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Ein Findelkind.

Wir wollen jetzt zu unserer Familie zurückkehren. An einem Morgen, – es war im Dezember und sehr kalt, – sehen wir früh in der Dämmerung den Großvater und Meister Jakob mit seinem ältesten Sohne den Weg auf Gen-Holt zu schreiten, am Engelshof vorbei, bis sie im dichten Walde vor einem hölzernen Kreuze haltmachten. »Nun sage ich euch nochmals,« begann der Großvater, »schlaget nicht den Weg über Hilfart ein, ihr kommt an der Roer nicht durch in dieser Jahreszeit. Der Fuhrmann Klaas sagte mir, er habe einen großen Umweg machen müssen, weil die ganze Niederung von der ausgetretenen Roer überschwemmt sei. Es ist ja nach Gangelt über Linnich und Geilenkirchen ein weiter Umweg, aber der Weg ist doch gut. Hoffentlich habt ihr eure Beine geschmiert, damit ihr schnell vorwärts kommt!«

Meister Jakob versprach dem Großvater, seinen Rat zu befolgen und sein Sohn versicherte, er würde den Marsch schon aushalten und mit dem Vater heute noch bis Gangelt kommen.

»Aber Jungens,« sagte der Alte, »wenn man euch nun unterwegs anfällt und verhaut, wie es jetzt tagtäglich geschieht?«

»Dann werden wir uns schon wehren,« erwiderte Meister Jakob. »Ihr glaubt doch wohl nicht, daß wir dann stille halten und uns dreschen lassen – was meinst du, Jakob?« fuhr er fort, seinen Ältesten am Arme fassend.

»Ach, der Großvater will uns nur bange machen!« erwiderte dieser. »Er weiß gut, daß wir Knochen und Fäuste haben um uns zu wehren. Nicht wahr, Großvater, das war Spaß von Euch?«

»Diesmal nicht, mein Junge«, sagte der Alte mit halb besorgtem, halb wohlgefälligem Blicke die kraftvolle Gestalt seines Enkelsohnes musternd. »Ich weiß wohl, wenn es heißt dreinschlagen bist du mit dabei und fürchtest nicht einem wehe zu tun. Das hast du von mir – –! Aber trotzdem rate ich auch: Seid auf eurer Hut, denn es lungert hier allerlei Gesindel herum und was gibt so ein Buschklepper darum, auch aus dem Hinterhalte niederzuknallen ohne daß ein Hahn danach kräht! Seht euch also vor, denn dagegen helfen weder Fäuste noch starke Knochen!«

Im Waldesrande erhob sich ein großes Kruzifix.

»Kommt,« sagte der Großvater, »wir wollen ein Vaterunser beten für eine glückliche Reise!«

Alle drei knieten vor dem schlichten Kreuze nieder und beteten zusammen laut drei Vaterunser um eine glückliche Reise, dann reichten sie sich zum Abschiede die Hand, und der Großvater wünschte den beiden eine gute Reise, ermahnte den jungen Jakob, überall die Augen aufzutun und sich nicht vom Vater zu entfernen, was dieser auch versprach. Jetzt trennten sie sich. »Wollen sehen, ob ihr heute noch bis Gangelt kommt; es sind nämlich 13 bis 14 Stunden dahin!«

»Lebt wohl, Großvater!« riefen die Beide. »Wir werden's schon schaffen – Kerls wie wir!«

Bald waren sie den Blicken des Großvaters entschwunden, welcher stehen blieb, mit der Hand seine Augen beschattete und den beiden nachschaute. Dann kniete er nochmals nieder, betete ein Vaterunser für eine glückliche Heimkehr und ging in derselben Richtung wieder zurück. In Gedanken beschäftigte er sich mit der Reiseangelegenheit seines Schwiegersohnes, welcher den Sohn seines Lehrmeisters und Maastrichter Geschäftsfreundes Jan van Pooten in Gangelt treffen wollte, um dort ein Geschäft mit demselben abzuschließen. Der Sohn Jakob machte zum ersten Male diese Reise mit, auf die er sich schon lange gefreut hatte und war daher munter und guter Dinge.

»Hoffentlich wird ihnen nichts passieren,« murmelte der Alte indem er den Rückweg antrat. – Er ist noch ein stattlicher, rüstiger Mann, unser Großvater, groß und stark gebaut und hat eine stramme, stolze Haltung. Daß er ein Siebziger ist, sieht ihm niemand an. Er trägt einen schwarzen Lakenrock und Weste, kurze Hose und lange, graue Strümpfe, Schnallenschuhe und einen Hut mit breiter Krempe. Um den Hals hat er ein schwarzseidenes Tuch geschlungen, und beim Gehen stützt er sich auf einen derben Knotenstock. Sinnend schreitet er seines Weges. Niemand ist ihm bis jetzt begegnet, obgleich es schon heller Tag ist. Jetzt hört er ein Fuhrwerk auf dem holperigem Wege daherkommen, der von Rheydt an Gen-Holt vorbei auf Dahlen zuführt. Plötzlich bleibt das Gefährt stehen, und gleich darauf hört man zwei Leute schreien und fluchen, und dazwischen wurde mit der Peitsche geknallt. Der Großvater wandte sich um und schritt durch das Gebüsch, um aus den Weg zu kommen, wo das Fuhrwerk halten mußte. Hier stand ein schwer beladener, mit drei Pferden bespannter Karren, welcher nicht von der Stelle zu bringen war, da das Leitpferd nicht mehr vorwärts wollte. Die beiden Fuhrleute schlugen unbarmherzig mit dem Peitschenstiel auf das arme Tier ein.

»Schämt ihr euch nicht, Jungens, so ein Tier zu mißhandeln?« rief der Großvater, welcher nur durch einen Graben von der Straße getrennt war.

»Was geht das Euch an?« rief ärgerlich einer der Knechte, »oder versteht ihr es vielleicht, ein eigensinniges Pferd von der Stelle zu bringen?« Der andere schrie wütend: »Wenn Ihr Euch nicht fortmacht, Alter, so haue ich Euch auch ein paar um die Rippen, verstanden?«

»Oho,« rief der Großvater, indem er über den Graben sprang und hart an den Knecht, den er um Kopfeslänge überragte, herantrat. »Du willst mich um die Rippen hauen, Jüngelchen? Was meinst du denn, was ich während dieser Zeit tun würde? Ein alter Kriegsmann wird doch wohl noch mit einem bartlosen, grünen Jungen fertig werden – denke ich!«

Diese ernst gesprochenen Worte und das kühne Auftreten des Alten verfehlten ihren Eindruck nicht. Als der eine Bursche jedoch wieder Miene machte, das Pferd von neuem zu prügeln, erhob der Großvater den Knotenstock und sagte: »Wenn du jetzt noch einen Schlag tust, so haue ich dich nicht nur um die Rippen, sondern auch noch über deinen Schädel – verstanden?« »Und ich übernehme den andern wenn es sein muß!« rief eine Stimme dazwischen, welche einem kräftigen Bauern angehörte, der jetzt mit einem Holzscheit aus dem Gebüsche sprang und sich an die Seite des Großvaters stellte.

»Ah! du bist es, Hannes!« rief der Großvater erfreut.

»Jawohl ich bin's! Ich wollte heute dreschen, und da kommen mir die Burschen wie gerufen. Ich habe den ganzen Wortwechsel gehört und komme dir zu Hilfe, alter Junge!«

»Ich wäre auch ganz allein mit ihnen fertig geworden,« sagte der Großvater, »und zwar ohne Schläge, denn darauf werden es diese Jungen wohl nicht ankommen lassen!« Damit warf der Alte den beiden einen scharfen Blick zu.

Die zwei Knechte sahen ganz verblüfft drein, und der eine meinte, es sei so schlimm nicht gemeint gewesen. Auch der andere murmelte so etwas wie eine Entschuldigung in den Bart.

»Ja, ja,« meinte Hannes, »Gleich und gleich gesellt sich gern! sprach der Teufel zum Kohlenbrenner«. »Pferde mißhandeln, das könnt ihr, sonst aber seid ihr bange Zibbeln Zibbeln. Wer keinen Mut hatte, hieß ein Hundsfott oder ein Zibbel., und im übrigen solltet ihr euch schämen!«

»Nun wollen wir aber auch der Ursache einmal nachforschen, warum das Pferd nicht von der Stelle will,« sagte der Großvater. »Ist dieses das erste Mal, daß das Pferd so eigensinnig ist, Jungens?«

»Früher war es das nie,« erwiderte einer der Knechte, »aber jetzt in kurzer Zeit dreimal.«

»Und immer an derselben Stelle?«

»Immer an dieser Eiche!«

»So, – hm! Dann sieht oder riecht das Pferd etwas, wovor es scheut. Habt ihr dem Pferde nicht einmal die Augen verbunden?«

»Nein, – wir haben die beiden vorigen Male einen großen Umweg machen müssen, wir konnten das Pferd nicht vorwärtsbringen!«

Der Großvater trat zu dem Pferde, klopfte und streichelte es, band ihm sein großes Taschentuch vor die Augen und trieb es dann ebenso wie die übrigen zwei Pferde mit einem kräftigen »Jö« zum Ziehen an. Die Tiere zogen gleichzeitig an und gingen ruhig weiter. »Seht ihr, Jungens, so macht man das; aber man darf die Tiere nicht gleich verprügeln,« sagte der Großvater, indem er einhielt und dem Pferde das Tuch vom Kopfe nahm. »Jetzt wollen wir aber auch sehen, weshalb das Tier sich gefürchtet hat.« Er schritt, von den andern gefolgt, der Stelle zu, wo der Wagen gestanden hatte und schaute sich dort prüfend um. »Aha, da haben wir's!« Seht ihr dort den Totenwisch Die Totenwische bestanden aus dem Stroh, worauf die Leiche eines Verstorbenen aufgebahrt war., welcher aus dem Buchenstrauche hängt? Der hat die Schuld!«

»Ja,« meinte Hannes, »das ist möglich. Es ist der Totenwisch des alten Helmes Stepper, der vor zwei Monaten gestorben ist.«

»Wir wollen die Probe machen;« sagte der Großvater, »spanne das Pferd aus, Junge, ich werde in der Zeit den Totenwisch weiter ins Gesträuch tragen, wo er nicht gesehen wird.«

Ehe der Großvater ausgeredet hatte, eilte Hannes schon dem Buchenstrauche zu, nahm den Wisch und befestigte ihn sorgfältig mit einer Strohschlinge auf einem entfernt stehenden Strauche. Jetzt wurde der Braune vorgeführt. Er blickte noch einmal scheu nach dem Strauche, wo der Wisch gehangen hatte, trabte aber, als er denselben nicht mehr sah, ruhig vorbei.

»Seht ihr,« triumphierte der Großvater, »der Wisch ist's gewesen! Aber nun merkt euch das, ihr Burschen; ehe ihr nächstens die Pferde mißhandelt: seht erst nach der Ursache, warum sie störrisch sind, dann wird sich auch ihr Eigensinn legen. Das Pferd mit seinem feinem Geruch und scharfen Auge merkte, daß dort ein Totenwisch hing, und deshalb fürchtete es sich und wurde unruhig.«

Die Burschen versprachen Besserung und mit einem »nichts für ungut,« sprangen sie dann zu ihrem Gefährt und fuhren davon.

Der Großvater winkte ihnen freundlich nach und sagte zu Hannes: »Es sind doch keine schlechten Burschen, sie sind nur zu hitzig und haben keine Geduld. Jugend hat eben keine Tugend und vor allen Dingen fehlt ihr die Erfahrung!«

»Wie kamst du aber auf den Gedanken, daß der Strohwisch die Ursache sein konnte?« fragte Hannes.

»Weil es mir selbst einmal genau so ergangen ist. Ich war Lanzenknecht auf Burg Steinbüchel bei Opladen. Eines Tages mußte ich mit unserm Trupp den Herrn nach Liedberg begleiten. Als wir nun an einem der Bauernhöfe vorbeiritten, welche zwischen Neuß und Glehn liegen, da scheute plötzlich mein Pferd, ein junges, feuriges Tier, schlug aus und war nicht von der Stelle zu bringen. Ich stieß ihm die Sporen in die Weichen, doch es half nichts. Ich wurde vielmehr unter dem Gelächter meiner Kameraden ziemlich unsanft aus dem Sattel geworfen, Ich blieb zurück, denn das Pferd rührte sich nicht vom Fleck. Ein altes Mütterchen, welches den Vorgang mit angesehen hatte, humpelte auf mich zu und sagte: ›Junge, das Pferd macht sich bange vor dem Totenwisch, welcher dort auf der Hecke hängt; ich will ihn fortbringen lassen.‹ Eine flinke Magd kam herzu, nahm den Wisch fort und lud mich freundlich ein, ins Haus zu kommen und meine Kleider ein wenig vom Staube zu reinigen, sowie ein gutes Glas Bier zu trinken. Ich ritt noch einige Male an der Hecke vorbei, aber mein Gaul scheute nicht mehr. Diese Erinnerung brachte mich jetzt auf den Totenwisch.«

»Aha, deshalb!« lachte Hannes, »aber du sagst nicht, ob du auch auf die Einladung der jedenfalls hübschen Magd ins Haus getreten bist, und ob du dort etwas bekommen hast?«

»Gewiß habe ich dort etwas bekommen,« sagte der Großvater, »und zwar außer Bier und Schinken, welches ich sofort erhielt, nebst einem tüchtigen Butz, den ich mir freilich stahl – bekam ich später die Magd noch obendrein. Und daß meine selige Eva sowohl hübsch, wie brav war, das weißt du doch. Wir haben noch oft über den Totenwisch, der uns zusammengebracht hatte, gelacht. Doch wie rasch hat man ihr den Totenwisch gemacht – dem armen Weib!« seufzte der Großvater, »und wie bald wird man auch uns aufs Schoof legen Aufs Schoof legen heißt: als Leiche aufbahren. ...! Nun Hannes, alter Junge, lebe wohl, wir wollen an unsere Arbeit gehen, und wenn man dir nächstens mal zu Leibe rückt, dann helfe ich dir auch!«

»Hat nichts zu sagen, Meister Vit, das war gerne geschehen! Übrigens werde ich mir schon den Buckel frei halten, wie du, verlaß dich drauf!«

»Gruß zu Hause!« rief der Großvater noch und schritt auf Engelshof und von da dem Städtchen zu. Kaum hatte er den Engelshof hinter sich, als ihm zwei Burschen entgegenkamen und ihn anriefen. »Heda Alter, Ihr habt wohl ein paar Albus für uns übrig!« sagten sie und stellten sich ihm in den Weg. Die Burschen sahen zerlumpt und verwegen aus.

Der Großvater besah sie vom Kopf bis zu den Füßen und sagte: »Noch keinen Blaffert Blaffert. Kleine Kupfermünze. gebe ich euch, ihr Flegel. Das ist schon keine Bettelei mehr, das ist ja Straßenraub!«

»Einen Albus Albus war eine damalige Münze. wollen wir jeder haben!« riefen die Burschen, und traten hart an den Großvater heran.

»Da hast du ihn!« rief dieser, holte mit seinem Stocke aus und schlug den einen Burschen so kräftig wider die Schienbeine, daß er sich vor Schmerz auf der Erde herumwälzte, fing dann geschickt einen Schlag, den der andere Lump nach seinem Kopfe führte, auf und gab ihm dafür einen Hieb auf die Schulter, daß er heulend Reißaus nahm. »So, Burschen,« sagte er, »nächstens laßt ihr die Leute ruhig ihres Weges gehen!«

»Wir treffen uns noch einmal, Alter,« rief einer der Strolche, und drohte mit der Faust, »dann sollt Ihr den Kölschen Jörg kennen lernen!«

»Das könnte dir schlecht bekommen!« gab der Großvater zurück und schritt ruhig dem Städtchen zu.

Sechs Tage später kam abends ein mit drei Pferden bespannter Karren zum Weihertore herein und fuhr bis vor das Haus des Meisters Jakob. Frau Mechthilde und der Großvater traten neugierig an die Türe, um zu sehen, was denn noch für sie gebracht werden sollte. Der Großvater leuchtete mit der Laterne und erkannte die beiden Fuhrknechte, mit denen er am Gen-Holt wegen des störrischen Pferdes aneinander geraten war. »Nun, was habt ihr denn Jungens,« sagte er, »und zu so später Stunde?«

»Wir haben hier etwas für Euch, Großvater!« rief eine Stimme aus dem Wagen heraus. Gleich darauf entstieg demselben Meister Jakob, eine Gestalt auf den Armen tragend.

»Um Gottes Willen, Jakob, was bringst du uns denn da?« rief Mechthilde erstaunt.

»Werdet es gleich schon sehen,« sagte dieser leise. »Guten Abend zusammen! Großvater, füttere die Pferde etwas, und ihr, wackere Burschen, nehmt mit uns ein Abendbrot und einen guten Trunk, ehe ihr von uns geht.«

Alle begaben sich ins Haus, Jakob trug die halb ohnmächtige Gestalt, anscheinend ein Mädchen, ins Stübchen und übergab es seiner Frau, welche sich desselben annahm und es vorläufig auf das Kanapee bettete. Dann flößte sie dem Mädchen einige Tropfen Wein ein, worauf dieses die Augen aufschlug, einige unverständliche Worte murmelte und wieder in seine Bewußtlosigkeit verfiel. Die Magd hatte Brot und Schinken und einen großen Krug Bier auf den Tisch gestellt, und die Burschen langten wacker zu, beeilten sich dann aber, fortzukommen. Jakob begleitete sie zur Tür und drückte ihnen trotz des Sträubens ein Geldstück in die Hand, bedankte sich bestens für ihre Hilfe und wünschte ihnen gute Heimfahrt mit dem Bemerken, daß sie bei einer Durchfahrt durch Gladbach an seinem Herde stets einen Platz finden würden.

Währenddessen hatten sich sämtliche Insassen des Hauses in der Küche versammelt und warteten gespannt auf das, was Meister Jakob berichten würde.

Nachdem dieser sich etwas gestärkt hatte, sagte er: »So, jetzt will ich euch meine Reise-Erlebnisse erzählen.«

»Aber Jakob,« fragte Frau Mechthilde ängstlich, »wo hast du denn unsern Jungen gelassen? Wo ist er?«

»Beruhige dich nur, Frau,« erwiderte dieser, »der ist vorläufig gesund und wohlverwahrt. – Nun hört! Als ich mit Jakob den Großvater verlassen hatte, schritten wir frisch den beschwerlichen Weg voran und kamen gegen Mittag unbehelligt nach Linnich, wo wir Mittagbrot nahmen. Von da gings dann weiter auf Weiler zu. Bei der Abenddämmerung erreichten wir Geilenkirchen. Zwischen dort und Gangelt ist ein großes Bruch, wo nur Heidekräuter und einige verkrüppelte Fichten wachsen. Es begegnete uns niemand, überall war es einsam und stille. Plötzlich hörten wir in geringer Entfernung von dem Pfade, den wir eingeschlagen hatten, ein leises Wimmern! Wir blieben stehen und horchten. Jetzt vernahmen wir ein deutliches Weinen. Ich ließ Jakob zurück und schritt behutsam der Stelle zu, woher die Klagetöne kamen. Unter einer einsamen Tanne fand ich ein zerlumptes Mädchen, bei dessen Anblick selbst ein hartes Herz sich hätte erbarmen müssen. Ich fragte es freundlich, warum es weine. Es gab keine Antwort, sah mich nur furchtsam an und wollte davonlaufen. Ich sagte ihm, es brauche sich nicht zu fürchten, es solle mir nur anvertrauen, was ihm fehle, vielleicht könne ich ihm helfen. Da faßte es Mut, trat mit mir aus der Heide auf den Pfad und schlug mit uns die Richtung auf Gangelt ein. Unterwegs erzählte es uns nun, es sei vor vielen Jahren seinen Eltern geraubt worden. Ganz dunkel erinnere es sich noch, daß es mit seinen Eltern in einem schönen Hause gewohnt, und daß sein Vater es abends vor dem Schlafengehen immer geküßt habe. Weiter wußte es nichts, als daß dann eines Tages ein Mann es aus dem Garten seines Vaters fortgeschleppt und dadurch am Schreien gehindert habe, daß er ihm den Mund zuhielt. Der Fremde habe es zu einer alten bösen Frau gebracht, welche es immer geschlagen und zum Betteln ausgeschickt habe. Unter der Treppe mußte es schlafen, und wenn es vom Bettelgange nicht genug heimbrachte, so erhielt es jedesmal Schläge. Auch der Sohn der Frau, namens Wilm, welcher nie arbeitete und häufig betrunken war, habe es oft mißhandelt. Gestern Abend sei es nach Hause gekommen und habe nur einige Stücke Brot mitgebracht; die alte Frau habe es darauf geschlagen und hungrig zu Bett geschickt. Später, als Wilm nach Hause gekommen war, habe dieser es von seinem Strohlager gerissen und mit Füßen getreten. Darauf habe er es in einen alten Schuppen gesperrt. In seiner Verzweiflung habe es darin ein loses Brett von der morschen Tür abgerissen, sei hindurchgeschlüpft und in die finstere Nacht hinausgelaufen, – gleichviel wohin – nur um aus dem Bereiche seiner Peiniger zu kommen. Es sei gelaufen, bis es vor Müdigkeit umgesunken sei. Als es Tag geworden, habe es sich weiter geschleppt, doch seine Kräfte hätten es bald verlassen, und so sei es an der Stelle liegen geblieben, wo ich es fand. Es bat mich flehentlich, es doch nicht wieder zu der alten Frau zurück zu bringen. Ich versprach es, und fragte es, wo es denn gewohnt habe. Es antwortete, die Mutter Kathrin wohne in der Nähe von Sittard, und dort habe sie auch immer betteln müssen. Ich nahm das Mädchen mit und brachte es in unser Gasthaus in Gangelt, wo die Frau Päulen es aufnahm, ihm reine Wäsche und Kleider gab und es dann in ein warmes Bett brachte. Mein Freund Jan van Pooten traf am andern Tag ein, und wir schlossen unser Geschäft zu beiderseitiger Zufriedenheit ab. Ich erzählte ihm auch die Geschichte des Findelkindes, welches sich Eva nannte. Er meinte, ich solle mich des armen Mädchens annehmen. Dann notierte er sich die Aussagen desselben und versprach, Nachforschungen nach dessen Eltern anzustellen; auch wolle er die Mutter Kathrin und ihren sauberen Sohn aufsuchen und zur Bestrafung bringen. Schließlich bat er mich, ihm den Jakob mitzugeben, derselbe solle bei ihm in die Lehre treten. Er habe keinen Sohn, wohl mehrere Töchter, und der Jakob, versicherte er mir, würde das Geschäft gründlich erlernen und gehalten werden wir ein Kind im Hause. Der Jakob war damit einverstanden und ich habe ihn, ohne mich für die Zukunft zu binden, mitgehen lassen. Wir müssen nun beraten, ob wir auf das Anerbieten unseres Freundes eingehen und den Jungen da lassen sollen.«

»Aber Jakob,« meinte Mechthilde, »daß du unsern Sohn so ohne weiteres fremden Leuten übergibst, will mir doch nicht gefallen!«

»Warum denn nicht?« fragte der Großvater, »der ist bei van Pooten sicher so gut aufgehoben wir bei uns, und wird auch etwas Tüchtiges lernen. Wenn es ihm nicht gefällt, so wird er es uns schon wissen lassen.«

»Das meine ich auch,« stimmte Jakob bei, »übrigens läßt er euch herzlich grüßen und bittet, wir möchten die arme Eva als seine Schwester annehmen.«

»Ich denke, das versteht sich von selbst!« sagte der Großvater. »Was meinst du, Mechthilde?«

»Gewiß, Vater, mir soll's recht sein!« sagte diese bestimmt. »Ich werde morgen das Nötige mit dem Bürgermeister besprechen; dann bleibt sie bei uns, bis wir etwas über ihre Eltern wissen. Wie schwach und armselig das Kind aussieht! Ich begreife nicht, wie es die weite Reise hat machen können.«

»Damit hatte es gute Wege,« antwortete Meister Jakob. »Als wir bis Geilenkirchen gekommen waren, konnte sie nicht mehr weiter. Wir kehrten in ein Gasthaus ein, wo sie sich etwas erholte. Dort trafen wir zwei Fuhrknechte von Rheydt, welche in Geilenkirchen ihre Ladung gelöscht und nicht viel eingeladen hatten. Ich sprach mit den Fuhrknechten, die sich bereit erklärten, uns bis zur Stadt zu bringen. Unterwegs erzählten sie mir, daß sie bald mit unserm Großvater in Schlägerei geraten seien, als sie in Gen-Holt ein eigensinniges Pferd durchgeprügelt hätten.«

»Davon hat der Großvater noch nichts erzählt,« sagte Mechthilde.

»War auch nicht nötig,« bemerkte dieser. »Da hättest du am Ende gar gemeint, man hätte mich totschlagen können.«

»Nun, es waren keine üblen Jungen, und Großvater hat mit ihnen ja auch Friede geschlossen, nicht wahr?« fragte Meister Jakob.

»Gewiß«, erwiderte dieser, »denn sie waren nachher ganz vernünftig!« Jetzt erzählte er die ganze Geschichte mit dem Totenwisch, und wie der Hannes mit einem Holzscheit die Knechte zu Boden schlagen wollte, wenn sie Miene gemacht hätten, sich an ihm zu vergreifen. Er fügte noch hinzu: »Wäre aber auch wohl allein mit ihnen fertig geworden! Nun laßt uns das Abendgebet verrichten und schlafen gehen, der Jakob wird sicher müde sein von der Reise!«

Das Abendgebet wurde gesprochen, und die Eva nach oben in ein Zimmer gebracht. Es wurde noch vieles hin und her geredet und allerhand Vermutungen angestellt, wo die Eltern des Kindes wohl sein könnten, bis schließlich alles zur Ruhe ging.

Die Eva schlief schon längst in einem frischen, reinen Bette. Als Mechthilde vor dem Schlafengehen noch einmal vor das Bett trat, lag sie, die Hände gefaltet, friedlich schlafend da; das wachsbleiche Antlitz hob sich von dem schneeweißen Linnen seltsam ab: das Mädchen hatte hübsche Gesichtszüge und mochte etwa 14 bis 15 Jahre zählen, sah aber vergrämt und abgezehrt aus. Mechthilde beugte sich über das Kind, küßte es und sagte: »Du arme Waise! Ich will dir eine Mutter sein und hoffe, unser Herrgott wird dafür unsere Kinder segnen und sorgen, wenn sie vater- oder mutterlos sind, daß brave Leute sich auch ihrer annehmen!« Damit begab sich die wackere Frau ebenfalls zur Ruhe.


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