Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

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Beichte

Und Dietrich ließ Raum, wie sie befahl. Es war ihm selbst, als läge der Schatten zwischen ihnen. Er lag still und rührte sich nicht. Er hörte zu. Die Worte kamen ihm vor wie Tausende von Sprossen einer Leiter, auf der er in einen unermeßlich tiefen Schacht hinuntergezogen wurde. Es war ihm keine Einrede verstattet, keine Frage; er hätte auch beides nicht gewagt, etwas Mächtiges hielt ihn gefaßt und verschloß ihm die Lippen.

Hanna erzählte, daß sie um halb acht Uhr schon gekommen sei, direkt vom Bahnhof, wo sie ihr Reisegepäck gelassen. Sie hatte lange an seinem Schreibtisch gesessen, um ihm zu schreiben. Es ging nicht. Man kann nicht schreiben, wenn alles nur auf Aussprache Aug in Auge gestellt ist. Sie wollte fort; aber wohin? Nach Hause wollte sie nicht, konnte sie nicht, die Nacht bei Bekannten zu verbringen, davor graute ihr; übrigens war es ja seinetwegen, daß sie gekommen war. Undenkbar, daß sie ihn heute nicht mehr sehen sollte; fürs Heute war alles bestimmt und bereit, da ließ sich nichts verschieben, morgen war wie übers Jahr. Sie beschloß also zu bleiben und zu warten. Sie schaute zum Fenster hinaus und sagte sich: wenn ich bis hundert zähle, wird er da sein. Sie zählte siebenmal bis hundert, dann überwältigte sie die Müdigkeit. Eine Weile saß sie auf dem Sofa, doch plötzlich fiel es ihr wie etwas Freudiges ein, daß sie sich in sein Bett legen könne. Als sie es tat, wußte sie, was sie damit tat. Es war ein Sichüberliefern, unwiderrufliche Handlung. Zuerst nahm sie sich vor, nicht einzuschlafen, dann aber dachte sie: es ist besser, er findet mich schlafend, es erspart Worte, und er weiß dann gleich, wie es mit mir steht.

Sie hatte das Gesicht emporgewandt, die Hände lagen auf der Brust. Wie es mit ihr stehe, das sei das Entscheidende. Sie habe ihm ja geschrieben, sie sei nicht mehr dieselbe. Es hatte sich in mannigfaltiger Weise geäußert, anfangs beunruhigend, untermengt mit einem Wirrsal von Zweifeln, Ungewißheiten und Selbstanklagen; eines Tages hatte nichts anderes Bestand in ihr gehabt als der Gedanke an ihn. Es half nichts, daß sich Spott dawider auflehnte, daß sie seine Jugend als Vorwurf empfand und ihr gegenüber die eigene Person als schlaue Umstrickerin; sein redlicher Blick war nicht von ihr gewichen, seinen vertrauenden Händedruck hatte sie gespürt, so oft sich eine fremde Hand dargeboten, seine Stimme hatte sie verfolgt, der Nachhall seines Wortes schon zufrieden gemacht. Indem sie dies berichtete, vermied sie jede starke Bezeichnung; manchmal war es, als lese sie in eintönigem Tonfall aus einem Buch vor, das geöffnet oben an der Decke hing. Sie habe sich für unbrennbares Holz gehalten, sagte sie. Nicht als hätte sie das Ding, das alle Welt so mundfertig Liebe nennt, für Einbildung und Schwäche genommen; aber es sei zu fern gewesen, zu weit von ihr. Zeit ihres Lebens war sie davon abgedrängt gewesen; in der Schwester allein war es Ereignis geworden, aber nur von außen her, nicht von innen; nur das Gefäß hatte sie gewußt, nicht den Inhalt. Sie konnte nicht von Liebe reden hören; sie hatte es bei keinem für das Eigentliche, schon gar nicht für das Wesentliche erkannt. Raserei; Gelegenheit; Versponnenheit; kopflose Wut; Verfinsterung der Sinne. Dabei wurde sie kalt; vor Abscheu kalt; alles war so töricht gewesen, die zarteste Menschen- und Frauenwürde war beleidigt. »Darf man denn das Wort aussprechen?« fragte sie; »wirds nicht unheilig und frech und gering und abgegriffen, wenn man es sagt? Die meisten einigen sich darauf wie auf ein schlechtes Geldstück; sie schieben es einander zu, ohne es zu prüfen, und mit dem Minimum von Gefühl und Opfer glauben sie immer schon das volle Maß beanspruchen zu dürfen. Und wenn auch Natur zum Vorschein kommt, wer hat denn Natur, mehr davon als in eine zufällig gesteigerte Stunde geht, und aus wem spricht sie groß und wahr? Wir müssen alle erst das Selbstverständliche lernen; in den geheimsten Falten nistet noch aufgepfropfter Kram und Flitter und darunter vegetiert das Herz wie ein Krüppel.«

Sie hob die nackten Arme und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Daß sie jetzt so denke und sich klar darüber geworden sei, das sei sein Werk. Und daß sie hieraus die Konsequenzen gezogen habe, ebenfalls. »Schau, ich liege doch in deinem Bett!« rief sie aus. Aber sei das schon ein Verdienst? Sicherlich nicht, oder nur insoweit, als man die Widerstände in Rechnung bringe; die wären freilich zuerst unüberwindlich gewesen. Er könne es auch als einen Akt der Verzweiflung betrachten, wenn er wolle, aber ein solcher sei es nur im Hinblick auf ihr ganzes Leben und auf die Fügung, zu der es sich nun gestaltet. Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie langsam: »In jeder Menschenbrust ist eine gewaltig-göttliche Wahrheit; die muß herausgeschält werden aus der schleimigen Lebens- und Lügenhülle. Ich will es tun. Aber vorher gib mir noch einmal deine Hand.« Sie nahm seine Hand und küßte sie inbrünstig. Dann fuhr sie fort: »Mein ganzes Dasein ist innerlich und äußerlich bestimmt worden durch zwei Menschen: durch meinen Vater und durch meine Schwester. Zwischen ihnen, wie zwischen zwei Mühlsteinen, hab ich mich bewegt, hab ich gedacht, empfunden und gehandelt. Von früh an stand der Vater gebieterisch über allem. Er war der Meister, von ihm hatte der Tag seine Regel. Nach ihm war der Dienst gerichtet, das Spiel, die Beziehung zur Welt. Er verbreitete Respekt um sich und Schweigen. Wenn ich ihn als Kind kommen hörte, schien mir immer, als würde der Raum, in dem ich war, finsterer und enger. Man schrumpfte unter seinem Blick zusammen; das Auge wagte sich nicht hinauf; er zwang einen zu sprechen, was er wünschte, daß man sprechen sollte. Er wußte um die Gedanken, alles Verhehlte war ihm bekannt. Nahm er mich um den Leib, um mich zu sich herzuziehen und anzuschauen, so hatte ich keinen Willen mehr und nicht nur das, mir fiel auch alles Schlechte ein, das ich gedacht und getan, und hätte er gefragt, ich hätte es gestanden. Aber er fragte selten, denn er schien sich selbst zu fürchten vor der Macht seiner Frage; es rührte einen an wie kühler Stahl. Davor zitterte ich, davor zitterte die Mutter, davor zitterten seine Untergebenen und seine Gehilfen. Doch begriff ich sehr bald das Gewicht, mit dem er unter den Menschen stand, und wie er höher und höher stieg in ihrer Meinung; es drückte sich in seiner Geste aus, in seinem scharfen, schnellen Brillengläserblick, in seiner blockhaften Unerschütterlichkeit. Er war beladen mit Menschengeschicken; ich kann es nicht anders sagen, wenn ich zurückdenke; über und über beladen; unheimlich klebte es an ihm, was sie ihm anvertrauten und verrieten, und was er infolgedessen wußte. Das wurde in meiner Vorstellung ein Berg, schwarzes Gebirg; ich weiß noch, ich war sechs Jahre alt, als ich mirs zum erstenmal deutlich machen konnte, was das war: Arzt für die Geisteskranken, für die Seelenkranken; so hatte man mir seinen Beruf erklärt, und je näher ich dem Gedanken zu kommen suchte, je düsterer wurde mein Eindruck. Ich will nicht bei allen Stationen dieses Wegs bis zur vollen Erkenntnis verweilen. Es war wie ein Sichdurchwühlen durch unterirdische Gänge. Ich wuchs heran; ich sah, was im Hause vorging; ich sah, wie ers trieb; er hatte eine Rede für die Menschen, eine andere Rede für uns. Draußen saugte er sich voll mit Schicksal, bei uns warf ers ab und hatte selber keines mehr; ich entsinne mich an mein betäubtes Staunen als Zehnjährige, als ich beobachten konnte, wie die Leute ihn bewunderten, wie seine Patienten ehrfürchtig-gehorsam vor ihm standen, gewärtig eines Winks von seinen Augen; das Gefühl von seiner Herrschgewalt durchdrang mich wie was Religiöses. Als ich zwölf Jahre alt war, entwendete ich ein Goldstück aus seiner Schreibtischlade, nur weil ich zu erfahren begierig, war, ob ers erraten, ob ers wissen würde. Es wurde nicht entdeckt, und ich wartete enttäuscht; ich sagte es ihm; er lachte; er sagte: Wenn ich einmal so arm bin, daß ich einer kleinen Diebin auf die Finger schauen soll, werde ich auch wissen, wann sie mich bestiehlt, auch wenn sies aus Ambition für mich tut. Damals war er noch nicht so zerfetzt und von sich selber geblendet, wie ers später geworden ist. Er hätte eine Frau haben müssen, die ihm gewachsen war. Mutter war ihm nicht gewachsen. Sie fügte sich am falschen Ort, sie leistete Widerpart am falschen Ort, sie konnte ihm die Stichworte nicht geben, und darauf kommt es in Ehen sehr an. Aber was wollte das bedeuten gegenüber diesem Beruf. Aufgraben von Seelen; fortwährendes Aufgraben von fremden Seelen; eindringen in sie bis in die Fugen; schon als ich die erste Kunde davon gewann und ihm heimlich auf seiner Bahn folgte, sagte ich mir: das ist ein Erdrosselungsapparat für das ganze Glück der Erde. Was da zutage tritt! wovon da die Hüllen fallen! die verwinkelten Gänge, die schmutzigen Schlupflöcher; die Labyrinthe von Schuld und Irrtum und Jammer und Betrug und Selbstbetrug und Wahn und Verfolgung und ersticktem Neid und feiger Leidenschaft und gehemmtem Instinkt; wie sich das häuft; was für ein Gespenstertanz da entsteht. Und es erfragen; Stück für Stück aus der stummen Brust reißen, das Bewußtsein unterminieren; Ader um Ader die Wunde betasten; Zurückkriechen in die Höhlen der abgestorbenen Geschlechter und Spion sein der lebendigen; wem fiele da die Welt nicht in Trümmer; wem sollte da das Herz nicht versteinen; was für ein Mensch müßte einer sein, der dabei noch einen Gott im Innern behielte, einen Abglanz von Gott nur! Und hätt ich das nicht ahnen sollen? schon vor dem Wissen? Überträgt sich das nicht? Ists zum Verwundern, daß man schließlich selber ohne Gott dastand, nein, nicht ohne Gott, darüber hätte man hinwegkommen können, aber mit einem zerfleischten Gott, mit einem gemordeten Gott, mit dem in Staub und Kot geschleiften Leichnam eines Gottes? Es war wie in deinem Traum: wenn ich emporflog bis zu der Scharlachwolke, erblickte ich ja am Ende Gott; war er noch da für mich, so sah er mich doch nicht an, er würdigte mich keines Blicks. Ich wußte zu viel; ich atmete in einer Luft, die durch zu viel Wissen verpestet war; der, der mich gezeugt, hatte das himmlische Geheimnis verraten.«

Sie drückte das Gesicht in den Ellbogen und schluchzte. Dann sprach sie weiter: »Und nun Cäcilie. Du weißt es ja; ich habe dir begreiflich zu machen versucht, wie sie war. Der Vater und sie, das war wie Ahriman und Ormuzd. Deshalb seine fast abergläubische Angst vor ihr, als ob ihm ein ohrenbläserischer Satan beständig zuraunte, so viel Unschuld, so viel Reinheit, so viel Gelassenheit und reizende Würde dürfe er nicht dulden. Er, den nur Besessene umgeisterten, denen er souveräner Richter war, mußte toll werden wie die Magnetnadel über ihrem Pol beim Anblick eines Menschen, der in solchem Grad sich selbst besaß. Sie war sein Widerspiel, die geborene Feindin, um so mehr, weil aus seinem Fleisch und Blut; an ihr wurde seine Macht und Selbstgewißheit zuschanden. Ich konnte ihm noch spiegeln, was er galt und was er wirkte, sie nicht mehr. Mußte da nicht der Wunsch in ihm entstehen, daß sie aus seinem Kreis verschwand? mußte der Wunsch nicht bis ins Verbrecherische wachsen, bei ihm, dessen Existenz auf Bändigung verbrecherischer Triebe gestellt war? So ist vielleicht auch mein Wünschen krank geworden. Ich konnte kein Lebensgut und Lebensglück erlangen, das Cäcilie nicht schon hatte. Wo ich mich weh und blutig schürfte im Ringen und Wollen, da empfing sie. Wo ich hätte rauben müssen, wurde ihr gegeben, und in Hülle und Fülle. Unbegreiflich war mir diese Ungerechtigkeit des Schicksals, seit ich zu denken anfing. Alle Blicke waren auf sie gelenkt; alles Lächeln schenkte sich ihr; alle Herzen flogen zu ihr; wenn meines sich zaghaft öffnen wollte, in der nächsten Sekunde krampfte es sich schon wieder zu; wie durfte es sich nur rühren neben Cäcilies. Zwillingsschwester! Das ist ein besonderes Ding. Gemeinsam sind wir im Mutterleib gelegen, geboren in der nämlichen Stunde. Glied hat sich von Glied gelöst, Muskel von Muskel, aus einem Geschöpf wurden zwei. Am Schoß der Mutter stand ein Engel mit herrlichen Geschenken: Schönheit, harmonische Bildung, Sanftmut, Gabe die Herzen zu erobern, Adel des Leibes und der Seele. Der Engel wußte nicht, daß zwei den Schoß verlassen würden, und der ersten, die ans Licht kam, verlieh er alles, für die andere blieb nichts. Er wartete ihr Erscheinen gar nicht ab, er hatte alle Geschenke bereits vergeben und war auf und davon, als sie hinter der Begnadeten auftauchte. Das ist keine Fabel, kein Gedicht. Da ist meine Jugend drin, mein Gestern, mein Vorgestern und mein Heute. Auch mein Heute. Wie faß ichs nur, was mir geschehen ist, wie sag ichs nur. Einer ist doppelt auf der Welt bis zu einem gewissen Tag, und von dem Tag ab ist er halb. Ein Rechenexempel, um den Verstand zu verlieren. Doppelt, was hat das denn geheißen? Gleich wie der Körper und der Schatten ein Doppeltes sind. Und halbiert dann, das bedeutet: der Schatten bleibt allein. Was soll ein Schatten allein anfangen? Er kriecht am Boden und kann sich nicht aufrichten. Er erbettelt Kraft von der Erde und ringt mit ihr, aber er kann sich nicht von ihr erheben. Als ich Hubert Gottlieben kennenlernte und seine Vertraute wurde, war mir, als könnte ich ihn lieben. Aber mein Herz hatte nicht Mut genug. Qual, von der man keinen Begriff geben kann. Er gehörte Cäcilie; alles gehörte Cäcilie; alle gehörten Cäcilie. Außerdem wußt ich doch: sie wartet; sie wartet auf den, der ihr bestimmt ist. Und wenn es nun derselbe war, der mir bestimmt war? Wie dann? Dann mußte eine von uns sterben; sie hatte es ja selbst zu mir gesagt. Ich fühlte es voraus, daß es derselbe war. Ich wollte dem Grauen vorbeugen, das uns beiden drohte. Ich wollte nicht langer Schatten sein. Ich wollte Körper werden. Es war mir klar, daß der, der dann kam, sich trotzdem nur nach ihr sehnen würde, nur nach ihr bangen und schmachten, und daß ich auch als Körper, wenn sie nicht mehr war, nur Vorwand und Überbleibsel sein würde; aber ich war dann doch allein mit ihm, eine Spanne wenigstens, ich wurde gehört und gesehen, ich war da, ich war lebendig. Und so hab ich sie getötet. So hab ich den Revolver an ihre Schläfe gedrückt. So hab ich die Schwester getötet. Jetzt weißt du alles.«

Ein heiserer Aufschrei durchbrach die Stille. Darauf war Schweigen. Abermals wollte Dietrich schreien, doch die Kehle war versperrt. Er setzte sich im Bett empor. Er öffnete den Mund; fahl, mit geöffneten Lippen, sah das Gesicht aus, wie eine Gipsmaske. Es warf ihn aufs Lager zurück. Der Körper wälzte sich in Konvulsionen auf dem Linnen. Er preßte die Fäuste in die Augen, in gräßlicher Angst, daß das Gehirn herausrann.

Hatte ers auch geahnt, als tödliches Geheimnis von purpurner Tiefe her gefürchtet all die Zeit, in Herz und Eingeweiden gefürchtet seit ihrem weißen Dastehen im Wald schon, seit dem klägerischen Gebell des Hundes, seit Worte zwischen ihnen gefallen waren, was war die Ahnung anderes als ein kaum verräterischer Streifen am Saum wohltätiger Nacht, was war sie gegen die nun aufgeschossene welt- und sinnverschlingende Flamme des donnernden Wissens? Er hatte es ja im Innersten nicht angenommen; es hatte sich dem Begriff entzogen, dem Menschenglauben, der Wärme des Lebens, dem Gedanken und dem Bild. Ordnung zerstaubte in Chaos. Vergossenes Blut überströmte die elfenbeinerne Tafel der Erde. Zum zweitenmal war es, doch endgültiger jetzt, als schlüge ein Riesengespenst die Nacht in klappernde Scherben und den kommenden Tag dazu, alle kommenden Tage dazu. Cäcilie! rieft; Cäcilie! Sie war da. Die andere war zerstört. Sie war zerstört; die andere lag neben ihm. Irrsinn, Wut des Irrsinns; Scheingebilde beide. Wohin mit der aufrührerisch kochenden Liebe? Was beginnen in der zu Scherben zerschlagenen Welt? Cäcilie! riefs aus der zermalmten Kehle. O Mund, der du geküßt hast, die Andere geküßt hast, auf ewig verfluchter Mund! Geliebter Leib, den du umarmt hast, du warst nicht Cäcilies Leib. Noch einmal schrie er auf und hatte die Besinnung verloren.

Hanna erhob sich. Eine Weile stand sie nackt auf dem Teppich. Es gibt ein Bild von Odilon Redon, les yeux clos genannt; diesem Bild ähnelte sie. Es war eine schöne Gestalt von annähernd vollkommener Prägung und kräftiger Rasse. Die Rundung der Hüften übertraf die Breite der Schultern, die ziemlich stark abfielen. Es waren zarte weibliche Formen; mehr Frau vielleicht als Madchen, doch unendlich jung.

Vor dem Stuhl, auf dem ihre Gewänder lagen, kleidete sie sich langsam an. Als sie fertig war, trat sie auf die andere Seite des Bettes und schaute seltsam besorgnislos in das Gesicht des unbeweglichen, mit geschlossenen Lidern daliegenden Jünglings. Sie beugte sich herab, berührte mit den Lippen seine Stirn und die entblößte Brust, dann schritt sie leise zur Tür und ging. Sie hatte den Torschlüssel. Draußen war es schon Tag.

»Ich komme«

Erst am späten Vormittag betrat das Hausmädchen Dietrichs Schlafzimmer und fand ihn in schwerem Fieber und phantasierend. Der Arzt wurde geholt. Zufällig kam um die Mittagszeit auch Justus Richter, um dem Freund ein versprochenes Buch zu bringen. Er benachrichtigte sogleich telegraphisch die Ratsherrin. Am Abend traf Dorine ein.

Die Krankheit verschlimmerte sich mit jeder Stunde. Der behandelnde Arzt berief einen Spezialisten. Es war eine bedenkliche Form von Hirnhautentzündung. Das verheerende Fieber dauerte sechs Tage ohne wesentliche Abschwächungen. Am siebenten Tag war die Krise. Sie verlief günstig. In der achten Nacht konnte er als gerettet betrachtet werden. In dieser Nacht schlief Dorine einige Stunden durch. Man hatte ihr im Wohnzimmer ein Feldbett aufgeschlagen.

Als Dietrich aus der wie seit Ewigkeit währenden Bewußtlosigkeit erwachte, war die an seinem Lager sitzende Mutter beruhigende Erscheinung. Er schaute sie lange schweigend an. Sie legte stumm ihre Hand auf seine.

Die Delirien hatten ihr Wissenschaft genug gegeben. Was an greifbarer Wirklichkeit fehlte, hatten Justus Richters Andeutungen vervollständigt. Dennoch war es zerbrochener Pfad für sie, auf dem ihr Schritt unsicher stockte. Von da war kein Bogen mehr in ihr eigenes Leben gewölbt; es war entlegenes, verwildertes Revier. Verweisend fremd blickten die Ahnen herüber; in ihrem fürstlich geregelten Dasein hatte das Zerfallene keinen Platz; und sie, die Mutter, befragt: was hast du getan, um es zu verhüten? wußte keine Antwort. Ihr blieb nur Vertrauen zu einem noch Werdenden; Hoffnung, daß die trübe Gor sich von innen aus kläre, daß der Niedergestürzte sich schicksalsfrommer wieder aufrichte und bescheidener das Gesetz erkenne, nach dem ihm geboten war zu leben. Ihre Hand hatte da keine Gewalt mehr: Führung und Herrschaft waren dahin für immer. So war ihr der Erwachte und langsam Genesende in einem neuen Sinne Sohn: abgelöst von ihr und ihr gegenüberstehend als Pflüger auf eigenem Grund und Boden; ein Hinausgewanderter, der sein Erbteil erst in später Zeit antreten will; vielleicht daß er es verknüpft mit dem frisch Errungenen; vielleicht daß er es sondert; doch hat er sein Ur- und Geistesrecht in sich selber.

Schon am zweiten Tag von Dietrichs Krankheit erfuhr Richter und teilte es Dorine Oberlin mit, daß sich Hanna auf dem Grab ihrer Schwester erschossen habe. Den Morgen darauf stand es in allen Zeitungen. Die Nachricht wurde Dietrich sorgsam verhehlt, auch als die Genesung schon weit fortgeschritten war. Möglich, daß er es ahnte. Er sprach nicht von Hanna. Er fragte niemals. Aber er mußte wissen, wohin sie gegangen war, mußte wissen, was sie getan, wenn anders Maß und Gewicht dieser Welt für ihn nicht aufgehört haben sollten zu gelten.

Kein Wort von ihm deutete auf Vergangenes. Schwermütiger Ernst wich nicht von ihm. Dorine suchte ihn zu zerstreuen und aufzuheitern, indem sie ihm vorlas oder erzählte; er schien erkenntlich, doch ohne lebhafte Teilnahme. Justus Richter stellte sich häufig ein und spielte Schach mit ihm, was ihm das liebste war, weil er dabei schweigen durfte. Anfang Mai kam Georg Mathys; als er ins Zimmer trat, zeigte sich zum erstenmal ein heller Schimmer in Dietrichs Gesicht. Ein paar Tage darnach durfte er ausgehen. Dorine und Mathys begleiteten ihn zuerst beide, dann Mathys allein. Da brachte Dietrich das Gespräch auf Lucian und sagte, er wolle zu ihm, sobald sein Zustand es erlauben würde. Dorine erschrak, als Georg Mathys es ihr sagte, und wollte Einspruch erheben, aber Mathys riet ihr, ihn gewähren zu lassen; wie die Begegnung auch ausfalle, die Folgen könnten nur ersprießliche sein. Er erbot sich, mit Dietrich zu fahren, und am gleichen Tag schrieb er einen ausführlichen Brief an Lucian, worin er Dietrichs Gemütsverfassung schilderte, das Geschehene delikat berührte und von seiner und Dietrichs Absicht sprach, ihn zu besuchen. Er wohnte noch immer bei Pfarrer Langheinrich.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sie war kurz und forderte die beiden Freunde an einem ihnen genehmen Tag zu kommen auf. Eine Woche später gab der Arzt die Einwilligung zur Reise, die übrigens nur zwei Stunden dauerte. An einem schönen Morgen im letzten Drittel des Mai fuhr das gemietete Auto vor; den andern Abend wieder zurück zu sein, versprach Georg Mathys Dorine.

Gegen Mittag kamen sie vor dem rebenumwachsenen Pfarrhaus an. Es wurde ein Fest gefeiert: Pfarrer Langheinrich war heute siebzig Jahre alt. Die Häuser des Dorfs waren beflaggt, Deputationen standen im Hof, weißgekleidete Kinder, mit Kränzen von Wiesenblumen im Haar, sangen ein Lied. Der älteste Sohn des Pfarrers begrüßte die fremden Gäste; nach einer Weile trat auch Pfarrer Langheinrich auf sie zu, eine würdige, von Freundlichkeit strahlende Gestalt, und schüttelte ihnen herzhaft die Hände. Mathys drückte sein Bedauern über die Zufallsfügung aus, die sie zu Feststörern gemacht, aber der alte Herr erklärte lachend, zwei mehr an seiner Tafel, das könne höchstens eine Verlegenheit für die Pfarrerin bilden, und bei der sollten sie mal Nachfrage halten, die würde ihnen mit dem entrüstet geschwungenen Kochlöffel antworten.

Nun erschien auch Lucian unter dem geschmückten Tor: hager, groß, streng. Mit einem Aufflammen in den zerarbeiteten Zügen ging er auf Dietrich zu. »Da bist du ja endlich«, redete er ihn an mit der Stimme aus Metall, packte seine Hand und hielt sie wie im Schraubstock fest. Dietrich schaute zu ihm auf; seine Augen waren feucht. Sprechen konnte er nicht.

Sie wanderten durch den Garten, er, Mathys und Lucian. Die Unterhaltung war stockend und eigentlich ohne Gegenstand. Lucian blieb ziemlich schweigsam. Auch Mathys und Dietrich verstummten. Um so lärmender verlief das Mittagessen, mit Scherzen, Ansprachen und Lebehochs bei köstlichem Aßmannshäuser. Die Tische waren im Freien aufgestellt, unter drei uralten Eichen. Die Angesehenen des Orts und Freunde des Pfarrers aus nah und fern waren geladen. Ein Amtsbruder rezitierte einen gereimten Glückwunsch; ein Student in hohen Semestern, Langheinrichs Jünger und Schüler, trank auf das Wohl des Jubilars den silbernen Pokal bis auf die Neige. Neben dem Pfarrer saß beglückt lächelnd die Pfarrerin, zwei Söhne rechts, zwei links, hübsche gesunde Leute.

Unergriffen blickte Dietrich vor sich hin. Er war beengt von dem festlichen Treiben, und bisweilen suchte sein Auge Lucian, der, ebenfalls wenig froh, zwischen Georg Mathys und dem Amtsrichter saß. Es war Dietrich zur Bedingung gemacht worden, daß er den Nachmittag über ruhe. Die Hausfrau führte ihn in ein Gemach unter dem Dache und sorgte für alle Bequemlichkeit, Georg Mathys hielt dann prüfende Nachschau; während er noch im Zimmer war, schlief Dietrich ein. Er schlief fest und lang; erst als die Sonne im Untergehen war, erhob er sich. Er trat auf den schmalen hölzernen Vorbau und schaute versonnen in das blütenübersäte Land. Hatte eben sein Herz noch leichter geschlagen, jetzt wurde es wieder schwer und dunkel. Seufzend kehrte er ins Zimmer zurück. Da stand Lucian vor ihm. »Bist du munter geworden, Oberlin?« fragte er; »wollen wir uns zusammensetzen und ein wenig plaudern wie vorzeiten? Hast du meiner oft gedacht? Bist du noch, der du warst?«

Er hatte sich auf das gebrechliche schwarze Ledersofa gesetzt und die Arme verschränkt. Rotes Sonnenlicht fiel auf seine gewaltige Stirn. Dietrich nahm am Tische Platz und stützte den Kopf in die Hand. »Nein, der ich war, bin ich nicht mehr«, antwortete er.

Nach einem Schweigen dann: »Wie wäre das auch möglich? Du weißt ja nicht . . .«

Lucian rückte die Schultern. »Ich weiß«, sagte er. »So viel zu wissen nötig ist, weiß ich.«

Scheu erhob Dietrich den Blick. »So brauch ich dir ja nichts zu erzählen,« sprach er leise; »ich wollte dir erzählen; aber ich sehe schon, daß ichs nicht gekonnt hätte. Gut, daß du es weißt.«

»Mich dünkt, du Lieber, du warst ein bißchen zu wehleidig«, erwiderte Lucian stirnrunzelnd.

»Wehleidig? Ja; Weh hab ich gelitten, allerlei Weh«, sagte Dietrich mit einem kränklichen Lächeln. »Es konnte mir keiner helfen; und nun, wo alles vorüber ist, trostlos vorüber, wer kann mir nun helfen? Ich dachte, du könntests vielleicht. Aber mir scheint, du kannsts auch nicht. Was soll man tun? Wie soll man weiterleben, Lucian?«

»Keinesfalls so, wie dirs jetzt beliebt«, versetzte Lucian hart. »Du hast meine Erwartungen bitter enttäuscht. Du hast unserm Vertrag zuwider gehandelt. Du hast dich ins giftige Netz begeben und die Fäden kleben noch an deinem Leibe. Du hast mich verleugnet, Oberlin; du hast deine Seele verkauft.«

Dietrich ließ das Haupt sinken und schwieg. »Der Mensch, den ich brauche und den ich formen kann,« fuhr Lucian fort, »der darf mir nicht erliegen und zu Boden fallen, wenn der trunkene Eros seine Arme um ihn schlingt. Was ist dann meine Existenz, was bin ich wert, mir und euch, wenn die klug gebraute verführerische Mixtur alles, was ich will und wirke, zunichte macht? Ich hatte gehofft, daß du dich an den Fundamenten des Baues bewährst und nicht an seinem Schnörkelschmuck die Zeit vergeudest und Kraft und Geist vertust. Alle fallen. Alle. Keiner widersteht der Versuchung. Wie ich dich hielt, Oberlin, wie ich dich trug! Du warst mir das Edelgestein auf dem Werkplatz, nicht einmal Mörtel und Klammern glaubt ich bei dir vonnöten. Der ist mir sicher, dacht ich, der wacht über meine Ernte mit der geschliffenen Sense, dacht ich. Und das Ende? Hineingeschleudert den ganzen Einsatz in ein Liebesspiel. Das heiß ich seinem Meister mit abgehauenen Händen gegenübertreten. Schäm dich, Oberlin.«

»So verdammst du mich also? verwirfst mich?« hauchte Dietrich und schaute Lucian groß an.

»Ich verdamme dich nicht, ich verwerfe dich nicht,« war die Antwort, »dergleichen kommt mir nicht zu. Ich sehe bloß, daß der Ring eng und enger wird, ich fange an, den Sinn des Wortes Einsamkeit in seinem vollen Umfang zu begreifen.«

»Du irrst,« sagte Dietrich in demselben hauchenden Ton, »du irrst, wenn du annimmst, daß ich den Einsatz verspielt habe. Du irrst, wenn du meinst, ich hätte vergessen, was ich mir und dir schuldig war. Das steht unverlöschbar geschrieben, es ist nicht ausgelöscht, es kann nicht ausgelöscht werden. Was ich hinter mir habe, Lucian, das war mein heiliger Anteil am Schicksal, nicht minder wahr und wirklich, als hätt ich den gelebt, den du forderst. Laß es Hohlweg oder Brücke sein, aber laß es nur gelten und rechne es mir zu als ehrlich gelebtes Stück. Du siehst mich nicht. Schau mich doch an, fühl es doch, wie ich vor dir stehe.«

Die Worte waren dringlich, flehend fast. Lucian, von dessen Stirn das Rot der Sonne längst vergangen war, gehorchte der Aufforderung und sah Dietrich an. Zu schauen vermochte er aber nicht. Und deshalb entgegnete er: »Alles müßte von neuem beginnen. Doch dies ist unmöglich. Anfang hat seinen eisernen Rahmen. Geh du, und finde dich zurecht. Auf mich kannst du nicht zählen. Ich bin ein geschlagener Mann, beleidigt, entwürdigt, entwurzelt; und verurteilt, am Geist der Gemeinheit und der Schwäche zu verbluten. Vielleicht treffen wir uns einmal an einem andern Kreuzpunkt unserer Wege. Vielleicht kannst du mir dann sagen, nicht: schau mich an, fühl es, wie ich vor dir stehe, sondern: schau mein Getanes an und erkenne, was es wiegt und was es ist. Bis dahin muß ich unerbittlich sein, sonst könnt ich meinem Gott nicht mehr ins Auge blicken. Ein Mensch ist nicht mehr da.«

Sein Gott? dachte Dietrich, auf einmal kühl bis in die Nieren, wer ist sein Gott? Wo mag er weilen, dieser grausame und finstere Gott? Warum nennt er ihn? Ich bin zu ihm gegangen, ihn um Brot zu bitten, und er gibt mir Steine.

Die Dunkelheit war eingebrochen. Verworrene Musik ertönte vor dem Haus. Dietrich stand auf, plötzlich quälte ihn die starre Nähe Lucians. Er trat auf den Altan hinaus. Eine Schar junger Menschen, alle mit brennenden Fackeln in den Händen, zog am Hause vorbei, an der Spitze die vier Söhne des Pfarrers. Diese allein trugen keine Fackeln; drei spielten im Gehen Violine, einer die Maultrommel, wodurch ein wunderliches Tongemisch erzeugt wurde. Hinter ihnen schritt Georg Mathys. Er richtete den Blick empor, gewahrte Dietrich, schwenkte seine Fackel in der Luft und sagte laut: »Komm, Oberlin!« Da sahen auch andere in die Höhe, und ein vielfacher, von frohem Lachen begleiteter Ruf erschallte: »Komm, Oberlin! Komm, Oberlin!«

Dietrich spürte, wie die Last von Brust und Schultern fiel. Er antwortete dem Ruf der Jugend mit einem dankbar leuchtenden Lächeln und rief zurück: »Ich komme.«


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