Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil

1

So endet Onderkuhle. So endet meine fürstliche Erziehung.

Wohin? Zu meinen Eltern zurück? Was kann ich ihnen sein, wenn nicht eine Last? Ein Sohn gehört zu seinen Eltern, ich weiß es. Aber was dann, wenn er für ihr fürstliches Elend nur Sorge bedeutet? Das Geschenk der Armut und Genügsamkeit haben sie mir von sich weitergegeben, aber sie haben genug davon für sich behalten. Und doch würden sie ihrem einzigen Sohne die Tür nicht verschließen, auch wenn er nicht im vollen Glänze einer ausgezeichneten Aufführung zu ihnen zurückkäme. Sie würden ihre kleinen Portionen in noch kleinere Teile zerschnitzeln, vielleicht mir den Hauptteil zuweisen, dagegen alle Sorgen auf sich nehmen, wie sie auch jetzt die Sorgen lieber bei sich behalten, statt mir zu schreiben. Denn ihr Schweigen ist nicht Lieblosigkeit. Aber mögen sie verblendet sein in ihrer Liebe, ich bin es in meiner Liebe nicht.

Ich verfolge den Weg zwischen den Rübenfeldern, der zur nächsten größeren Ansiedlung führt. Von Onderkuhle habe ich Abschied genommen. Ich sehe nur zu klar, daß dieser Abschied nicht den von mir selbst anerkannten Gesetzen entspricht. Nicht Mut zu haben wurde verlangt, sondern Mut zu zeigen. Mut haben kann man nicht immer, Mut zeigen ist immer möglich. Das war die Lehre der Schule und des Meisters. Was ich war, habe ich vernichtet. Sollte es so sein? Soll ich dem Schicksal danken, daß es Onderkuhle zerstört hat und mit dem schönen, durch Generationen gepflegten und geliebten Onderkuhle auch das Onderkuhle in mir selbst? Ich lebe. Ich fühle, Feigheit ist gefährlicher als Mut. Ich will den Versuch wagen, allein zu leben, mich allein durchzuschlagen. Meine Hände schmerzen nicht mehr. Die offenen Stellen haben schon begonnen, sich zu überhäuten. Ich bin achtzehn Jahre alt. In der Brusttasche habe ich meine Papiere und in der linken Seitentasche meine Uhr. Man wird diese in V. in Geld umsetzen können, das ist für den Anfang das wichtigste. Es wird nicht viel sein, aber genug, mich nach Brüssel zu bringen und mich dort die ersten Tage über Wasser zu halten.

Längst hat die flache Landschaft, die ich durchwandere, ihren eigentümlichen Onderkuhle-Charakter verloren. Es sind Felder, Flecken, Gehöfte, Wege und Viehherden wie überall in der Welt. Aber mit dem Gefühl der freudigsten Bestürzung sehe ich plötzlich gegen sieben Uhr morgens die Luftspiegelung vor mir, wie ich sie einige Tage vor dem Unglück gesehen: ein Stück Stadt, eben V., an ihrem Rande eine ziemlich hohe, aber mißfarbene und an einigen Stellen deutlich abbröckelnde Fabrikwand. Das Haus steht allein, ist von unangenehmen Dünsten umgeben, die an die Chlordämpfe bei den chemischen Experimenten von Onderkuhle erinnern. Ich sehe eine breite Einfahrt, die sich eben öffnet, um die übernächtige Feuerwehrmannschaft auf ihrem Lastautomobil einzulassen, ihr folgt später eine Pferdefeuerspritze. Das Automobil rollt langsam, die Pferde aber keuchen, sie haben ihr Letztes hergegeben, um dem Automobil folgen zu können. Im Hintergrund der Fabrik raucht ein viereckiger, mäßig hoher Fabrikschlot, auch er mit Zeichen des Verfalls. Vielleicht ätzen die chemischen Dünste. Auch ist weit und breit um das Haus alles Grün stumpf und kärglich. Es ist Wochentag, und die Arbeit beginnt wie immer. Die Arbeiter sehen mich an, sie wissen, woher ich komme. Ebenso weiß es jeder Kaufmann in der kleinen Stadt, wo alle Lieferanten des Stiftes wohnen. Als ich in das erste beste Geschäft eintrete und meine Uhr vorlege, um darauf Geld zu erhalten, weist man die Uhr zurück, stellt mir aber ohne Pfand jeden gewünschten Betrag zur Verfügung und weigert sich sogar – ganz Onderkuhle –, etwas Geschriebenes als Schuldschein anzunehmen. Aber ich bestehe darauf. Dann begebe ich mich zum Bahnhofe. Eben läuft ein Zug ein, dem noch Arbeiter für die Fabrik entsteigen. Man erkennt meine hechtgraue Uniform, und ein junges Fabrikmädchen lächelt mir halb freundlich, halb spöttisch zu. Ich löse im Zuge mein Billett und bin am Spätnachmittag dieses Tages in meiner Vaterstadt.

Es ist heiß, aber die Luft ist gesättigt von Feuchtigkeit. Die grelle Sonne bricht durch die übermäßig belebten engen Straßen wie in Schächte. Aber hier in den breiten Boulevards atmet es sich nicht freier als in der Nähe der giftige Chlordämpfe erzeugenden Fabrik in V. Der Verkehr spielt sich, für mich fast unbegreiflich laut und schnell, inmitten einer Art gleißenden Nebels ab, aus dem nur die staubgrauen Kronen der bemitleidenswerten Bäume und die Türme der alten Baulichkeiten hervorragen. Die Straßen und Plätze sind strotzend gefüllt mit abgehetzten, dabei aber nicht einmal richtig erschöpften Menschen, dazu Fahrzeug auf Fahrzeug mit blind rennenden schlechten Pferden, rasend schnell fahrende Automobile. Kaum erkenne ich die Straßen wieder, die ich doch als Kind unzählige Male gesehen habe. In einer sehr engen, aber aus lauter sechsstöckigen Bauten bestehenden Seitenstraße finde ich ein Hospiz, wo man für wenig Geld einen Schlafraum erhält. Auch hier gibt es eine Hausordnung, an der hellsten Wand des finstern Kämmerchens angeschlagen, die eine Aufforderung enthält, täglich an den Segnungen des gemeinsamen Gebetes teilzunehmen. Doch wird kein Zwang ausgeübt. Das Haus selbst ist so ruhig mitten in dem rasenden Dröhnen des Straßenverkehrs wie ein großer Kiesel mitten in einem Bienenhause. Gerade diese Stille läßt sich schwer ertragen. Ich bin müde, aber nicht fähig, ein Auge zu schließen. Ich hatte es mir leichter gedacht, in derselben Stadt wie meine Eltern zu leben, ohne sie in der ersten Stunde schon aufzusuchen. Ich möchte es zu gern wagen, mich noch heute meinen Eltern zu nähern. Schon daß die bloße Möglichkeit besteht, macht mich glücklich, glücklicher, als ich es in der letzten Zeit in Onderkuhle war.


 << zurück weiter >>