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Ich habe in der folgenden Nacht nicht sehr gut geschlafen, da ich außerordentlich stark an meinen Vater, den Schöpfer meines Lebens, und an Titurel, meinen einzigen Freund, denken mußte, und so kommt es, daß ich morgens noch schlaftrunken beim Gehen über die Schwelle stolpere. Ich wohne in diesem Jahre nicht mehr gemeinsam mit den anderen Schülern in einem der großen Schlafsäle. Es gibt ihrer sieben, einige standen schon lange leer. Das Haus konnte mehr Schüler fassen, als jetzt da waren. Von den vielen Anmeldungen wurden vom Direktor, dem Abbé und dem Meister nur die »reinsten Namen« ausgewählt – oft nur ein Bruder, wenn drei eingereicht hatten. Angeblich wurden aber viel mehr Schüler in den Rechnungen geführt – alles zum Vorteil des Meisters. Sicheres habe ich nie erfahren können. Es betrifft mich auch nicht.

Ich darf, obgleich in der Buchführung überzählig, da keiner Schulklasse einzuordnen, in Onderkuhle leben, da meine Familie noch nicht über meine Zukunft entschieden hat. Man hat mir, vorläufig, heißt es, eine kleine Kammer eingeräumt, die sich an den Saal der fünften Klasse anschließt, ein enges, wenn auch hohes und helles Zimmer, welches dadurch viel von seiner Behaglichkeit verliert, daß eine Menge alter Möbel, und zwar hoher Schreibsekretäre und Nachtkästchen, in dem Raum zusammengepfercht ist. Hat man sich abends ein paar Blumen mit vom Spaziergang heimgebracht, dann muß man sie auf die schräge Platte eines hohen Sekretärpultes legen oder in ein altes Tintenfaß in Wasser stellen. Die Kleider, die sich jeder Schüler selbst ausbürsten muß, hängen über einem Nachtkästchen. Will man nachts, schlaflos, wie es manchmal vorkommt, zu einem Buche greifen, dann muß man es aus der Tiefe einer Schublade hervorsuchen, sich dann an den Sekretär postieren und so, wie ein Buchhalter an seinem Pulte, zu lesen versuchen, wobei die Schultern und der herabhängende Kopf schneller müde werden als die Beine. Die Peitsche, die ich ins Zimmer mitgenommen habe, hängt seitwärts am Sekretär an einem Nagel, der eigentlich für Lineale bestimmt ist. Alles in allem sieht mein Schlafzimmer eher wie ein Büro aus, und daher auch meine tiefe Abneigung gegen dieses, und daher auch in besonderem Zusammenhange meine tiefe Abneigung gegen Büros, Rechenstuben, Beamtentätigkeit und Zahlen.

Warum hat man mir als einem der ältesten Schüler, der oft den Reit- und Fechtlehrer vertritt, nicht gestattet, mich wenigstens noch am Abend und in der Nacht als Kind zu fühlen und mein Bett in der Reihe der anderen Schülerbetten zu haben? Will mich der Meister zu seinesgleichen machen? Soll ich Respektsperson sein wie er? Wie unendlich beruhigend wäre es, meine Kameraden neben mir atmen zu hören, wenn ich nicht schlafen kann. Wie herrlich ist es, noch eine letzte Minute morgens im Bett zu verbringen, wenn die anderen Knaben schon das ihrige verlassen und sich lachend und kreischend in die Waschräume begeben haben! Wie wunderbar schmeckt eine Zigarette, deren Mundstück, noch warm von den Lippen des Nachbars, mir nachts zwischen die Lippen gesteckt wird, denn das Laster des Rauchens grassiert in den höheren Klassen von Onderkuhle, ebenso aber auch die Tugend der Kameradschaft, alles mit den Gleichalterigen zu teilen, die untereinander eine große, einheitliche Familie bilden. Wir kennen uns nachts unter anderen Namen, die wir unserer Lektüre (wir lernen wenig, aber wir lesen viel) entnommen haben. So heißt mein Freund, den ich vorhin Titurel nannte, nur nachts so, bei Tage ist er Träger eines der berühmtesten Namen Belgiens. Ich heiße Tyl, und da die Namen gut zueinander passen, werden wir oft miteinander genannt. Im übrigen sind meine Freuden so unschuldig, daß der Beichtvater, der sie jeden Donnerstag erfährt, bloß die geringste Buße dafür ansetzt und meinem Versprechen, diese Sünden nie mehr zu begehen, ohne weiteres Glauben schenkt. Zwischen mir und meinen Kameraden herrscht eine Sympathie von solcher Reinheit, daß ich, wenn ich Lehrerstelle vertreten muß, ganz vergesse, daß der Junge, der nun mit dem bläulich blinkenden Florett auf dem schwarzen Teppich im Fechtzimmer vor mir »die Auslage hält« und eine naive Defensive markiert, oder der andere, der in der Reitschule neben dem angeschirrten, aber bügel- und zügellosen Gaul steht und auf mein Zeichen wartet, um aufzuspringen – ja, ich vergesse ganz, daß ich diesen Knaben kenne, daß ich nachts in seiner Nähe geschlafen habe, daß ich weiß, wie seine Lippen schmecken, und daß ich Zigaretten, noch warm von seinem Munde, geraucht habe, ich kenne am Tage keinen Titurel, ich bin kein Tyl mehr, ich tue meine Pflicht. Man hätte mir den Platz unter den Jüngeren ruhig noch dieses Jahr lassen können. Doch der alte, leibeigene Meister wollte es nicht. Ihm fügt sich alles, und dabei sind seine Blicke nicht gerade, sein Blut ist nicht adlig, seine Hände sind auch nicht rein, ich weiß alles von ihm, er nichts von mir.

Ich erzählte von der Nacht, von meinem schlechten Schlaf. Nicht die Träume einer sehnsuchtskranken Jugend sind es, die mich wecken, die mich mein Ohr an die Tür des benachbarten Schlafsaales pressen lassen, woraus die sanften ziehenden Atemzüge der »Fünften« hervorklingen, nicht mit dem Liebeshunger der Jugend horche ich nach ihren allzu leise geführten Gesprächen, nicht aus Begierde nach Zigaretten oder Tabak schmiege ich meinen geöffneten Mund an die Spalten der Tür, um den Zigarettenrauch einzuatmen, der aus den Fugen hervorquillt – was mich bewegt, ist etwas ganz anderes. Etwas anderes läßt mich aufstehen und mich mit emporgezogenen Schultern an einen und dann an den anderen der unnützen hohen Sekretäre pressen. Es ist ein Gefühl, das man bei einem Siebzehnjährigen nicht vermuten wird. Aber wird man glauben, daß dieses Gefühl, das ich zu bald nur nennen muß, in meiner Seele gearbeitet hat, seitdem sie Seele war, seitdem ich mich überhaupt erinnern kann? Ich muß es nennen – aber selbst vor dem Namen habe ich Angst. Todesfurcht ist es.

Am nächsten Morgen verlasse ich mein Zimmer, nachdem ich mich, ungeschickt genug, an einem der Sekretäre, der zu einem Waschtisch umgewandelt ist, gewaschen habe und nachdem ich den letzten, schon mehrere Monate alten Brief meines Vaters wieder in der Lade des Nachttisches verborgen habe – denn es gibt keinen anderen Tisch in diesem Raum, auch keinen Wandschrank, wie ihn die anderen Schüler haben –, dann trete ich heraus und stolpere auf der Schwelle über einen weichen, aber zähen Gegenstand. Ich hebe ihn auf, vielleicht ist es ein in Seidenpapier eingewickeltes Butterbrot, das einer der Knaben verloren hat, obwohl ich auch nicht wüßte, wie – aber es sind meine Handschuhe, die ich gestern bei der Wagenfahrt in ein Rübenfeld geworfen habe. Sie sind gesäubert, wenn auch nicht vollkommen; sind trocken; man hat die Erde von den Nähten entfernt, sie sind tragbar, wenn man auch keine besondere Ehre mit ihnen einlegen kann. Man hat mir mit dem Wiedergeben einen Dienst erwiesen, ich kann es nicht leugnen, und ich freue mich, daß ich sie wiederhabe. Aber ist nicht mein Titurel schwerkrank ins Lazarett gebracht worden? Hat man nicht an seinem Bette gewacht? Warum hat man ihn nicht, wenn er schon so töricht, so fiebrig und knabenhaft unbesonnen war, daran gehindert, das Bett zu verlassen, den ganzen langen Weg am See vorbei in der regnerischen Nacht zu durchmessen? Der Regen goß vom Himmel, ich weiß es, denn ich hatte nachts den Kopf mehrmals aus dem Fenster gebeugt. – Mich, den Gesunden, schauerte es, er aber hat die Angst vor den Folgen, das Grauen vor dem T. so weit überwunden, daß er sich aus einem Gefühl der Ritterlichkeit heraus, ein echter Titurel, auf den weiten Weg gemacht, sich durch die Rübenfelder hindurchgequält hat, bis er die Handschuhe wiederfand. Ich sehe es, es sind die meinen, die Anfangsbuchstaben B. v. O. sind mit verblaßter, violettrötlicher Tinte an der Innenseite vermerkt. Obgleich das Handschuhpaar oft genug von mir mit venezianischer Seife gewaschen worden ist, wird diese Marke nie ganz verlöschen. Ich weiß nicht mehr, wann sie eingezeichnet worden ist.

Aber eingezeichnet bleibt sie wie das Gefühl von Tod in meiner Seele. Man weiß nun, was es ist.


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