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Eisdickenmessungen der Westgruppe

Von Kurt Wölcken

Die Frage der Mächtigkeit des grönländischen Inlandeises hat seit dem Beginn seiner Erforschung lebhaftes Interesse gefunden und ist bisher sehr verschieden beantwortet worden. Verbirgt diese mächtigste Eismasse der Nordhalbkugel unter ihrem bis 3000 Meter ansteigenden Mantel ein Hochgebirge, oder findet sich darunter ein Tiefland, über dem das Eis gleich einem flachen Kuchen liegt? Spiegelt die Form des Inlandeises in abgeschwächter Weise die Gestaltung des Untergrundes wieder, oder verdankt es seine Uhrglasgestalt den Bewegungsgesetzen einer zähflüssigen Masse, wie es auch Eis ist, wenn man lange Zeiträume in Betracht zieht? Wie mächtig ist die Schicht lufthaltigen Firneises, das im Innern Grönlands über dem massiven Gletschereis liegt? Setzen sich die mächtigen, viele hundert Meter tiefen Fjorde der Küste als Täler unter dem Inlandeis fort? Auch für die Deutung der Schweremessungen liefert die Kenntnis der Eisdicke wesentliche Hilfe. Der Lösung dieser Fragen suchte Alfred Wegener im wissenschaftlichen Programm der Expedition durch den folgenden Plan näherzukommen. Es sollten vier sichere Eisdickenbestimmungen auf einem Profil ins Innere, etwa bei 100, 200, 300 und 400 Kilometer Abstand vom Rande, ausgeführt werden und als weitere Aufgabe eine genügend große Anzahl von Eisdickenmessungen an sehr nahe benachbarten Stellen, um womöglich eine Karte des Untergrundes unter dem Eise von einer besonders interessanten Stelle zeichnen zu können.

Methoden und Apparate

Zur Bestimmung der Mächtigkeit des grönländischen Inlandeises wurden seismische Methoden benutzt (Seismik oder Erdbebenkunde, Lehre von den Erschütterungen des Untergrundes). In ihren Grundlagen gehen sowohl die Methoden wie auch die verwendeten Apparate auf Arbeiten E. Wiecherts zurück. L. Mintrop führte die seismischen Aufschlußmethoden für geologische Zwecke in die Praxis ein und hat an ihrer theoretischen wie auch praktischen Entwicklung großen Anteil.

Die Anregung, die seismischen Methoden zur Messung der Dicke des Inlandeises anzuwenden, stammt von dem Göttinger Geographen Meinardus. Die bei den grönländischen Messungen angewandten Methoden und Apparate wurden speziell für diesen Zweck im Göttinger geophysikalischen Institut unter L. Wiechert und nach dessen Tode unter G. Angenheister insbesondere von B. Brockamp und H. Mothes entwickelt. Die ersten seismischen Eisdickenmessungen auf Alpengletschern führte H. Mothes aus, die ersten Messungen in Grönland F. Loewe und E. Sorge 1929, nachdem sie von Mothes in die Arbeitsmethoden eingeführt worden waren. Eine besonders günstige Methode der seismischen Eisdickenmessung arbeitet ähnlich wie das heute wohl allgemein bekannte Echolot.

siehe Bildunterschrift

Methode der Eisdickenmessung (schematisch).

Am Sprengort wird durch eine Sprengung eine Erschütterung des Untergrundes, in unserm Falle also des Eises, hervorgerufen. Diese Erschütterung breitet sich nach allen Seiten im Eise mit einer bestimmten Geschwindigkeit aus. Sie beträgt für die rascheste Wellengruppe, die Longitudinalwellen, d. h. Wellen vom Charakter der Schallwellen, im Eis etwa 3,6 Kilometer in der Sekunde. Am Beobachtungsort sind nun höchstempfindliche Instrumente, Seismographen, aufgestellt, um die geringsten Bodenerschütterungen stark vergrößert aufzuzeichnen. Zuerst treffen am Beobachtungsort die Wellen ein, die den kürzesten Weg genommen haben, also an der Eisoberfläche entlang gelaufen sind. Etwas später verzeichnen die Seismographen erneut das Eintreffen von Erschütterungswellen. Diese sind vom Sprengort durch das ganze Eis bis hinab zum Felsuntergrund gedrungen, der Fels hat sie an der Reflexionsstelle zurückgeworfen, und nun tauchen sie von unten kommend am Beobachtungsort auf. Wir nennen sie deshalb reflektierende Wellen.

Sind Entfernung zwischen Sprengort und Beobachtungsort sowie Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Wellen bekannt, so ist es möglich, aus dem Zeitunterschied zwischen dem Eintreffen der direkten und der reflektierten Wellen die Eisdicke zu berechnen. Zur Bestimmung der Entfernung zwischen Sprengort und Beobachtungsort genügt es, die Strecke einfach mit einem guten Stahlbandmaß auszumessen. Zur Bestimmung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Wellen wird der Sprengmoment, der Augenblick der Explosion, elektrisch übertragen und auf demselben Registrierinstrument verzeichnet, das auch die Erschütterungswellen durch den Seismographen aufnimmt. Verfügt man wie die seismische Arbeitsgruppe der Weststation (Wölcken, Herdemerten und Brockamp) über mehr als eine Beobachtungsstation für jede Sprengung und mehrere Seismographen verschiedener Konstruktion, so kann man aus den Aufzeichnungen nicht nur die Dicke des Eises ableiten, sondern auch Angaben über die Struktur des Eises und sein physikalisches Verhalten, etwa über den Übergang vom Firnschnee zum festen Eis, machen. Eine vollständige Beobachtungsstation hat etwa folgendes Aussehen: Das Hauptinstrument, der Seismograph, besteht aus einer Masse von etwa vier Kilogramm, die mit Stahlfedern in einem Stativ befestigt ist. Wird also der Untergrund erschüttert, so wird die Masse, die ja das Bestreben hat, in Ruhe zu verharren, sich gegen das Stativ um ganz winzige Beträge bewegen. Diese kleinen gegenseitigen Verschiebungen werden durch Hebelübertragung vergrößert und bewegen schließlich einen kleinen, drehbar aufgestellten Spiegel. Vom Registrierinstrument, dem sogenannten Lichtschreiber, sendet eine kleine elektrische Birne einen Lichtstrahl aus, der auf den Seismographenspiegel fällt und von diesem zum Lichtschreiber zurückgelenkt wird (Lichtstrahl 1).

siehe Bildunterschrift

Schema zur Aufstellung der Apparate.

Dort trifft der Lichtstrahl durch einen schmalen Spalt auf ein lichtempfindliches Papierband. Dieses Filmband wird durch ein Uhrwerk rasch (etwa zehn Zentimeter in der Sekunde) an dem Spalt vorbeigeführt. So zeichnet der Lichtstrahl eine feine gerade Linie auf den Film, solange der Untergrund ruhig ist. Wird der Untergrund am Beobachtungsort durch die kilometerweit entfernte Sprengung auch nur um ein zehntausendstel Millimeter bewegt, so wird der Seismographenspiegel ein wenig gedreht, und der Lichtstrahl trifft den Film an einer andern Stelle, so daß wir nun statt der geraden Linie eine Kurve sehen, die den Bewegungen des Untergrundes entspricht. Die Bewegungen des Untergrundes werden 50 000fach vergrößert auf dem photographischen Papier abgebildet.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Herdemerten. Dunkelzelt im Schnee.

Ein zweiter Lichtstrahl trifft einen andern Spiegel, die sogenannte Ablenkung, und geht dann zum Lichtschreiber zurück (Lichtstrahl 2). Dieser Ablenkungsspiegel wird durch einen kleinen Elektromagneten in einer bestimmten Stellung gehalten; der Elektromagnet wird von einer kleinen Batterie gespeist, deren Zuleitungsdrähte jedoch durch den Sprengstoff gelegt sind. Durch die Explosion zerreißt diese Zuleitung, und der Elektromagnet verliert seine Anziehungskraft. So kann der Ablenkungsspiegel jetzt zurückschnellen, und die bisher von diesem zweiten Lichtstrahl gezeichnete gerade Linie zeigt im Augenblick der Explosion einen scharfen Knick.

Ein dritter Lichtstrahl (3) wird auf das Filmband von einem Spiegel geworfen, der auf einer Stimmgabel befestigt ist. Schwingt diese Stimmgabel fünfzigmal in der Sekunde, so zeichnet der Lichtstrahl ebensooft die Windungen einer Schlangenlinie auf das lichtempfindliche Papier. Diese »Uhr« gestattet es, die Zeitspanne zwischen direkten und reflektierten Wellen auf ein tausendstel Sekunde genau zu messen.

Wegen der photographischen Registriermethode befinden sich die gesamte Apparatur und der Beobachter selbst in einem Zelt, das völlig lichtdicht abgeschlossen werden kann, also gewissermaßen eine transportable Dunkelkammer vorstellt. Die gegenseitige Verständigung zwischen den einzelnen Beobachtungszelten und der Sprengstelle geschah telephonisch über die Leitung, die auch zur Registrierung des Sprengmomentes diente.

Wir hatten zwei verschiedene Sprengstoffe mit, Trinitrotoluol und auf Anraten von Herdemerten Miedziankitsprengstoff. Der letztere besteht aus Kaliumchlorat und Petroleum. Das ist für den Transport sehr wichtig, denn der Transport von reinem Kaliumchlorat ist auch bei strenger Kälte ungefährlich, und es ist auf diese Weise leicht möglich, den Sprengstoff erst am Verbrauchsort fertigzumachen. Er hat außerdem den Vorteil, daß man seine Explosionsgeschwindigkeit durch verschieden starken Petroleumzusatz regeln und damit je nach den gegebenen äußeren Verhältnissen die beste Wirkung erzielen kann. Er hat sich bei uns ganz vorzüglich bewährt. Die Zündung der Ladung erfolgte elektrisch. Die gesamten Transporte ins Innere Grönlands für die seismische Gruppe der Weststation, wissenschaftliches Material, Menschen und Proviant, wurden ausschließlich mit Hilfe von Hundeschlitten bewältigt. Die einzelnen Reisegruppen waren verschieden groß, die gesamten Reisen entsprechen der Leistung von vier vollbepackten Hundeschlitten von der Küste bis »Eismitte« und zurück (3200 Lastschlittenkilometer).

Die Messungen und ihre Ergebnisse

Bei den seismischen Messungen brachte genau wie bei den meisten übrigen wissenschaftlichen Arbeiten der Expedition die Transportfrage die größten Schwierigkeiten. Wir hatten 1000 Kilogramm Sprengstoff und eine große Kiste voll höchst gefährlicher Sprengkapseln auf das Inlandeis zu schaffen, die Instrumente mit allem Zubehör wie Dunkelzelt, photographischer Ausrüstung, Ersatzteilen und Batterien wogen für eine Beobachtungsstation rund 150 Kilogramm. Dazu kamen noch Kabel für die Verbindung zwischen Sprengort und Beobachtungsort mit 300 Kilogramm. Alles dies war noch im Herbst 1930 mit den Pferden zum Winterhaus gebracht worden.

Wir Seismiker, Herdemerten und ich, hatten das Glück, gleich im Frühjahr 1931 mit der wissenschaftlichen Arbeit beginnen zu können, während die Kameraden sich auf der Schlittenreise zum Entsatz der Station »Eismitte« befanden. Im Winter hatten wir uns in der großen Schneewächte, die sich im Windschatten des Hauses gebildet hatte, eine geräumige Höhle zur Aufstellung der Instrumente und zur »Sprengstoffabrikation« gegraben, so daß wir als Boden wieder das feste Gletschereis hatten. Im Februar 1931 konnte ich damit beginnen, alle Instrumente, die durch die langen und harten Transporte gelitten hatten, gründlich zu überholen, um sie dann in der Schneehöhle aufzustellen. Der Beginn der eigentlichen Messungen wurde dadurch bis Ende März verzögert, daß alle Kräfte zur Vorbereitung der ersten großen Schlittenreise nach »Eismitte« in Anspruch genommen wurden. Bis Ende April hatten wir in unmittelbarer Nähe des Winterhauses sieben Eisdicken gemessen. Unter dem Winterhaus war das Eis 140 Meter dick.

Alfred Wegener hatte sich über die seismischen Arbeiten, die von der Weststation aus unternommen werden sollten, mir gegenüber nur einmal ganz kurz geäußert. Er plante an einer Stelle, etwa 25 Kilometer vom Inlandeisrand entfernt, eine mehr flächenhafte Untersuchung, um von einer Fläche mit etwa zehn Kilometer Seitenlänge nach Möglichkeit eine Höhenschichtenkarte des Untergrundes zu erhalten. Da die für den Winter vorgesehene genaue Besprechung der Arbeitspläne nicht stattfinden konnte und ich nicht genügend mit Wegeners Plänen und Ideen vertraut war, um die Wichtigkeit gerade dieser Messungen zu verstehen, entschlossen wir uns, nach einem Plane zu arbeiten, der im Winter auf der Weststation besprochen worden war. Bei meiner Hundeschlittenreise nach Eismitte im September 1930 war mir aufgefallen, daß ich die Einzugsgebiete der großen Abflußsysteme des Inlandeises in ihren Oberflächenformen bis etwa 60 Kilometer Abstand vom Rande verfolgen zu können glaubte. So hatte ich nun den Plan gefaßt, ein Tiefenprofil von Norden nach Süden quer über einen Abflußgletscher in der Nähe der Küste zu legen und weitere vier Stationen auf einem Nord-Süd-Profil, etwa 60 Kilometer vom Rande entfernt, zu errichten.

Anfang Mai zogen Herdemerten und ich auf unsere zweite Station um, zwei Kilometer vom Winterhaus entfernt, mitten auf dem Kangerdluarsuk-Gletscher. Drei Wochen später wissen wir vier weitere Eisdicken, diesmal liegen sie zwischen 500 und 700 Metern. Am 23. Mai wird die dritte Station auf dem Eisrücken östlich Nunatak Scheideck errichtet. Dort ist das Eis sehr dünn, nur etwa 100 Meter, wie wir aus vier Dickenmessungen erkennen. Diese drei ersten Stationen liefern uns ein Tiefenprofil quer über den Kangerdluarsuk-Gletscher, etwa an der Stelle, an der das Inlandeis in seiner Abflußrichtung so weit durch die Felswände beeinflußt ist, daß man von einem Gletscher sprechen kann.

Um möglichst günstig gelegene Arbeitsplätze für unsere Messungsreihen in 60 Kilometer Randabstand auszusuchen, bestiegen Herdemerten, Jülg und ich Ende Mai das Hochlandeis nördlich des Kangerdluarsuk-Gletschers; von dort reichte die Sicht fast 100 Kilometer in das Inlandeis hinein. Herdemerten und ich mußten den Aufstieg allerdings mit einer unangenehmen Schneeblindheit bezahlen. Inzwischen ist am 19. Mai mein alter Studienkamerad Brockamp im Winterhaus eingetroffen. Ich war sehr erfreut, als er sich entschloß, gemeinsam mit mir zu arbeiten, um in erster Linie die Tiefenbestimmungen und in Verbindung mit diesen in zweiter Linie die ursprünglich von ihm geplanten Spezialstudien über das Verhalten von Erschütterungswellen im Eis durchzuführen.

Am 21. Juni bricht die erste seismische Gruppe (Herdemerten, drei Grönländer und ich) ins Innere auf. Brockamps Apparate sind noch nicht eingetroffen, er kommt mit einer zweiten Schlittengruppe nach. Wir haben sehr viel Gepäck, im ganzen neun Schlittenlasten, weil die Arbeiten sich über viele Wochen erstrecken werden und wir bei allen vorgesehenen Stationen auf der »Nordroute« schon die erforderlichen Depots (Proviant für Menschen und Hunde, Petroleum) anlegen wollen. Wir behalten einen Grönländer und ein Schlittengespann bei uns, um beim Umzug von einer Station zur andern die Lasten zu befördern, wir selbst legen die Wege auf Schneeschuhen zurück. Die Arbeit beginnt auf der nördlichsten Station 58 Kilometer nördlich vom Depot 62, Herdemerten und ich sind mit unserm Grönländer allein. Diese Station bringt die erste Enttäuschung. Trotz aller Mühen gelingt es nicht, eine einwandfreie Tiefenbestimmung bis zum Felsuntergrund zu erhalten. Die mitgenommene Sprengstoffmenge erweist sich als zu klein, sie war nach den Erfahrungen der Vorexpedition berechnet, welche mit ihren seismischen Beobachtungen bis 40 Kilometer Randabstand vorgedrungen war. Dort ist aber die Firnschicht nur 20 bis 50 Meter dick. Hier bei uns ergibt sich ihre Dicke zu etwa 350 Meter, das ist an und für sich ein wertvolles Ergebnis, aber das Ziel, eine genaue vollständige Eisdicke, wird nicht erreicht. Nach den hier gewonnenen seismischen Kurven sieht es so aus, als ob außer den zu geringen Sprengstoffmengen noch Spalten im Firn und im Eis mit schuld am Mißlingen der Tiefenbestimmungen seien. Beim Umzug zur nächsten Station bestätigt sich dieser Verdacht, wir treffen offene Spalten an, 60 Kilometer vom Rande entfernt an einer Stelle, wo wir etwas Derartiges nicht mehr vermutet hätten. Brockamp hat uns inzwischen eingeholt, aber obwohl wir nun mit zwei Beobachtungsstationen arbeiten können und wissen, daß Spalten vorhanden sind, mißlingt auch die nächste Station. Auch hier erhalten wir nur die Firndicke und die Gewißheit, daß die Grenze Firn-Eis in dieser Gegend verhältnismäßig scharf ausgeprägt ist. Aber dann wird es besser. Alle übrigen Stationen liefern gute Ergebnisse, bei der Station 6, etwa 17 Kilometer nördlich vom Depot km 62, sind die Eisdicken an den einzelnen Meßstellen deutlich untereinander verschieden, im Mittel rund 1300 Meter, die Firnschicht scheint hier viel dünner zu sein, nur etwa 50 Meter. Bei solchen Eisdicken braucht man Sprengladungen von etwa 25 Kilogramm, um gute Ergebnisse zu erzielen.

Am 27. Juli reise ich zur Küste zurück, um die nächste Schlittenreise vorzubereiten, die uns weiter ins Innere hineinbringen soll. Inzwischen messen Brockamp und Herdemerten dicht bei einer ganz großen Spalte zwei Kilometer vom Depot km 62 entfernt (Station 7). Sie finden dort aus vier Eisdicken, die zwischen 700 und 900 Meter liegen, daß, genau wie bei Station 6, der Untergrund sehr uneben ist, aber rund 500 Meter höher liegt. Dieses Ergebnis widerspricht nicht meiner Ansicht, daß sich diejenigen Fjorde, in welche die großen Abflußgletscher des Inlandeises einmünden, noch unter dem Eise weit hinein fortsetzen, vielleicht bis 80 oder gar 100 Kilometer, wenn auch die bisherigen Messungen für eine endgültige Entscheidung nicht ausreichen.

Am 11. August können wir wieder von der Küste aufbrechen und vermessen bis zur Rückkehr am 16. September Station 8 bei km 120 und Station 9 bei km 82. Die beiden letzten Stationen auf dem Inlandeis liefern die besten Ergebnisse. Es gelingt, nicht nur ein kleines Profil vom Untergrund zu erfassen, sondern ein Flächenstück. Die Oberfläche des bearbeiteten Gebietes wird trigonometrisch vermessen und der Untergrund seismisch erschlossen, so daß es sogar bei Station 8 gelingt, für zwei Quadratkilometer des Untergrundes eine Art Höhenschichtenkarte zu entwerfen. Selbstverständlich kann diese Karte nur auf einige zehn Meter genau sein, aber es ist doch die erste Karte von dem Gebirge, das unter Grönlands Eismassen begraben liegt. Wir haben mit Hilfe unserer Apparate, also gewissermaßen wie mit Röntgenstrahlen, den Untergrund abgetastet. Bei Station 8, 120 Kilometer vom Rande entfernt, scheint die Grenze zwischen Firn und Eis nicht mehr scharf zu sein, die gesamte Eisdicke beträgt im Mittel etwa 1700 Meter; bei Station 9, km 82, ist die mittlere Eisdicke rund 1550 Meter, aber bei beiden Stationen kommen im Untergrunde noch Steigungen bis zu 30 v. H. vor. Zum Abschluß der Arbeiten wurde noch kurz vor der Heimreise das Zungenbecken des Kamarujuk-Gletschers an der Küste untersucht, in der Hauptsache für seismische Spezialstudien.

Achtung! – Fertig! – Schuß!

Ein Tag Eisdickenmessung bei km 120

Seit drei Tagen warten wir auf besseres Wetter; endlich scheint es etwas weniger Wind zu geben; hoffentlich klappt die Messung heute. Bei dem Schneesturm, der in den letzten Tagen herrschte, muß ja das ganze Inlandeis so stark zittern, daß eine Registrierung der Sprengung völlig unmöglich ist. Also, auf in den Kampf! Die ersten Stunden des Tages vergehen mit dem aufreibenden täglichen Kleinkrieg, unser »Haushalt« will besorgt sein, die Hunde müssen in Ordnung gebracht werden. Die Vorbereitungen zur Sprengung sind gottlob schon größtenteils erledigt. Daß es gerade ein Vergnügen gewesen ist, eine zwei Kilometer lange Doppelleitung bei Schneefegen zu verlegen und zu vermessen, kann ich nicht behaupten; aber jetzt liegt sie, und wir haben sogar schon alle schadhaften Stellen aufgefunden und geflickt. Die 30 Kilogramm Sprengstoff sind auch schon fertig eingebuddelt, zweieinhalb Meter tief liegen sie im Firn, und nur noch zwei Drähte führen zu dem kleinen Zeltchen, 50 Meter von der Sprengstelle, von wo aus Herdemerten den Schuß auf die Sekunde genau zünden wird. So stiebeln denn Freund Brockamp und ich aus unserm Wohnzelt los, jeder zu seinem Beobachtungszelt, wo die Apparate schon aufgestellt sind. Brockamp muß etwa ein halbes Kilometer laufen, ich habe es bequemer, denn bis zu meinem Beobachtungszelt sind es nur ein paar Schritte.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Herdemerten. An der Apparatur.

Dafür heißt meine erste Tätigkeit, am Dunkelzelt ganz energisch Schnee schippen. Jeden Morgen ist das Zelt bis zum First im Schnee vergraben, und man muß mindestens eine halbe Stunde buddeln, um überhaupt hineinzukönnen. Drinnen ist alles noch in Ordnung, ich setze gleich den Primusbrenner in Betrieb und heize erst mal tüchtig ein. Der Lichtschreiber weigert sich nämlich mit konstanter Bosheit, bei tiefen Temperaturen mit der erforderlichen Geschwindigkeit zu arbeiten. Eine Stunde muß ich wenigstens heizen, bevor es losgehen kann; inzwischen werden die Halteschrauben an den Apparaten gelöst, alles noch einmal eingestellt. Dazu muß man in dem kleinen, mit empfindlichen Apparaten vollgepfropften Zelt einige Fähigkeiten zeigen, wie sie sonst wohl nur von Schlangenmenschen verlangt werden. Die Stunde Heizen ist rum, ich mache das Zelt endgültig dicht und fange an, meine Lunge am Telephon zu trainieren. Hallo! – Herdemerten! – nichts; hallo, Brockamp! – auch nichts. – Nach fünf Minuten das gleiche noch einmal; aber dann höre ich was. Herdemerten meldet sich. Sind Sie fertig? – Jawohl –! Haben Sie schon was von Brockamp gehört? – Nein –, also warten. – Nanu, das war doch eben was im Telephon? Ist dort Brockamp? Wie steht es denn? – Den ersten Satz der Antwort will ich lieber fortlassen, er war nicht gesellschaftsfähig; und dann folgt die Erklärung, daß seine Apparate so ausgekühlt waren, daß nun beim Anheizen alle Spiegel und Linsen beschlagen sind. Da hilft nichts als weiter heizen und weiter warten. Herdemerten kriegt da draußen inzwischen kalte Beine und kalte Hände, aber wir können ihm nicht helfen. – Endlich ist alles fertig, beide haben gemeldet: Alles in Ordnung!, und ich habe meine Instrumente auch gerade wieder hingetrimmt. Hallo! Mein Kommando wird lauten: Achtung! – Fertig! – Schuß! – Genau zehn Sekunden nach dem letzten Wort erfolgt die Sprengung. – Die letzten Sekunden vor dem kritischen Moment, der entscheidet, ob die Mühe von vier Tagen vergeblich war oder nicht. Ich höre Herdemerten durch das Telephon, er pfeift mit Hingabe den Tanzschlager »Leila«, also ist alles in Ordnung und niemand nervös. – Nun ist's so weit – ich rufe: Achtung! – Fertig! – Schuß! – Alles still, nur das Triebwerk des Lichtschreibers schnurrt. Gebannt hängen meine Blicke an den drei Lichtpunkten im Lichtschreiber, werden sie sich aus ihrer Ruhe bewegen? – Jetzt! der erste tut's und der zweite auch –; alles in Ordnung; und schon höre ich nach wenigen Sekunden den dumpfen Schall der Sprengung. Nun aber fix, unser kostbarstes Gut, den Film, in die Kassette gepackt. Schnell all die empfindlichen Instrumente angehalten, damit kein Unheil geschehen kann, und dann erst mal Luft geschnappt und die Glieder gereckt. Der zweite Akt der Vorstellung, das Entwickeln der Filme, folgt fast ohne Pause. Bis ich genügend Wasser geschmolzen und alles zurechtgestellt habe, ist auch Brockamp mit seiner Kassette zurückgekommen, und ich krieche wieder für einige Stunden in mein kleines Arbeitszelt. Das Entwickeln mit so primitiven Hilfsmitteln, wie man sie bei einer Hundeschlittenreise auf das Inlandeis mitnehmen kann, erfordert eine eigene Technik, die ich mir aber nach einigen Fehlschlägen aneignen konnte. Schon nach wenigen Minuten tanzt Brockamp wieder vor meinem Zelt: Ist was draus? Wie sieht es aus? Kann man die Reflexion sehen? Wie sieht bei meinem Film die Zeitmarkierung aus? – Ich erzähle ihm erst mal, daß ich noch gar nicht bei den Aufnahmen von der Sprengung bin, sondern zuerst die Kurven entwickle, die zur Apparaturkontrolle und zur Bestimmung der Vergrößerung des Seismographen dienen. Das ist zwar nicht wahr, denn ich bin genau so ungeduldig wie meine Kameraden, aber ich weiß aus Erfahrung, daß sonst nach fünf Minuten schon wieder eine Fragenflut auf mich niederprasselt. – Kalte Finger hat es bei der Pantscherei doch gegeben, aber nun ist auch alles fertig, schnell hinüber ins Wohnzelt, damit die Filme nicht inzwischen festfrieren und entzweibrechen. Das Essen ist auch gerade fertig und der Hunger ganz respektabel, aber das ist alles vergessen.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Holzapfel. Blick von Scheideck zum Kangerdluarsuk-Hochlandeis.

Drei glänzende Augenpaare blicken beim kümmerlichen Lichte einer Kerze auf die Filme, die einer nach dem andern durchgesehen werden.

siehe Bildunterschrift

Seismogramm zur Eisdickenbestimmung von der Station km 120.

Es hat geklappt! Hier ist die Zacke, aus der wir die Eisdicke berechnen können; halt, hier auf dem zweiten Film auch, das ist ja großartig. Sie sind noch klitschnaß, die Filme, aber wir müssen sie doch schnell noch ganz überschlagsmäßig ausmessen. –

Die Eisdicke des grönländischen Inlandeises bei km 120 beträgt rund 1700 Meter. –

Fassen wir nun am Ende dieser Arbeiten ihre Ergebnisse zusammen, so ergibt sich etwa folgendes Bild. Das Inlandeis ist am Rande zwischen 500 und 1000 Meter dick, bei km 120 etwa 1700 Meter. Der Untergrund stellt jedoch keine ebene Fläche dar, sondern eine steilwandige Gebirgslandschaft. An der Außenküste Westgrönlands erreicht dieses Gebirge über 2000 Meter Höhe und ist nicht vom Inlandeis bedeckt; im Innern Grönlands bei etwa km 100 hat das Inlandeis dieses Gebirge völlig überschwemmt und tief hinuntergedrückt, so daß es nur etwa 500 Meter über den Meeresspiegel reicht. Im Randgebiet wird die Oberflächenform des Eises sehr stark vom Untergrund bestimmt, so daß sogar noch bei km 60 große Spalten dadurch aufreißen, daß das Eis gemäß den Untergrundformen verschiedene Flußrichtungen hat. Auch noch bei km 120 spiegeln sich die Untergrundformen in der Oberfläche des Inlandeises wieder, wenn auch nicht so ausgeprägt wie im Randgebiet. Im Beginn des Firngebiets, bis etwa km 30, ist die Trennungsschicht zwischen Eis und Firn verhältnismäßig scharf, weiter im Innern scheint der Übergang allmählich zu sein. Diese Ansichten gründen sich auf rund 50 Eisdickenbestimmungen, die unsere Gruppe 1931 ausführte, vier Eisdickenbestimmungen der Vorexpedition (F. Loewe und E. Sorge 1929) und den von Sorge angegebenen Wert für »Eismitte« von 2500 bis 2700 Meter (1931).

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Herdemerten. Eissprengung zur Messung der Eisdicke.

Falls auch außerhalb unseres Arbeitsgebietes die Höhenlage des Untergrundes des grönländischen Inlandeises ähnlich ist wie im Bereich unserer Messungen, würde Grönland mindestens eine Eismasse von drei Millionen Kubikkilometer enthalten. Das ist soviel wie die Masse des gesamten europäischen Festlandes mit allen Hoch- und Mittelgebirgen. Grönland enthält vierzigmal soviel Wasser wie Nord- und Ostsee zusammengenommen; würde das hier aufgespeicherte Eis schmelzen, so stiege das Weltmeer um nicht weniger als acht Meter, und weite tiefliegende Gebiete in allen Erdteilen würden unter Wasser gesetzt werden.


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