsten neun Standen könne mir nichts begegnen außer dem, was in dem Lauf, dem vorgeschriebenen Gang der Maschinen rings um mich beschlossen ist. Was bin ich während dieser neun Stunden? Lange nicht mehr Sohn eines Fürsten, auch kaum noch Mensch. Wenn man die Hand an den Schalthebeln, an den Widerständen der Elektromotoren hat, wenn auf meinen Fingerdruck ohne jede andere Anstrengung, als zum Zerdrücken einer Mücke nötig ist, sich Lasten von vielen Tausenden Kilogramm heben und senken, ist man ein Teil der bewegten und der bewegenden Maschinerie. Nun habe ich nicht mehr den Größenwahn, ich als einzelner Mensch sei etwas, womit man rechnen könne und was das Schicksal gegen die Unendlichkeit von Raum und Zeit in das Leben hineinbefohlen hätte, ohne diesem Atom die Kraft zu geben, den. Kampf zu bestehen, ja auch nur die Kraft, diesem Kampf gegen den Tod bewußt ins Auge zu sehen. In diesem Augenblick durchströmt mich nicht mehr das unnatürliche Lebensgefühl Onderkuhles. Die Stunde in der grünen Reitschule wiederholt sich nicht. Ich lebe in der Wirklichkeit, nicht höher erregt, nicht tiefer gedrückt. Etwas, was vielen selbstverständlich ist, einem Orlamünde aber nicht, läßt mich die Treppe zum Kran empor- und herabsteigen, den eisernen Ketten nachhelfen, wenn sie sich zu träge an der Seiltrommel aufwinden sollten, und sonst alles tun, was zur geräuschlosen Abwicklung der gefährlichen Arbeit (für die Arbeiter unten gefährlicher als für den Führer des Krans oben und seinen Gehilfen) nötig ist. Die Maschinen, deren Sinn und Verstand ich jetzt allmählich zu begreifen beginne, wie die Mechanik der Pferdegänge früher während der Reitlektionen für Fortgeschrittene, bewegen sich ohne Unterbrechung und Aufenthalt dank einer Kraft, die ihnen andere Arbeiter in dem einige Kilometer weit entfernten Elektrizitätswerke vermitteln. Auch unsere Arbeit geht weiter in die Welt, sie hat nicht hier im Fabrikraume ihr Ende. Wir sind Werkzeugmaschinen aus Eisen und solche aus Fleisch und Blut und erzeugen Werkzeugmaschinen. Ich habe jetzt vor dem Stillestehen und vor einem Sturz in den Abgrund des unausweichlich Wirklichen ebensowenig Angst, wie ein Sternbild sich vor seiner Bewegung ängstigt und während seiner Bewegung das Ende dieser Bewegung erschauernd fürchtet. Die geregelte Dauer der mechanisierten Arbeit ist mir ein Trost. Ich hätte diese heutige fürchterliche Nacht nach dem Ärztebesuch mit dem Bewußtsein von dem baldigen und unwiderruflichen Untergang des einzigen Menschen auf der Welt, den ich liebe, diese Nacht hätte ich fern von den Maschinen kummervoller und verzweiflungsvoller verbracht als hier. Ich will heute nicht fort aus dieser selbstgewählten Lebenslage. Wenn es das Schicksal so will, werde ich durch viele Jahre mit dem Körper an diese Maschine treten oder an eine andere ähnlicher Art, ich werde immer mit diesem meinem Körper, nicht mit meiner Seele, die im Vertrage nicht eingeschlossen ist, zur gleichen Stunde, mit der gleichen Kraft und dem gleichen Willen an meinen Platz mich begeben und werde ihn verlassen zur vereinbarten Zeit. Nicht anders als ein Planet, der zur bestimmten Stunde in den Kreis der größeren und beständigeren Gestirne tritt und zur gleichen bestimmten Stunde diesen Kreis verläßt. Ich werde nicht mehr Fürst Orlamünde sein. Was ist er denn auch gewesen? Was wäre er geworden? Aus den Angeln der Notwendigkeit hebt selbst der grandioseste Mensch die Welt nicht, als vergänglicher Körper sicher nie und nie.

Vielleicht kann ich unter meinesgleichen leben. Schon jetzt kann mich der Kranmeister verstehen. Er hat die Nachtarbeit aus einem ähnlichen Grund gewählt: weil er sein kleines Töchterchen, das jüngste von fünfen, am Tage im Parkkrankenhause besuchen will. Bloß am Mittwoch, Sonnabend und Sonntag sind Besuchsstunden. Er möchte seine Tochter doch zu gerne auch einmal in der Woche sehen und ihr Kleinigkeiten von Hause mitbringen, da die Mutter von den andern Kindern zu sehr in Anspruch genommen ist. Auch erwartet sie neuen Familienzuwachs. Ob ich, von ganzem Herzen ein Sohn, einmal auch den Ernst eines Vaters auf mich nehmen kann? Meine Ahnen hatten nicht den Mut, zu enden, und nicht den Mut, ganz neu zu beginnen. Ich werde nicht ein Kind haben, ein einziges, wie meine Vorfahren bis zu den Urgroßeltern, sondern entweder kinderlos leben oder aber, wenn es so sein soll, werde ich so viel Kinder zeugen, als Brot für sie durch meine intensive Arbeit geschaffen werden kann. Auch dieser Plan mag vielen selbstverständlich erscheinen, gerade mir ist er nicht leicht geworden. Onderkuhle ist nicht dabei, weder Cyrus noch der Herzog Ondermark, noch der Meister, noch mein einziger geliebter Freund Titurel. Mein Vater nicht. Meine arme Mutter nicht. Das ist vorüber. Der Kranführer spricht von seinem kranken, scheinbar hoffnungslosen Kind, ich von meinem kranken Vater, über dessen Gesundungsaussichten ich schweige. Ich beginne selbständig die Maschine zu bedienen. Er gibt mir mit militärischer Exaktheit Kommando auf Kommando, wobei mir das Zusammenhalten zweier verschiedener Bewegungen am meisten Schwierigkeiten macht. Freilich übe ich erst noch am leeren, unbelasteten Kran und muß automatisch alle diese Hebel und Ringe in Bewegung setzen lernen, bevor man mir etwas im Ernst anvertraut. Dennoch erfüllt mich, sobald es das erstemal ohne großes Kreischen und Knarren der Maschinerie geht, eine Art Lebensfreude. (Ich hebe als Probearbeit das Paket des Kranführers mit einer Puppe für sein Kind, eine winzige Last.) Lebensfreude bei dieser einfachen und geistlosen Arbeit, die jede etwas geschicktere Hand, jedes etwas begriffsfähige Gehirn leisten kann? Lebensfreude bei einem kranken Vater, den ich nach Beendigung der Nachtschicht, morgens gegen sieben Uhr, nachdem ich daheim nochmals gebadet habe, in dem gleichen lethargischen, hoffnungsarmen, wenn auch nicht unmittelbar gefahrdrohenden Zustand antreffe, wie ich ihn gestern abend verlassen habe? Aber er hat nachts wenigstens das Glas Wasser geleert, das ich ihm hingestellt habe, hat das in Oblaten gewickelte neue Medizinpulver genommen, sein Schlaf ist leichter, die trübe Pergamentfarbe seines Antlitzes ist durch ein ganz zartes Rot unterbrochen. Ob sich der Professor dennoch geirrt hat? Kann ich beten? – Aber doch auch nicht verzweifeln. Wenn ich mich jetzt auf dem für mich von der bedienenden Portierfrau hergerichteten halbmondförmigen, mit stachligem Samt bezogenen, mit abgenutzter Steppdecke belegten Sofa niederlege und kurz vor dem Einschlafen meine Glieder strecke, das etwas angeschwollene rechte Handgelenk massiere und dabei doch auch das andere Handgelenk anstrengen muß, um etwas Erleichterung zu bekommen – da erst empfinde ich, was verdiente Ruhe heißt, und daß auch in meinem jetzigen Leben Segen sein kann, nicht für alle vielleicht, aber für den Sohn meines Vaters, gerade für ihn.


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