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Ende der letzten Herbstschlittenreise

Von Fritz Loewe

Nach der Trennung von drei Grönländern bei km 151 gingen Wegener, Rasmus Villumsen und ich mit drei Gespannen weiter nach Osten. Langsam, langsam nur ging es vorwärts. Am 7. Oktober kamen wir bis km 160, am 8. Oktober bis km 165, am 9. Oktober bis km 170. Das Wetter war neblig und bis zum 9. Oktober milde. Die Bahn blieb schlecht. Bewundernswert war, wie der vorausfahrende Rasmus die vom Schnee fast ganz bedeckten Fahnen, quadratzentimetergroße Reste in einer kleinen, vor den übrigen kaum auffallenden Schneewehe, zu finden wußte. Aber es war fast unmöglich vorwärtszukommen. Die Hunde des ersten Schlittens schwammen, ruderten bis zum Bauch im losen Pulverschnee. Die folgenden Schlitten kamen etwas besser vorwärts, solange sie die Kufen auf der Spur des vorauffahrenden Schlittens halten konnten. Aber sie war manchmal in dem diffusen Licht der jetzt schon dämmerigen Tagesstunden nicht genau zu verfolgen, und kaum rutschte der Schlitten seitlich von der festen Bahn herab, so versank er mit seinen 250 Kilogramm Last sofort bis an die Querhölzer im weichen Pulver. Wollte man ihn dann wieder in Gang setzen, so bedurfte es verzweifelter Arbeit, bei der man sich bis über die Knie in den Schnee einwühlte. Endlich war der Schlitten wieder in Bewegung, aber nach wenigen Augenblicken schon steckte er erneut im grundlosen Schnee fest.

siehe Bildunterschrift

Aufnahme Kelbl. Eingeschneiter Propellerschlitten.

Bei km 170 lagen wir am 10. Oktober. Es war kälter, 30 bis 40 Grad. Wegener war vom letzten Tage her etwas überanstrengt und, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, für Warten, weil er Erfrierungen im Gesicht durch den lebhaften Gegenwind fürchtete. An diesem Rasttage gab es wieder eine lange Erörterung. Mit Lebensmitteln und Hundefutter stand es ungefähr wie folgt: Proviant war etwa für 14 Tage vorhanden, d. h., er reichte bei einer mittleren Marschleistung von 15 Kilometer täglich knapp bis »Eismitte«. Hundefutter konnte bei allmählich verminderter Hundezahl auf die gleiche Zeit gestreckt werden. Der Entschluß zur Umkehr mußte bei gleicher Marschgeschwindigkeit spätestens bei km 230 gefaßt werden, denn wir durften den auf der Strecke liegenden Notproviant nicht angreifen, da möglicherweise Georgi und Sorge auf ihn angewiesen waren. Bei km 230 lag von früheren Reisen eine Kiste Hundepemmikan, den wir für den Rückmarsch hätten verwenden können.

Sorge und Georgi noch vor ihrem Abmarsch am 20. Oktober in »Eismitte« zu erreichen, erschien uns beiden unmöglich. Wegener glaubte darüber hinaus, wir könnten »Eismitte« überhaupt nicht erreichen oder uns zum Zusammentreffen mit Sorge und Georgi durcharbeiten. Auch ich hielt ein Durchkommen in Anbetracht der Proviantvorräte und der Jahreszeit für unwahrscheinlich, glaubte auch, daß die Gefährdung unserer Abteilung nicht geringer sei als die von Sorge und Georgi, denen man für ihren Rückmarsch gegebenenfalls eine neu aufgestellte Abteilung entgegenschicken konnte. (Die Entsatzreise im November hat gezeigt, daß dies unmöglich war.) Doch erwartete ich im Innern bessere Schlittenbahn und wollte das Durchkommen nicht für »unmöglich« erklären. Schließlich beschlossen wir, bei km 230 Proviant niederzulegen und umzukehren. Wir ließen daher bei km 170 etwas Hundefutter und den letzten Rest des wissenschaftlichen Materials zurück.

Aber am nächsten Tage, am 11. Oktober, besserten sich die Schneeverhältnisse. Trotz späten Aufbruchs (nach Liegetagen sind Geschirr und Zugleinen immer besonders in Unordnung) kamen wir verhältnismäßig leicht zehn Kilometer weiter. Nun schien es doch wieder möglich, bis zum Zusammentreffen mit Georgi und Sorge weiterzureisen. Leider erforderten es dann die Proviant- und Futterverhältnisse, nach dem Zusammentreffen zur Neuverproviantierung bis »Eismitte« zu gehen. So entschlossen wir uns wieder anders, holten am 12. Oktober das bei km 170 hinterlegte Hundefutter und den dort liegenden Proviant nach, außerdem einen Teil des Postsackinhalts für Georgi und Sorge, und kamen am selben Tage noch fünf Kilometer weiter. Am 13. Oktober trafen wir endlich bei km 200 ein. Weit verstreut standen hier drei große Depots, Petroleum, Benzin und das Haus der Zentralstation; daneben, hoch über die halb verwehten Depots aufragend, die meteorologische Hütte mit dem aufgesetzten Signalturm.

Bisher hatten wir den Hunden immer die Schnauzen verbunden; aber allmählich wurde die Oberseite davon wund. Die Hunde begannen zu beißen, und wir mußten darauf verzichten. Nun nahm das Geschirrfressen überhand; da unsere Ersatzvorräte zu Ende gingen, konnten wir uns nur dadurch helfen, daß wir allen Hunden die Geschirre während der Ruhe abnahmen. Das ging ganz gut, bis die scharfe Kälte ihren Heißhunger weckte, sie an das Zelt trieb und zu Einbruchsversuchen veranlaßte.

Die Arbeit hatten wir so verteilt, daß Wegener die Zeltarbeit (Reif abfegen, Einrichten, Kochen) zufiel, während ich und Rasmus die Hunde versorgten. Wegener richtete sich beim ersten Morgengrauen auf; er brauchte von uns dreien bei weitem am wenigsten Schlaf. Wenn er uns weckte, war das Frühstück schon fertig. Leider waren die Tage schon so kurz, dauerten die Morgenarbeiten trotz des besten Willens so lange, daß wir stets bis in die Dunkelheit hinein fahren mußten. Die ganze Zeltarbeit war dann in Dunkelheit und Schneefegen zu leisten, die Beschäftigung mit den verknoteten, vereisten Zugleinen war sehr schwierig und nicht ungefährlich.

Trotz günstiger Witterung kamen wir am 14. Oktober nicht von km 200 fort, weil einige kleinere Arbeiten, Registrierinstrumente in Gang setzen, Neuordnen der Depots, Hunde schlachten, zuviel von der knappen Tageszeit wegnahmen.

Am 15. Oktober kamen wir bei schönem Wetter (20 bis 25 Grad, schwacher Wind) gut voran.

Am 16. Oktober passierten wir km 230. Wir beschlossen, da der Fortschritt von 13 Kilometer täglich unserm Plane entsprach, weiterzureisen. Der Rückweg schien jetzt abgeschnitten, denn der letzte Proviant, abgesehen von dem unangreifbaren Notproviant, lag bei km 62.

Wir sprachen oft davon, ob Sorge und Georgi wohl »Eismitte« verlassen würden. Wegener hoffte, sie würden es nicht tun, während ich glaubte, daß sie der brieflichen Mitteilung entsprechend auch dann abmarschieren würden, wenn sich inzwischen die Möglichkeit des Verbleibens herausgestellt hätte. Wegener wünschte, daß Georgi und Sorge sich, auch wenn wir sie beim Rückmarsch träfen, zur Umkehr entschließen möchten, damit er zu den Arbeiten an der Weststation zurückkehren könne. Andernfalls wollte er selbst mit mir dort die Überwinterung versuchen. Jedenfalls aber meinte er, daß die Unsicherheit über das Schicksal der Besatzung von »Eismitte«, die durch unsere Umkehr entstehen könnte, die Winterarbeiten an der Weststation in unerträglicher Weise stören würde. Wir sollten daher, wenn überhaupt die Möglichkeit dazu bestände, alles daransetzen, Verbindung mit Georgi und Sorge aufzunehmen.

Auch weiterhin verlief die Reise planmäßig. Am 20. Oktober, dem Abmarschtermin Sorges und Georgis von »Eismitte«, erreichten wir km 292. Wir rechneten damit, sie am 24. Oktober bei km 335 zu treffen. Das Wetter war angenehm, Temperaturen zwischen -20 und -30 Grad bei meist schwächerem Wind. Wir hatten als Nutzlast nur noch einen Dunk Petroleum (40 Liter), ein Zweimannzelt, einen Segeltucheimer, eine Schaufel und eine Laterne. Das Schicksal wollte es, daß von diesen nach langer Überlegung ausgewählten Sachen dann im Winter außer der Laterne nichts benutzt wurde.

Die Schlittenbahn blieb brauchbar bis etwa km 280. Von da ab wurde sie noch besser, und ab km 360 war die windgepreßte Harschkruste vielfach so hart, daß sie die Hunde und selbst einen Fußgänger gut trug. Die Vertiefungen zwischen den flachen Wehen waren allerdings mit weichem, mehligem Schnee gefüllt, der die Schlitten stark bremste. Diese Schneebeschaffenheit war eine große Überraschung; mußte man doch nach den Erfahrungen früherer Expeditionen im Innern des Inlandeises stets tiefen, losen Schnee erwarten.

Trotz hinreichender Fütterung und leichter Last begannen die Hunde infolge der langen Dauer der Schlittenreise zu versagen. Rasmus fuhr immer voraus, trotzdem er jetzt am schwersten geladen hatte. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Grönländer, obwohl sie die Hunde bedeutend weniger schonten, z. B. fast nie vom Schlitten abstiegen, doch häufig weniger Hunde verloren als wir. Vielleicht erhielten wir gewöhnlich die weniger leistungsfähigen Hunde, wofür uns der Blick mangelte, vielleicht wissen sie die Anstrengung gleichmäßiger auf die Hunde ihres Gespanns zu verteilen. So brachte Rasmus neun von seinen zehn Hunden nach »Eismitte«, Wegener fünf, ich sechs.

Unser Zeug wurde allmählich naß. Die fortwährende Arbeit an den Zugleinen führte bei mir zu leichten Erfrierungen an den Fingern, die zwar unbedenklich waren, aber stark schmerzten. Auch meine Füße waren ein wenig mitgenommen. Wegener, der größere Erfahrung und für Polarreisen geeignetere Konstitution besaß, hatte Erfrierungen bis jetzt vermieden.

Bei täglichen Märschen von etwa 15 Kilometer erreichten wir km 335 am 24. Oktober. Hier blieben wir am 25. Oktober liegen. Wir erwarteten an diesem Tage bestimmt Georgi und Sorge; und da jetzt die Temperatur auch tagsüber unter 40 Grad lag, hatten wir keine Lust, gegen den recht merklichen Wind zu reisen. Wir gingen bei Dämmerung, die nun schon gegen 4 Uhr nachmittags eintrat, nachdem der Wind abgeflaut war, zusammen spazieren und blickten noch immer nach Osten. Aber nichts zeigte sich. Der leichenfarbene Erdschatten hob sich über der weißmatten Unendlichkeit. Während wir vor unserm Zelt hin und her stampften, sprach Wegener, aufgeschlossen, wie wir ihn kaum je sahen, von seinem Glauben an den Sinn der menschlichen Entwicklung, an die Erlösung der Menschheit durch die Erkenntnis, an der mitzuwirken die Richtschnur seines Handelns sei. Als es darüber dunkel geworden war, Schlitten, Hunde und Zelt als schwarze Schatten unter dem funkelnden Sternenhimmel lagen, leitete über uns, ein Symbol solchen Glaubens, der glänzende Bogen des Nordlichts den Blick auf seinen farbigen Bändern, längs seiner verschlungenen Formen ins Unendliche.

Wir sprachen lange über unsere weiteren Entschlüsse. Rasmus war schon bei km 300 verzweifelt und hatte Umkehr gewünscht. Wir hatten ihn auf das Zusammentreffen bei km 335 vertröstet. Da nun Georgi und Sorge nicht gekommen waren, die uns bei pünktlichem Abmarsch und einigermaßen günstigem Marschtempo jetzt hätten erreichen müssen, glaubte ich, sie hätten entgegen ihrer Mitteilung den Entschluß gefaßt, die Überwinterung in »Eismitte« zu versuchen. Wir dürften es daher nicht verantworten, Rasmus wider seinen Willen weiter mitzunehmen. Wegener dagegen wollte so nahe dem Ziel von Umkehr nichts wissen. Den Ausschlag gab schließlich Rasmus, der sich abends plötzlich selbst zur Weiterreise bereit erklärte.

Der Weitermarsch wurde eine »Flucht nach vorn«, vor allem des Hundefutters wegen; denn wir marschierten von km 335 mit nur zweieinhalb Futterrationen ab. Die Temperaturen hielten sich von jetzt ab dauernd um -50 Grad. Die Temperaturmittel der letzten Tage vom 26. bis 30. Oktober lagen sämtlich unter 50 Grad Kälte. Die ausgeatmete Feuchtigkeit gefror sofort zu kleinen Eiskristallen, und da bei der niedrigen Temperatur die Luft ständig mit Wasserdampf übersättigt war, bildeten sich dann überall in der Umgebung neue Kristalle, ähnlich wie eine unter 0 Grad abgekühlte Wassermasse plötzlich in Eiskristallen zusammenschießt, wenn man ein einzelnes Eiskristall hineinwirft. So war die Karawane ständig in eine kilometerlange Wolke gehüllt. Jedes festere Anfassen war unangenehm, unangenehm das Aufschlagen des Zeltes in der Dunkelheit, unangenehm der nächtliche Reifregen im Zelt, eine Plage das Ordnen der Zugleinen, das mit bloßen Händen und den Zähnen gemacht werden mußte. Eine Plage war das Hundefutterverteilen; der wasserhaltige Pemmikan war so hart wie Stein und konnte kaum mit der Axt zerschlagen werden. Die Hunde, von der Kälte schwer mitgenommen und nicht allzu reichlich gefüttert, suchten nachts immer wieder ins Zelt einzubrechen.

Auch im Zelt, wo selbst bei brennendem Primus eisige Kälte herrschte, war es ungemütlich. Der morgendliche Aufbruch dauerte trotz besten Willens stets eine Ewigkeit, denn der Entschluß, in die Kälte hinauszugehen, wurde im Unterbewußtsein möglichst lange hinausgeschoben. Alle Augenblicke mußte man von den Außenarbeiten des Zurrens und Anschirrens ins Zelt flüchten. Und war es dann so weit, so ließen sich trotz aller Mühe die Hunde kaum gegen den herrschenden Ostwind in Gang bringen. Wegener war bewundernswert in der Energie, mit der er morgens als erster aufstand, in der Geschicklichkeit, mit der er, obwohl er viel mit bloßen Händen arbeitete, Erfrierungen zu vermeiden wußte. Auch Rasmus hielt sich unter diesen schwierigen Umständen hervorragend. Es wäre für uns ganz unmöglich gewesen, die Hunde, ohne daß er vorausfuhr, gegen Wind und Kälte vorwärtszubringen. Er wußte die seinen immer noch in Gang zu halten. Dabei hatte er nun fast die ganze Nutzlast auf seinem Schlitten. Hier im Innern, wo es weniger geschneit hatte, war die Flaggenmarkierung noch gut kenntlich.

Am 27. Oktober abends bemerkte ich, daß meine Zehen an beiden Füßen ganz empfindungslos waren. Wegener begann sofort, sie stundenlang zu massieren, und setzte das auch in den nächsten Tagen an jedem Morgen und Abend fort. Aber es war zu spät. Die Blutzirkulation ließ sich nicht wiederherstellen. Während der Reise war ich allerdings dadurch gar nicht gestört. Ich konnte ganz ungehindert gehen.

Am 28. Oktober verbrauchten wir bei km 376 die letzte halbe Portion Hundefutter. Am 29. wollten wir von hier aus unbedingt km 395 (»Eismitte«) erreichen. Aber wir mußten, da wir die Fahnen in der Dunkelheit verloren, bei km 391 liegenbleiben. Wir hatten bei km 390 unsere ganze Nutzlast zurückgelassen. Am Morgen des 30. Oktober hatten wir nicht einmal Petroleum. Wir erwärmten den letzten Proviantrest, ein wenig Blutpudding, über Hartspiritus. Dann legten wir bei -52 Grad im Nebel die letzten Kilometer zurück. Rasmus voran, dann Wegener und schließlich ich. So trafen wir am 30. Oktober, 11 Uhr vormittags, bei Station »Eismitte« ein. Von Georgi und Sorge empfangen, krochen wir in die Firnhöhle hinunter, die uns paradiesisch vorkam, und saßen ein Weilchen ganz benommen in der Wärme von -5 Grad.

Wegener war in ausgezeichneter Verfassung, lebhaft und stolz, diese Schlittenreise glücklich durchgeführt zu haben, und auch körperlich bis auf eine kleine Frostblase an einem Finger völlig in Ordnung. Auch Rasmus war in gutem Stand. Ich fühlte mich etwas schlapp und kroch nach einigen Stunden in den Schlafsack, in dem ich dann über ein halbes Jahr verbracht habe.


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