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Die Sünde des Skribarius

Zu den größten und bedeutendsten Abteien des Mittelalters gehörte unzweifelhaft die Benediktiner-Abtei von M. Gladbach.

Weithin erstreckte sich ihr Ansehen ob der Frömmigkeit, Gelehrsamkeit und Kunstfertigkeit der Mönche. Diesem Ordenshause stand bekanntlich zu der Zeit der fromme und gelehrte Abt Peter Sibenius vor. Das Kloster und die Münsterkirche galten bis zum Dreißigjährigen Kriege als die reichsten und herrlichsten Gebäude im Rheinlande. Meisterwerke der Bildhauerkunst sowie der Malerei bedeckten Wände und Nischen; kostbare Reliquienschreine, mit Edelsteinen geschmückt, bildeten den Schatz der herrlichen Münsterkirche.

Inmitten dieses Kunstreichtums, den die Mönche teils geschenkt und teils selbst angefertigt hatten, führten diese selbst ein äußerst einfaches und strenges Leben. In Gebet, Arbeit und Studium verbrachten sie ihre Tage, sogar die wenigen Stunden der Ruhe wurden um Mitternacht durch Psalmengesang unterbrochen.

Aus der Abtei gingen auch zahlreiche jener kostbaren, ja unschätzbaren Handschriften hervor, die noch heute unsere Bewunderung erregen, ohne daß wir sie je nachahmen könnten.

Abt Sibenius, ein Mann von großer Gelehrsamkeit und Kunstverständnis legte viel Gewicht auf die Arbeiten seiner Mönche und leitete dieselben mit Sachkenntnis und Sorgfalt. Schon manche berühmte Handschrift und mancher Prachtband waren in der Kunstwerkstätte seiner Abtei hergestellt worden, denn, obgleich man schon überall gedruckte Bücher haben konnte, so wurden doch noch eine Zeit lang die alten kostbaren Handschriften erneuert und abgeschrieben und an andere Klöster versandt oder der Bibliothek einverleibt.

Es waren stets zwanzig Mönche in dem geräumigen Schriftsaal beschäftigt. Damit sie die nötige Ruhe hatten, durften nur der Abt, der Prior, Subprior und Bibliothekar diese der Kunst geweihten Räume betreten. Einige Uhren (Nürnberger Eier) Nürnberger Eier. So wurden die ersten Taschenuhren genannt. Die Erfindung der Uhren im späten Mittelalter war auf das Leben und die Wissenschaft von sehr großem Einflusse., mächtige Lampen, Schreibpulte und Bänke, nebst einigen wertvollen Gemälden und Zeichnungen bildeten die ganze Ausstattung und den Schmuck des Schriftsaales.

Die Mönche saßen da in Gruppen eingeteilt. Jeder hatte seine besondere Arbeit. Die einen mußten die Pergamenthäute schneiden, die andern, ein halbmondförmiges Schabeisen zur Hand, schabten die Blätter, glätteten sie mit Bimsstein und fuhren dann mit Kreide darüber, um dem Pergament eine weiße, helle Farbe zu geben. Waren Löcher und Risse vorhanden, so mußten sie zusammen genäht werden, was mit feinen, bunten Seidenfädchen geschah. Wieder einer andern Gruppe kam das Liniieren zu. Mit dem Zirkel wurde da das Pergament nach genauer Abmessung durchstochen und darüber die Linien gezogen. Darauf kam das Pergament in die Hand der Schreiber, welche die Abschreibearbeiten ausführten. Die Schreiber gaben es dann weiter an die Leser, die das Werk fehlerfrei zu halten hatten, und endlich übernahmen die Künstler die mühselige Arbeit der Ausschmückung durch Malen und Zeichnen der Initialen Initialen sind schön geschmückte Anfangsbuchstaben.. Es erübrigte alsdann nur mehr den Brüdern Buchbindern, die Blätter zu sammeln, zusammenzuheften und je nach dem Werte der Handschrift einen mehr oder minder kostbaren und künstlerischen Einband anzufertigen. Auf diese Weise entstanden jene unschätzbaren Bibeln, Erbauungs- und Meßbücher, die noch heutzutage hier und da existieren und zeugen von der hohen Entwickelung damaliger klösterlicher Kunst. Außer den Mönchen gab es allerdings auch unter den Laien einige, die die Schreibkunst erlernt hatten und berufsmäßig ausübten. Sie waren indessen sehr selten und galten als Künstler im eigentlichen Sinne.

In der Abtei war Bruder Alberich der Einzige, welcher das Talent des Schreibers mit der Kunst des Zeichners und Malers vereinigte. Soeben hatte er für den Abt ein neues Meßbuch vollendet, an dem er wohl 5 Jahre geschafft hatte. Gänsekiel und Pinsel hatten die Produkte seiner reichen Phantasie auf die pergamentenen Blätter gebannt. Blumen und Früchte, Pflanzen und Tiere, Vignetten und Wappen boten sich in buntem Gemenge dem Auge des Beschauers dar. Gold und Minium, Ultramarin und Karmin waren geschmackvoll verteilt. Nicht nur mit Fleiß, sondern mit einer wahren Hingabe und Freude am Schönen hatte er das herrliche Missale illustriert. Auf sein Werk hatte er die Geduld eines Heiligen und jene bewundernswerte Ausdauer verwandt, die man den Mönchen des Mittelalters und namentlich den Söhnen des hl. Benedikts nachrühmt.

Als das mühevolle und kunstreiche Werk des Bruders Alberich vollendet vor den Augen des Abtes lag, da kannte dessen Entzücken und Bewunderung keine Grenzen, und im Übermaße seiner Freude umarmte er den Schreiber und nannte ihn die Zierde des Klosters. Dann hieß er ihn am Ende des Buches das strenge Anathem hinzusetzen:

»Wer sich dieses Werkes räuberisch bemächtigt, sei aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen!«

In jener Zeit, wo die Handschriften, Malereien und Zeichnungen noch durch ihre Seltenheit, durch den Aufwand an Zeit und Mühe einen so großen künstlerischen Wert darstellten, waren derartige Schlußformeln nicht selten. Bei geringern Werken schon pflegte der Abschreiber am Schlusse zu versichern: »Wer nicht zu schreiben versteht, der glaubt wohl, es sei keine Arbeit. Nur drei Finger schreiben, doch müht sich dabei der ganze Körper ab.«


Am anderen Tage befand sich Abt Sibenius wieder bei Bruder Alberich im Schriftsaal. Vor ihm lag in hirschledernem Einband und den silbernen Schließen das kostbare Meßbuch, in dessen Schönheit er sich nochmals vertiefte und dessen Einzelheiten er prüfte. Dann richteten sich seine Augen wohlgefällig auf den neben ihm arbeitenden Klosterbruder:

»Lieber Bruder,« sagte er, »morgen wollen wir das herrliche Werk feierlich in die Münsterkirche übertragen und auf einem Pulte öffentlich ausstellen, damit jedermann deine Kunst schätze und zur Erbauung und Belebung seines Glaubens darin blättern möge.«

In der Tat stellte Abt Sibenius Tags darauf nach der heiligen Messe das kostbare Missale auf dem Chore aus, wo es auf einem Pulte mit einem silbernen Kettchen befestigt wurde, alle Brüder waren bei diesem feierlichen Akt zugegen und dankten dem Herrn, der es Frater Alberich gewährt, diese großartige Arbeit zu vollbringen; dann verließen sie die Kirche, um den Meister zu seinem Kunstwerk zu beglückwünschen.

Die Kirche war jetzt leer. Ein graues Zwielicht umhüllte den Altar. Frische Blumen, von frommen Händen in Vasen gestellt, erfüllten den Raum mit ihrem Dufte. Durch die hohen Glasfenster fiel ein magischer Schein und warf bunte Reflexe auf den Steinboden.

Aus dem Dunkel des Seitenganges trat jetzt geräuschlosen Schrittes und ängstlich umherspähend, eine Gestalt hervor. Es war ein junger Mensch mit blassem Gesichte, abgehärmten, von Krankheit und Kummer entstellten Zügen. Leise näherte er sich dem zu Schau gestellten Missale und begann mit fieberhafter Hast darin zu blättern. Betrachtend und bewundernd stand er still, wobei sich Rufe des Entzückens seiner Brust entrangen, dann klägliche Seufzer, bis er endlich vor sich hinstarrte und seine Augen sich in's Leere zu verlieren schienen.

Nun schaute er auf. Sichtliche Erregung malte sich in seinen Zügen, wie wenn er einen inneren Kampf mit sich selber kämpfte. »Ach, dieses Buch,« stammelte er endlich, »was würde Jonas nicht dafür geben! Bei Gott, das ist mehr wert als zwanzig Goldstücke – vielleicht das Doppelte, Dreifache!«

Es kam ihm eine Idee. Rasch langte er in die Tasche, zog ein Stückchen Pergament hervor, und begann darauf in Eile Arabesken, Blumen und Vögel zu skizzieren. Zwei Stunden hatte er so rastlos gearbeitet, als er die Hand sinken ließ und entmutigt seufzte: »Da müßte ich wohl an die hundert Tage arbeiten, und wäre doch nicht imstande, das großartige Werk nachzuahmen; ich müßte es stets vor mir haben, um es zu betrachten und mit Muße zu kopieren zu können!«

Heinrich, so hieß der junge Mann, war ein gewandter Skribarius aus der Stadt. Schon von seinem Vater herangebildet, hatte er früh die Geheimnisse der Schreibkunst kennen gelernt. Der Vater, ein Künstler ersten Ranges, war zu Düsseldorf gestorben, und da er nur Kunstwerke geschaffen und diese immer auswärts verkaufen mußte, sodaß er kaum mehr verdiente, als der Tag verzehrte, – hatte er nur wenig vor sich gebracht und infolgedessen seinem einzigen Sohne außer einem geachteten Namen und einer treuliebenden Mutter nichts hinterlassen. Heinrich hatte am Sterbebette seines Vaters gelobt, nur für seine Mutter zu leben und für diese zu sorgen, und in der Tat war er dieser Pflicht seit Jahren treugeblieben. Er arbeitete emsig an ihrer Seite und verschaffte auf diese Weise sich und ihr ein behagliches Dasein, bis eine langwierige Krankheit der Mutter nicht nur die Bedürfnisse verdoppelte, sondern ihn selbst an der Arbeit hinderte. Mannhaft kämpfte er gegen das Unglück an. Am Tage malend, des Nachts schreibend, vollführte er wahre Wunderwerke kindlicher Liebe. Da erfaßte aber eines Tages auch ihn das Fieber und schüttelte ihn derart, daß der zitternden Hand der Pinsel entfiel. Dennoch mußte er arbeiten, um zu leben; schaffte er nicht, so mangelte es bald an Brot und den notwendigen Arzneien für die geliebte Mutter. Nun geschah es, daß der Händler Jonas in der Jüddenstraße bei ihm ein Missale für einen reichen Adeligen bestellte, der damit ein Kloster bedenken wollte. Dieses Missale sollte kostbar ausgeführt und in Jahresfrist beendet sein, dann würde dem Schreiber der vereinbarte Lohn von zwanzig Goldstücken zuteil werden. Wie sollte es Heinrich aber nur anfangen, ans Werk zu gehen, da die Pflege, welche die Krankheit seiner Mutter erheischte, ihm keine Muße zur Arbeit ließ, anderseits er selbst fühlte, daß er am Ende seiner Kräfte war! Die Zeit aber ging unaufhaltsam dahin, und immer näher rückte der Termin. Erst zehn Blätter hatte er vollendet, das Geld war zu Ende, und noch sechs lange Monate gähnten, bis neues in Sicht war. Vergebens mühte sich der Künstler ab, sein Können versagte, die Schaffensgabe schwand, – er hatte keine Gedanken mehr. Was sollte nur aus ihm und seiner Mutter werden, hatte er sich ängstlich gefragt, als er eben erfuhr, das neue herrliche Missale, an welchem Bruder Alberich volle 5 Jahre gearbeitet, sei vollendet und in der Klosterkirche zu sehen. Zwar freute sich Heinrich hierüber, denn erstens war er zu sehr Künstler, um sich nicht für etwas derartiges zu begeistern, zweitens hoffte er durch diese großartige Arbeit zu neuen Entwürfen angeregt zu werden. O, wie viele tausendfältige Arabesken vermochte einst seine Phantasie hervorzuzaubern, die sich dann zu jenen Vignetten verwebten, die ihm stets so gut gelangen. Nie hätte er einer fremden Anregung bedurft! Nun aber war es leer geworden in seinem Gehirn: es war erschöpft und brachte nichts mehr hervor.

»Sei getrost, liebe Mutter,« hatte er gesagt, »heute hole ich mir neue Gedanken, und dann geht's frisch und munter an die Arbeit; dann sind wir wieder gerettet!«

»Ach,« seufzte die Kranke, »ich bin es, die deine Gesundheit und Tatkraft gelähmt hat, denn auch du armer Junge bist krank und schwach geworden. Möge Gott es dir vergelten, was du an deiner Mutter getan!«


Wir haben gesehen, welchen Eindruck das Missale des Bruders Alberich auf den jungen Skribarius gemacht. Jetzt, in der Abenddämmerung, treffen wir ihn wieder in der Klosterkirche, an eine Säule gelehnt. Vom Altare her drang der Duft von Weihrauch und verlöschten Kerzen. Das ewige Licht vor dem Tabernakel glomm auf und warf einen spärlichen Schein auf die steinernen Heiligenbilder an der Wand. Gespenstisch huschte es über die Gestalt des junges Mannes, der, als ob er selbst zu Stein erstarrt, regungslos da stand.

Jetzt ertönte das Glöcklein und die Mönche kamen zur Komplet herein. Heinrich schrak zusammen und zog sich in den Schatten der Säule zurück. Warum verbarg er sich? Warum verließ er nicht vielmehr das Gotteshaus, das zu dieser Stunde von niemand, außer den Mönchen betreten wurde?

Längst hatten die Brüder wieder die Kirche verlassen, nur Abt Sibenius kniete noch in Andacht versunken in einem Chorstuhle. In seinem dunklen Habit, die Kapuze über den Kopf gezogen, unterschied er sich kaum von den geschnitzten Figuren des Chorstuhles. Er betete lange und innig. Plötzlich streifte ein leises Geräusch sein Ohr. Dem frommen Abt fiel dies nicht besonders auf. Vielleicht war es ein junger Novize, gekommen, der holden Himmelskönigin in der Krypta einen letzten Scheidegruß zu bringen. Da – wieder dasselbe Geräusch! Abt Sibenius hob den Kopf. Ihm war, als sähe er eine Gestalt dort an der Wand des Chores, wie sie sich langsam fortbewegte, vorsichtig spähend, bald nach links und bald nach rechts, ob nicht ein Zeuge sie gewahre. Es war Heinrich. In dem schwachen Schimmer der Gotteslampe hatte ihn Sibenius erkannt und schmerzliches Erstaunen malte sich auf dessen Zügen. Heinrich schlich heran. In seinem verzerrten Gesichte starrten seine Blicke wie gebannt in das Dunkel. Es war, als folge er willenlos einer geheimnisvollen Macht, die ihn vorwärts triebe. Vor dem Pult machte er halt. Ein Zittern ging durch seine Gestalt. Seine Hände tasteten nach dem kostbaren Buche, doch erschreckt fuhr er zurück. Dann aber siegte der Dämon und mit dem Mute des Verbrechers riß er das Buch von der Kette, an die es befestigt war. Jetzt tönten vom Turme her dumpf die Stundenschläge der Uhr, und wie von Furien gepeitscht, seinen Raub an sich drückend, stürzte Heinrich zur Kirche hinaus.

Von seinem Chorstuhle aus hatte Abt Sibenius dem Vorgang zugesehen. Entsetzt über das gottesräuberische Vorhaben des jungen Mannes wollte er auffahren und demselben Einhalt gebieten. Aber ein unerklärbares Gefühl lähmte seinen Willen und eine innere Stimme hielt ihn zurück.

Dann erhob er sich. Seine hohe Gestalt wankte und ein Stöhnen entfuhr seinem Munde. Er kam sich fast wie der Mitschuldige vor an einer Tat, die er hätte verhindern können. In tiefster Erregung und Betrübnis warf er sich vor dem Altare nieder.

»O Herr,« flehte er, »Du hast sterbend noch dem Schächer verziehen, führe auch diesen armen Sünder in Deiner unendlichen Barmherzigkeit zu Dir zurück. Ich will Deine Gerechtigkeit nicht beschleunigen. Wer weiß, o Gott, welche Absichten Du mit dem jungen Menschen hast. Wir sind alle Sünder und der Gerechte fällt zehnmal am Tage. Allerdings ist das Buch ein Kunstwerk, die Frucht langjährigen Fleißes eines unserer besten Brüder, ein Buch, dessen Wertes sich der junge Mensch kaum bewußt ist. Eben darum darf ich auch nicht so streng mit ihm ins Gericht gehen!«

Diese milde Beurteilung einer so frevelhaften Handlung seitens des Abtes entsprang vielleicht dem unbestimmten Gefühl, es könne sich hier nur um eine augenblickliche Verwirrung der Sinne handeln, da ihm doch Heinrich als einer der unbescholtensten und bravsten Jünglinge seiner Gemeinde bekannt war.

Er beschloß daher, zunächst abzuwarten und sich im Geheimen zu erkundigen, was Heinrich mit dem Buche beginnen würde. »Herr, erbarme Dich des jungen Sünders!« Mit diesem Seufzer betrat der fromme Abt sein Schlafgemach und im Gebete flehte er noch lange zu Gott, daß dieser den Verirrten wieder zurückführen möge.

Am nächsten Morgen verfügte sich der Abt in den Schreibsaal.

»Bruder Alberich,« sprach er, »eine schwere Prüfung ist über dich gekommen. Diese Nacht haben frevelnde Hände das neue Meßbuch geraubt an dem du solange geschafft hast – – –!«

Alberich erblaßte. Schmerz und Unwille zuckten in seinem Gesichte. »Das Missale?! O Gott!« stieß er hervor und seine Augen richteten sich verständnislos auf den Abt, als begriffe er nicht, was dieser ihm sagte.

»Es ist leider so, wie ich sage,« fügte Sibenius hinzu, indem er begütigend die Hände des jungen Ordensmannes ergriff. »Fasse dich mein Sohn, die Tat ist geschehen und dir fällt nun die Aufgabe zu, dem Kloster ein neues Buch zu schaffen. Der Herr gebe dir den Mut und die Kraft dazu!«

Seine Bewegung niederkämpfend, neigte Alberich sein Haupt, küßte demütig die Hand des Abtes und verließ dann ohne eine Widerrede oder irgend eine Frage zu tun, die soeben begonnene Arbeit um sich von neuem an ein Werk zu begeben, woran er fünf Jahre seines Lebens verwandt hatte.

Als Heinrich mit seinem Schatze das Freie gewonnen hatte, eilte er nach Hause. Die Mutter war über sein spätes Ausbleiben ängstlich geworden; jetzt schloß sie ihn in ihre matten Arme. »Wenn sie es wüßte,« dachte er, und das böse Gewissen regte sich. Dann beruhigte er sie und sagte ihr, daß er in den nächsten Tagen zu Geld kommen würde. Hierauf begab er sich in seine Schreibstube, prüfte mit Kennerblicken das kostbare Buch und überließ sich seiner Bewunderung. »Welch ein Werk!« rief er aus. »Nie habe ich ein solches gesehen! Aber, bei Gott, ich werde ein gleiches schaffen, werde es kopieren bis ins Kleinste! Bruder Alberich soll 5 Jahre daran geschafft haben – –! Freilich, diese Mönche in ihrer beschaulichen Ruhe und der Stille ihres Klosters können sich die Zeit dazu nehmen. Nichts treibt sie. Sie kennen weder Not noch Nahrungssorgen. Langsam, mit Engelsgeduld, schaffen sie ihre Werke, ohne daß ihnen ein Zeitpunkt gesetzt ist, an dem sie ihre Arbeit abzuliefern haben – –«

»Ich dagegen,« fuhr er in jugendlichem Überschwange fort, »werde schneller arbeiten. Fünf Jahre! Die werde ich nicht brauchen – ei was! In sechs Monaten längstens denke ich damit fertig zu sein. Und dann« – seine Stimme sank zu einem Flüstern herab – »dann werde ich das Buch dem Kloster zurückgeben. Ja, das werde ich tun –!« bekräftigte er, wie um sein Gewissen zu beruhigen.

»Ach, früher hätte ich das nicht nötig gehabt, wo ich noch selbständig schaffen und etwas leisten konnte, aber nun ist's, als ob ich jede Fähigkeit dazu verloren hätte. Einst bewunderte man mein Genie und nannte mich einen Künstler, und heute – was bin ich heute geworden? Ein elender Kopist und – ein Dieb! Jawohl, ein Dieb!« fuhr er in bitterer Selbstanklage fort, »denn selbst, wenn ich das Buch zurückgebe, so habe ich mir doch den Inhalt, das geistige Eigentum Bruder Alberichs angeeignet, also – gestohlen!«

»Gott sei mir gnädig! Ich tat es um der Mutter willen. – Sterbend hat der Vater zu mir gesagt: ›Junge, versprich mir eins: Bleibe bei deiner Mutter und sorge für sie, solange du lebst!‹ Das habe ich getan. Jedes Opfer habe ich ihr gebracht. All die Jahre habe ich bei ihr ausgeharrt, geschafft und gedarbt. Meine Gesundheit ist darüber zu Grunde gegangen und ich bin krank und siech geworden. Und nun habe ich etwas getan, was weder der Vater noch die Mutter von mir verlangt hätten, etwas, das mein eigenes Gewissen verdammt –!«

Heinrich schlug sich die Hände vor's Gesicht und weinte. Dann hob er die Augen und versenkte sich wieder in das wunderbare Werk, dessen buntbemalte Blätter ihn anzogen, mit magischer Gewalt. Ehrfürchtig, fast zärtlich berührten seine Finger die Seiten.

»Wunderbar – unvergleichlich!« murmelte er leise.

»Oh! wenn es mein wäre, ich würde – –« »Ja, ist es denn nicht dein, du Thor!?« raunte der Versucher. »Wer hindert dich, es zu verkaufen?«

Er blätterte weiter. Dann hielt er plötzlich inne und seine Augen stierten entsetzt auf die schreckliche Schlußformel. Ein Zittern befiel ihn und mit einem Aufschrei schlug er das Buch zu.

Wehe! Das war der Fluch, der sich an seine Tat heftete, und dem er nun nicht mehr entrinnen würde!

Er seufzte tief auf. Wo war die Zeit, da er noch, in kindlicher Unschuld lebend, zu Füßen der Mutter saß, die ihm die Bildchen, womit sein Vater die Handschriften schmückte, erklärte! Alle Vöglein schienen ihm da zuzuzwitschern, alle Blümlein zuzunicken, alle Heiligen ihm zuzulächeln und heute –! Reuetränen entstürzten seinen Augen, – heute zürnten ihm die Heiligen und fluchte ihm die Kirche: er war aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen! – Es schien ihm, als hörte er die Pergamentblätter rauschen und knistern, rascheln und raunen, ihn seiner Schuld zeihend. Die gemalten Heiligenbilder schienen zu drohen, die phantastischen Tiergestalten ihn anzugreifen. Aus und vorüber war's diese Nacht mit dem Schlafen. Die goldenen, silbernen und karminroten Buchstaben tanzten vor seinem Geiste und verwirrten seine Gedanken. Einen Augenblick gedachte Heinrich, zur Abtei zu gehen, das Buch zurückzuerstatten und Abt Sibenius seine Schuld zu bekennen. Aber die Mutter lag sterbensmatt auf ihrem ärmlichen Lager. Heinrich hörte ihren pfeifenden Atem, ab und zu von Hustenstößen unterbrochen, die ihre wunde Brust erschütterten. In der Nacht fuhr er plötzlich empor. Ein dumpfer Schmerzenslaut war an sein Ohr gedrungen. Zur Mutter eilend sieht er, wie diese ein rotgefärbtes Tuch vom Munde abzieht und zu verbergen sucht. Gott im Himmel! Das war Blut, der Mutter Blut!

Heinrich starrt angstvoll auf die Kranke, die ihn hilflos ansieht und in ihre Kissen zurücksinkt.

»Mutter, was ist dir?« ruft er mit tränenerstickter Stimme, indem er sich verzweifelt über sie beugt.

»Nichts, mein Sohn,« flüsterte die Kranke, mit ihrer abgezehrten Rechten über sein Haar streichend, »nichts, – es geht schon wieder besser.«

Am anderen Morgen erhob sich Heinrich in aller Frühe. Eine düstere Entschlossenheit sprach aus seinen Zügen. Er ergriff das Buch, hüllte sich in seinen Mantel und schlug den Weg zur Judengasse ein.

Der Händler sah erstaunt auf, als er den jungen Skribarius erblickte.

»Was führt Euch denn so früh – – –!«

»Ich bringe Euch das Buch,« unterbrach ihn Heinrich hastig. »Bin eher damit fertig geworden, als ich dachte und Euch versprach – – –«

»Das Buch –? Wahrhaftig!«

Wie Geierkrallen langten die Finger des Juden nach dem kostbaren Bande.

»Ja, ich habe die Arbeit beschleunigt,« sagte Heinrich mit tonloser Stimme. »Beseht es Euch, es ist ein schönes Werk. – Gott allein weiß, was es mich gekostet hat – – –!«

Jonas durchblätterte prüfend das Buch. »Da ich Euch nun so pünktlich bedient habe,« fuhr Heinrich fort, »hoffe ich, daß Ihr mich auch sofort bezahlt. Denn ich bedarf dringend des Geldes. Meine Mutter liegt krank auf den Tod und es fehlt uns an allem – – –«

Der Händler betrachtete lange die Handschrift, dann fragte er den jungen Skribarius: »Wieviel habe ich Euch versprochen?«

»Zwanzig Goldstücke.«

»Das ist viel, in der Tat, sehr viel! Als ich Euch aber diese Summe versprach, glaubte ich, Ihr müßtet längere Zeit daran verwenden, und nun sind es kaum sechs Monate.«

»Gebt mir achtzehn Goldstücke und ich bin's zufrieden,« unterbrach ihn Heinrich hastig. »Ich sagte Euch schon, meine Mutter bedarf des Geldes, sie ist krank zum Sterben.«

»Ja, Ihr habt Eile, junger Mann, aber in Wahrheit bin ich nicht verpflichtet, Euch das Geld eher zu zahlen, als wir bedungen, – in sechs Monaten.«

»Aber es gebricht uns am Nötigsten!« drängte Heinrich.

»Kommt morgen wieder, und laßt mir die Handschrift zur Durchsicht,« entgegnete Jonas kalt.

Heinrich schlich betrübt von dannen, denn der Jude war unerbittlich. Zu Hause entnahm er seiner Lade sieben reich verzierte Blättchen, die sieben Bitten des »Vater unser« enthaltend und verschleuderte sie bei einigen Handwerkern um einen Reichstaler. Dann kaufte er einige Stärkungsmittel für die Mutter und ging nach Hause.

Allein geblieben betrachtete Jonas von neuem das wunderbare Buch und überlegte schmunzelnd, wie er es anstellen sollte, soviel wie möglich bei diesem Geschäfte herauszuschlagen. Dann begab er sich mit dem Buche zur Abtei.

»Mein Auftraggeber,« sagte er sich unterwegs, »erwartet das Buch erst nach einem halben Jahre – also habe ich Zeit – –!«

Im Kloster begehrte er den Abt zu sprechen.

»Ehrwürdiger Vater,« sprach er zu diesem, indem er die Seidenhülle, welche seinen Schatz barg, lüftete, »man hat mir dieses Werk um achtzehn Goldstücke zum Verkauf angeboten, – und da niemand von solchen Kunstwerken soviel versteht als Ihr, so möchte ich Euch fragen: – Ist es das wohl wert?«

Sibenius glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Das war ja –! Doch er bezwang sich und erwiderte mit feinem Lächeln: »Gewiß, es ist ein ausgezeichnetes Buch, schön geschrieben und herrlich verziert, Ihr lauft keine Gefahr, wenn Ihr es ankauft. Kommt dann wieder zu mir, vielleicht kann ich es für mein Kloster erwerben, ich werde Euch einen guten Preis dafür zahlen.«

Seelenvergnügt verließ Jonas das Kloster.

Am anderen Tage sprach Heinrich bei ihm vor. Zitternd fragte er den Juden, was er beschlossen hätte.

»Ich kann Euch nur fünfzehn Goldstücke bieten,« sagte dieser, »aber nicht mehr. Es ist nicht viel wert.«

»Fünfzehn Goldstücke nur!«

»Ich habe es jemand gezeigt,« sagte der Jude, »der sich auf Schreibarbeiten wohl versteht, und der sagte mir, daß, wenn ich Euch dies gäbe, ich nichts daran gewänne. Doch Ihr habt oft für mich gearbeitet, ich kannte Euren Vater und bin Euch gerne zu Diensten, das wißt Ihr wohl!«

»Ihr habt das Buch gezeigt?« fragte Heinrich erschrocken.

»O, seid außer Sorge, es ist ein verständiger und wohlwollender Mann, dem ich es gezeigt, – At Sibenius.«

»Abt Sibenius habt Ihr es gezeigt, – Abt Sibenius?« schrie Heinrich mit gellender Stimme.

»Ja.«

»Und sagte er Euch –?«

»Die Handschrift sei fünfzehn Goldstücke wert.«

»Ich rede nicht von dem Gelde, – hat Abt Sibenius Euch nichts über das Buch und den Schreiber gefragt?«

»Nein.«

»Nichts?« frug Heinrich mißtrauisch.

»Ihr lügt!«

Seine Blicke bohrten sich in angstvollem Zweifel in die lauernden Augen des Juden. Röte und Blässe wechselten auf seinem Gesichte.

Jonas sah ihn verständnislos an.

»Gott der Gerechte! Was soll er denn gefragt haben? Über Euch jedenfalls nichts, nur, – wie gesagt, – über das Buch – – Aber zur Sache. Wollt Ihr den Handel beschließen?«

»Fünfzehn Goldstücke bar!«

»Nein!« rief Heinrich jetzt, wie in plötzlichem Entschlusse. »Gebt her, – ich will nicht!«

Er riß ihm das Buch aus der Hand, klappte die Schließen zu, nahm es unter den Arm und schickte sich an, sich zu entfernen.

Verwundert rief der Jonas: »Ihr wollt nicht?«

»Nein.«

»Aber, junger Mann, so laßt doch mit Euch reden! Ihr werdet mich bei etwas anderem das verdienen lassen, was ich heute verliere. Ich gebe Euch denn ausnahmsweise Eure achtzehn Goldstücke.«

»Und ich sage Euch, es ist mir nicht mehr feil um all Eure Schätze insgesamt!«

»Da habt Ihr zwanzig Goldstücke!« kreischte der Jude und ließ dieselben klirrend auf den Tisch fallen.

Aber Heinrich stürmte hinaus, ohne auf das Geld und das Gekreisch des Juden zu achten, welcher jetzt dreißig Goldstücke zahlen wollte. Geradewegs begab er sich zur Abt. Er verlangte den Prälaten zu sprechen. Dieser erschien, würdevoll und ruhig, ein Lächeln des Wohlwollens auf den Lippen. Heinrich fiel vor ihm auf die Knie nieder.

»Vater! Vater!« stammelte er weinend, und hielt dem Abte das entwendete Missale hin.

Der Abt nahm es, küßte das Buch und gab es ihm wieder.

»Ich habe gesündigt vor Gott und Euch!« fuhr Heinrich unter Tränen fort.

»Ich vergehe Dir, mein Sohn.«

»O Vater, wenn Ihr wüßtet, was ich gelitten, wie ich gekämpft und mich gewehrt, bevor ich in meine Sünde gestürzt! – Meine arme Mutter liegt sterbenskrank danieder« – und er erzählte die erschütternde Geschichte seines Lebens und Leidens.

»Ich weiß – ich weiß heute, wie es mit dir und deiner Mutter steht,« sagte Sibenius. »Hätte ich es eher gewußt, hättest du dich mir eher anvertraut, so wäre es vielleicht nicht soweit gekommen, – deine Sünde wäre ungeschehen geblieben.

Nun höre! Dieses Buch sei jetzt dein eigen – –«

»Nein, nein!« rief Heinrich abwehrend aus, »nehmt es zurück, es war Gott geweiht. Nehmt es zurück! Ich würde sonst glauben, mein Verbrechen sei nicht getilgt. Als ich erfuhr, daß Jonas Euch das Werk gezeigt, da konnte ich nicht mehr an mich halten, die bitterste Reue erfaßte mich, und ich hoffte, Verzeihung zu erlangen. Nun wage ich mich vor Euer Angesicht, um Euch demütigst zu bitten, mir meine Schuld zu vergeben, und mich mit meinem Gotte auszusöhnen.«

»Mein Sohn, ich habe dich an jenem Abend beobachtet, als du das Buch vom Pulte nahmst; ich wollte dich nicht hindern, denn eine innere Stimme sagte mir, daß du zurückkehren würdest. Ich habe nur gefleht, die allerseligste Jungfrau möge fürbitten, daß dich der Fluch der Schlußformel nicht treffe.«

»Wie hab' ich soviel Güte verdient!« rief Heinrich beschämt und verwirrt, ergriff die Hände des liebevollen Abtes und bedeckte sie mit Küssen und Tränen der Dankbarkeit.

»Ach! laßt mich büßen, Vater, für meine Schuld,« flehte er, »denn sonst kann ich nimmer glauben, Vergebung zu erlangen. – Ja, stände ich allein im Leben, ich würde Euch bitten, mich unter die Zahl Eurer Novizen aufzunehmen, damit ich zeitlebens durch Verachtung der Welt meine Schuld sühne.«

»Die Pflicht ruft dich zu deiner Mutter. Ich verlange von dir nur vollkommene Unterwerfung unter meinen Willen. Sodann sollst du eine Kopie des Missale anfertigen. Deine Strafe wird darin bestehen, daß du das Buch stets vor Augen hast. Ist die Arbeit vollendet, so bringe sie mir. Während der Dauer der Zeit aber, welche du daran verwendest, soll dir monatlich von dem Kloster ein Goldstück zum Unterhalte für dich und deine Mutter verabreicht werden.

Außerdem soll sich unser Medikus deiner Mutter annehmen und ihr in ihrer Krankheit beistehen.«

Vor Rührung und Dankbarkeit überwältigt, wußte Heinrich nichts zu erwidern.

»Geh' jetzt, mein Sohn!« sagte Sibenius.

»Die erste Tugendübung eines Ordensmannes ist der Gehorsam! Geh' in Gottes Namen!«


Drei Monate später pochte Heinrich abermals an die Klosterpforte und verlangte nach dem Abte Sibenius.

»Ich habe keine Mutter mehr!« sprach er mit tränenerstickter Stimme.

Der Prälat zog ihn sanft in seine Arme.

»Komm,« sagte er, »dann sollst du in mir fortan einen Vater haben! Du hast jetzt genug gelitten und deine Tat ist gesühnt. Bringe nun das Missale an den Ort zurück, wo du es fortgenommen hast und bitte die Himmelskönigin, daß sie dich segne: du kehrst ja reumütig zurück!«

Der junge Mann kniete nieder und tat dann, wie ihm geheißen ward.

Am anderen Tage betrat Abt Sibenius mit ihm den Schreibsaal und sagte zu Frater Alberich: »Bruder, räume ihm einen Platz an deiner Seite ein, denn er ist nun ein Glied der Klostergemeinde geworden. Hoffentlich wird er dein gelehriger Schüler sein!« –


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