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Dieser Abend mit der Feuerkatze war der letzte, den ich im Winter mit Titurel in meinem kleinen, schmalen Zimmer verbrachte. Kurz darauf erkrankte er, wurde dann zur Erholung nach Hause beurlaubt und kehrte im Spätfrühling noch nicht ganz geheilt zu uns zurück. Er hat den T. gestreift, man sieht es ihm an.

Nun ist es vielleicht Zeit, noch etwas zu sagen, das sich auch auf T. bezieht, aber ihm gerade entgegengesetzt ist. Ich habe es bereits angedeutet, als ich von der Feuerkatze sprach. Sie hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Mehr als das: darin war etwas, das in meiner Seele schon lange vorbereitet war und was dieses mutige, schmerzfreie, dem Leid trotzende, im wahrsten Sinne feurige Tier mir bestätigt hat. Es gibt nämlich Zeiten in meinem Leben, wo ich so von Mut, von Lebensdrang erfüllt bin, daß ich mich nicht weniger mutig als die Feuerkatze in Flammen stürzen möchte. In solchen Zeiten scheue ich keine Gefahr, kenne keine Bedenken, ich lebe mit einem so heißen Genuß, mit einer so vollkommenen Befriedigung aller Lebensgier, daß mich der nicht wiedererkennt, der mich nur in Tagen des T. gekannt hat. Wenn in diesen Tagen und Nächten des T. meine armselige Person verschwunden ist und annulliert worden ist, so war mit ihr auch sonst alles Lebende und Erstrebenswerte auf der ganzen Welt annulliert. Seit gestern, seit der kleinen Spazierfahrt zum See, hat sich aber in mir alles gewendet.

Nun bin ich auf dem Wege zu meinem kranken Freund. Ich atme so tief, daß die versilberten Knöpfe an meinem Uniformkittel sich vordrängen, ich trete fest auf den kiesbedeckten Weg zum Lazarett, daß es klingt wie Sporengeklirr (Sporen trage ich nie, auch nicht bei der Arbeit), ich springe die sehr helle, bläulich geweißte Treppe zu den Sälen des Lazarettes hinauf, werfe meine hechtgraue Mütze auf das Bett des kranken Titurel, die Handschuhe berge ich in deren Höhlung. In soldatischer Haltung stehe ich, als wäre ich wirklich der Rittmeister, den ich vertrete, an dem elfenbeinfarben emaillierten Krankenbett. Meine Hand berührt Titurels Stirn, die von senkrechten Falten durchzogen ist und an der man, scharf abgesetzt, den Mützenrand als Scheidegrenze zwischen dem mehr und weniger gebräunten Teil seiner sommersprossigen Haut wahrnimmt.

Trotz der zwei offenen Fenster riecht es in dem Krankenzimmer streng und säuerlich. Aber in mir schlägt die Wonne des Lebens mit solcher Gewalt, daß ich es nicht beschreiben und daß ich es auch nicht vor ihm verbergen kann. Gerade diese wilde, fast schmerzliche Lebensfreude macht mich ihm gegenüber mild. Mag immerhin aus seinem Munde dieser strenge, säuerliche Geruch kommen, nichts schreckt mich ab, mich über sein verfallenes Gesicht zu beugen und mit ihm zu sprechen, als wäre ich sein älterer Bruder. Er antwortet nicht. Ich danke ihm für den Dienst mit den Handschuhen, aber während ich spreche, kann ich es nicht vermeiden, den Blick zu seinen nackten Füßen mit den grobgekörnten, hornähnlichen Zehennägeln zu wenden. Die Füße der Menschen haben mich stets zum Lachen gereizt, sie erscheinen mir wie Karikaturen der menschlichen Hände. Über meine Lippen geht, ich mag mich dagegen wehren, wie ich will, ein Lächeln, das er sofort versteht. Denn er erblaßt vor Erregung, krümmt seinen langen Oberkörper, zieht die Knie an. Er umfaßt mich mit seinen metallisch funkelnden Fieberaugen und sagt mit teilnahmsloser Stimme, ohne jede Spur von Vertrautheit: »Gänzlich überflüssig. Ich bin unbeteiligt. Der Zeremonienmeister kennt deine Verhältnisse.« Und während er die Lippen zusammenkrampft, dabei aus männlicher Selbstbeherrschung seinem armen Körper die bequeme Lage nicht wiedergibt, fügt er ironisch hinzu: »Ihr beiden ...«, spricht aber den Schluß nicht aus. Er schließt die Augen, holt ein Taschentuch unter dem Kissen hervor, faltet es zusammen, legt es auf den Nachttisch neben das Wasserglas, in welches das Thermometer eingetaucht ist. Ich bin nicht mehr für ihn da.

Er hat gestern mit dem Rücken zu mir auf dem Gig gesessen. Er hat den Meister gesehen, wie dieser sich nach meinen Handschuhen gebeugt hat. Heute hätte er, Titurel, es gerne gesehen, wie ich mich vor ihm, Titurel, beuge. Gut. Aber in mir ist eine solche Lebensfreude, ein so starkes Vibrieren der bis zum Rande heiß und wonnevoll gefüllten Adern, daß ich eben nichts als Freude, auch jetzt am Bette meines einzigen, kranken Freundes, empfinden kann. Aus seiner Beleidigung fühle ich seine Liebe.

Ich stehe auf, hole ihm frisches Wasser, stecke das Thermometer in die Metallhülle zurück, lasse die Vorhänge möglichst geräuschlos herab, überfliege die vom Anstaltsarzt (er ist gleichzeitig Lehrer der Naturgeschichte bei uns) sorgfältig angelegte Fieberkurve. Ich sehe meinen Titurel an. Ich ergreife seine Hände, die sich wie ein Stück heißes Fleisch anfühlen. Ich habe nur den Wunsch, ihn wie ein Kind zu behandeln, ein törichtes, unwissendes, unvollendetes, hilfloses, aber sehr geliebtes Wesen. Zu gern möchte ich ihm etwas Gutes tun, wogegen er sich nicht wehren kann. Er liegt still da, blickt durch mich hindurch.

Ich bin alt über meine Jahre, immer fühlte ich es, jetzt weiß ich es. Ich bin hier sehr allein. Immer wußte ich es, jetzt begreife ich es. Keine Eltern, keine Angehörigen wohnten mit uns in Onderkuhle. Wen sollte man lieben oder hassen? Kann der Freund Titurel mir einen Bruder ersetzen? Kann mir der Meister ein Vater sein?

Nirgends hat man recht Boden gefaßt. Man faßt erst Boden, wenn man eine Laufbahn einschlägt oder mit der Arbeit seiner Hände sein Brot verdient. Adel vereinsamt; wer weiß es besser als ich? Arbeit verbindet.

Nun aber lebe ich sorgenlos im Stift, ich bin diesem reichen Hause nicht eben zur Last.

Ich bin nicht ganz einsam, bin ein Stück von Onderkuhle, auch ich habe teil an den blauen Fahnen des Stiftes, an der Luft, an der Jugendluft, dem Knabenatem rings um unser Haus, an dem hohen schönen Wald bis an den See, der nicht mehr in unserem Gelände, sondern schon in der Nachbargemarkung des Gutsherrn P., eines ehemaligen Zöglings von Onderkuhle, liegt. Es sind die letzten Tage, man lasse mich hier verweilen.

Von dem, was ich die Merkzeichen des T. genannt habe, ist auch nichts mehr zu spüren, jetzt, da ich in den mit blaßroten, trockenen, sauberen Steinen gepflasterten Hof, mitten in die grelle Sonne hinaustrete.

Ich fühle mich so jung, so stark, daß es für mich in diesem Augenblick keinen T. gibt, auch nicht für meine Freunde, meine Lieben, weder für den Vater, den alten Fürsten mit der hängenden Unterlippe, noch auch für meine liebe, zarte, schüchterne, verspielte, kleine Mutter, noch für meinen guten Freund Titurel, für meine lieben Pferde, für meine Lehrer, für meine Mitschüler, bis zu den letzten, die ich kaum kenne. Sie sind eben erst eingetreten, sie hocken, von Heimweh verschüchtert und dauernd von der Angst vor nächtlichen »Proben« erfüllt, wie junge Ziegen, mürrisch und ängstlich alle zusammen. Ich nehme mir vor, sie besonders zart anzufassen, sie beim Florettfechten, beim Schwimmen und Reiten, wenn ich als Lehrer den erkrankten Rittmeister vertrete, mild zu behandeln.

In meiner Hand schmiegen sich meine frisch gewaschenen Handschuhe weich zusammen, sie liegen erwärmt neben der Mütze, die ich trotz des grellen Sonnenscheins nicht aufsetze. Ich schäme mich meines häßlichen Haares nicht mehr, so sehr bin ich hier zu Hause.

Von der Sonne geht heute etwas Berauschendes, Betäubendes aus, sie zieht mich an, sie reißt mich hinauf, dorthin, wo sie zwischen finsterem violettem Gewölke nur um so gleißender, ungeheurer und zugleich heimatlicher über mich und die Meinen herabbrütet an diesem unvergeßbaren Junitage.


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