Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

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Warnende Stimme

Das Begräbnis fand am andern Mittag in Heimlichkeit und Stille statt. Georg Mathys und Justus Richter gingen mit zum Kirchhof. Sie wunderten sich über die unerschütterte Haltung, die der Professor am Grab zeigte. Er sprach vorher und nachher in geschäftlich trockener Weise mit dem Pfarrer und nahm die Beileidskundgebungen höflich entgegen. Hanna war bei ihrer Mutter geblieben. Dietrich war während der ganzen Zeit verschwunden.

Nach kurzem Schlaf hatte er sich erhoben und war in den Wald hinaufgegangen, zu der Stelle, wo Cäcilie gelegen war. Dort hatte er sich auf einen Baumstumpf gesetzt und sich der Einsamkeit und Ruhe hingegeben. Indem er unverwandt in das zerdrückte und von vielen Füßen zertretene Moos schaute, zog es ihn sehnsüchtig näher, er stand auf, blickte sich scheu um wie einer, der Verbotenes zu tun sich anschickt, und warf sich auf das Stück Erde nieder, das die Schöne zuletzt getragen. Anfangs war es wirklich wie ein Frevel, den er verübte, dann aber löste sich in ihm die Unrast, die er in dem kurzen Schlaf der Nacht empfunden. Hier war noch Zeugnis ihres Seins, gestern noch war ihr Blut über die Gräser und Farne geflossen und in die Feuchte des Bodens gesickert: heilig-unwiederbringliches Leben. Noch stand die nämliche Luft; noch ragten die nämlichen Baume; ihr letzter Blick und Seufzer hatte vielleicht den Rottannenzweig umfaßt, der so niedrig hing, daß ihn die Hand erreichen konnte, vielleicht die Wurzel, die braun und knochig aus der Tiefe kam. Nicht länger der Weg vom Moos zu ihrem Herzen gestern als heute zu seinem; ihm war, als könne er noch einen verbliebenen Rest ihres Lebens erraffen und mit fortnehmen, Gedanken oder Wunsch oder Bild; verhauchtes namenloses Etwas, von einer Geistermacht für ihn bewahrt, durch Geisterbeschluß ihm zugesprochen.

Als er zurückkehrte, war der Professor schon zum Aufbruch bereit. Er dankte Dietrich für die gewährte Gastfreundschaft, drückte ihm mehrmals die Hand und sagte, wenn ihn der Weg nach Heidelberg führe, möge er das Landgrafsche Haus als seines betrachten; solcher Dienst bei so traurigem Anlaß vergesse sich nicht. Ihn rufe die Pflicht; schmerzlich-untätigem Gefühl dürfe er sich nicht überlassen; er sei nur ein geringer Soldat in der großen Armee der Geisteskämpfer und gehöre auf seinen Posten. Es habe ihm wohlgetan, fügte er, nicht mit der Miene eines geringen Soldaten, sondern eines Generals, zum Schluß hinzu, in den drei jungen Leuten so vortreffliche Menschen kennengelernt zu haben.

Mathys und Richter standen dabei, und die kleine Rede wirkte auf sie so wenig wie auf Dietrich angenehm. Es war alles Form, gedrechselt bis auf den Buchstaben, imponierend und überlegen, doch ohne Wärme. Man brachte ihm die Reisetasche; Hanna kam die Treppe herunter und begleitete ihn ans Gartentor; ein kurzes und, soviel zu hören war, scharfes Zwiegespräch entspann sich zwischen Vater und Tochter; jener sah hochmütig und beherrscht aus, das junge Mädchen redete leise und bestimmt. Sie trennten sich, ohne einander die Hand zu reichen.

Frau Landgraf hatte sich entschieden geweigert, nach Hause zu reisen. Sie wollte im Lauf des Tages ins Hotel Adler ziehen und für die nächsten Wochen dann in einer Pension Unterkunft suchen. Sie wünschte in der Nähe von Cäcilies Grab zu bleiben. Der Professor nicht minder als Hanna schienen durch ihre energische Willensäußerung ziemlich erstaunt. Dietrich bekam sie übrigens erst zu Gesicht, als sie an Hannas Seite das Haus verließ, um in den Wagen zu steigen. Sie mochte fünfzig Jahre zählen, sah aber jetzt wie eine Greisin aus. Mit erloschenen Augen wankte sie durch den Flur, die Haut war entsaftet, die Arme hingen kraftlos. Dietrich näherte sich schüchtern, beugte sich herab und küßte ihr die Hand. Sie schaute ihn groß und fremd an, schien von einer Ahnung erfaßt zu werden und halb entsetzt, halb ergriffen stützte sie sich eine Sekunde lang auf seine Schulter.

Als sie im Wagen saßen, fing Hanna an, von Oberlin zu sprechen, von seinem freien Entgegenkommen, seiner bescheidenen Freundlichkeit. Sie habe ihm Nachricht verheißen; sie habe sich entschlossen, ihn hie und da zu sehen, da sie nichts Besseres wisse, um sich ihm erkenntlich zu zeigen. Nach einer Pause dann: er sei ja fast noch ein Knabe, aber wenn man mit ihm rede, denke man daran nicht. Das Sonderbare sei passiert, daß er Cäcilie noch von Angesicht zu Angesicht gesehen, vorher, und daß er nun um sie trauere, als sei sie seine Braut gewesen.

»Was sagst du da, Kind, was sagst du da!« rief Frau Landgraf beschwörend.

Hanna senkte die Augen. »Am liebsten hätte er uns bei sich im Haus behalten,« fügte sie trocken hinzu; »als ich ihm sagte, daß wir gingen, wollte er nichts davon wissen und dich zum Bleiben bewegen.«

»Bring ihn zu mir; er soll zu mir kommen«, murmelte Frau Landgraf.

Wie er dagestanden ist, so bleich, dachte Hanna; wie er uns nachgeschaut hat mit den zärtlichen Augen. Ja, er hat zärtliche Augen, fuhr sie fort zu grübeln; er ist einer, der sich zu opfern fähig ist. So sprechen sie, so blicken sie, die Unbedingten. Sie weinen nicht, sie verzweifeln nicht, sie handeln. Er ist anders als alle, und alle spüren es, auch der Hübsche, Schlanke, Kluge mit den Sammetaugen, der sein Freund ist.

Ich möchte, daß er tanzt, war plötzlich ihr bizarrer Gedanke; ich möchte, daß er überschäumt und wie ein Leichtsinniger schwatzt; ich möchte ihn umkehren, daß er an sich irre wird; ich möchte, daß er lügt und stiehlt und es keinem bekennt außer mir; er müßte vor mir schuldig sein und sich demütigen.

So konnte sie vorübergehend empfinden. Sie war so vielfach in den Stunden wie die Stunden selbst waren. Keine Regung, mit der Blut und Gedanke nicht stürmisch schwangen und die sich nicht verflüchtigt hätte, angerührt von ihrem Widerspiel. Sie ging den Weg zur Flamme, bog kühn die Hände hin; und kehrte zurück in ihr Versteck, wo sie sich weltscheu verschanzte. Niemand konnte sie erraten; äußerlich nüchtern, gehorchte sie den Überlieferungen ihrer Kaste.

Am dritten Tag schrieb sie an Oberlin ein Billett, und sie trafen sich vor dem Friedhof. Damit begann die Verkettung.

Zwischen den Freunden kam es, kaum daß sie wieder unter sich waren, zu Verstimmungen. Die Ursachen waren zuerst nichtig; eine vergessene Verabredung genügte, ein übereiltes Wort, eingebildete Vernachlässigung. Aus Meinungsverschiedenheit wurde Streit, aus Streit fortwuchernde Mißlaune. Sie glichen drei Eingesperrten, die einander überdrüssig geworden sind; jeder wurde durch Blick und Miene des anderen gereizt, und sogar Georg Mathys ließ es dann an Wohlwollen fehlen.

Erbitterte Wechselrede und in deren Folge beinahe offenen Bruch führte ein Brief herbei, den Justus Richter von seiner Schwester aus Heidelberg erhielt und den er den Freunden vorlas. Er hatte über den Selbstmord Cäcilie Landgrafs nach Hause geschrieben, und in ihrer Antwort berichtete die Schwester, was man sich über die Landgrafsche Familie dort erzählte und was längst stadtläufig war, Skandal über Skandal, so daß die Katastrophe eigentlich wenig Überraschung erregte. Bürgerliche Form als dünner Firnis; darunter Zerstörung und Zerfall.

Die Frau von ihrem Gatten unwürdig behandelt; das für den Haushalt nötige Geld müsse sie sich von Bekannten ausleihen. Seit Jahr und Tag habe der Professor eine Beziehung zu einer Schauspielerin in Darmstadt, deren verschwenderische Führung, Prunksucht und Spielleidenschaft, den Großteil seiner sehr bedeutenden Einnahmen verschlinge. Von berechnendem Geiz gegen die Seinen, lebe er außerhalb des Hauses als Grandseigneur. Die Töchter wider ihn im Bund und aufgebracht gegen die Mutter, die ihre Erniedrigung duldend hinnahm. Die Schuldenlast übersteige jeden Begriff; Lieferanten in der Stadt wie auswärts drohten mit Prozeß. In letzter Zeit habe die Dame in Darmstadt eine Nebenbuhlerin erhalten, noch dazu ein junges Mädchen aus adligem Haus, eine Gräfin Bettine Gottlieben zu Gottlieben, die wegen eines Gemütsleidens von ihrem Vater zu Professor Landgraf gebracht worden war. Zwischen ihr und Cäcilie habe sich Freundschaft entwickelt, die einerseits Hannas Eifersucht erweckte, andererseits dem Professor im Wege war. Eines Tages sei es zu einer häßlichen Auseinandersetzung zwischen Cäcilie und ihrem Vater gekommen, und der Professor habe geäußert, er werde sie in eine Anstalt sperren lassen. Allgemein heiße es, er könne sich an der Universität wie auch in seiner Praxis nur durch den außerordentlichen Ruf halten, den er als Gelehrter und Arzt genieße; aus allen Weltteilen strömten die Kranken zu ihm, und die Erfolge seiner analytischen Methode seien derart, daß sie die Gegner zum Schweigen zwängen, obgleich selbst die Anhänger zugeben müßten, daß er einer von denen sei, die kaltblütig über Leichen schritten und deren Geldgier übrigens keine Grenzen hätte.

Dietrich hatte sich erhoben und ging auf und ab. Das sei alles nicht wahr, stieß er hervor, sei alles böswilliger Klatsch und unbesonnenes Gerede, zusammengebraut von alten Weibern und aufsässigen Fachgenossen; jedem Wort hafte die Lüge und Übertreibung des giftigen Hörensagens an; wie Justus sich nicht schämen könne, dergleichen zum Besten zu geben.

Justus Richter erwiderte zornig, da urteile er doch zu vorschnell; er wundere sich über die Kühnheit, mit der Oberlin seine Schwester verdächtige und weise den schnöden Inzicht zurück. Auch ihm seien, während er zu Hause gewesen, üble Gerüchte über den Professor zugetragen worden, er habe sich nur nicht gleich erinnert; dies und jenes hätten die Spatzen von allen Dächern gepfiffen, und es sei ebenso bequem wie einfältig, wenn einer hinter dem Schild seiner Unkenntnis in Abrede stelle, was, leider Gottes müsse man sagen, sonnenklar am Tage liege.

Er glaube es nicht, beharrte Dietrich mit schmerzlicher Wut, er glaube es nicht, und wenn man ihm drei Dutzend Zeugen dafür bringe. Nichts sei glaubwürdig, was unter den Menschen von Mund zu Mund gehe, und da das Reinste nicht rein bleibe, weshalb solle er das Schmutzige und Niederträchtige unüberprüft für bare Münze nehmen? Er glaube es nicht, keine einzige Silbe glaube er, und es ihm einreden zu wollen, sei eine Schlechtigkeit.

»Hör mal, Oberlin, das ist närrisch,« mischte sich Georg Mathys in den Zank; »du ereiferst dich sinnlos. Es handelt sich doch hier mehr oder weniger um Tatsachen, und die Wahrheit kann ergründet werden, falls uns darum zu tun ist. Dünkt es dich denn etwas so Unerhörtes, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Schranken der Zucht brechen? Da weißt du eben nicht, wie durchhöhlt der Boden ist, auf dem sich unsere Existenz abspielt und wie nah wir beständig am Abgrund schreiten. Wie in einem Raum, aus dem nach und nach die Luft ausgepumpt wird, sind die Menschen unserer Welt zusammengepfercht, und in ihrer Erstickungsraserei zerfleischen sie einander die Brust. Geh nur hinaus zu ihnen, du wirst es schon erfahren.«

»Keine Gemeinplätze, ich bitte dich darum,« rief Dietrich, »es macht mich wild. Wozu verhilft dir das Wissen? Sie leben, und keinen hast du in dir drin. Du mußt nicht allen Verstand alleine haben wollen. Ich glaub dir nicht, ich glaub euch nicht, ihr redet so und handelt anders. Sei ehrlich, antworte ohne Hinterhalt: kannst du sie dir in solchem Pfuhl denken? Ruf dir doch das Bild zurück! Und du, Richter, denk doch, denk doch! Hat euch nicht das Herz geschlagen und seid ihr nicht vor ihr dagestanden, als hätt euch der Erzengel mit silberner Fittich gestreift? Nun laßt ihrs zu, daß man Unrat über sie schüttet. Das ertrag ich nicht.«

Richter und Mathys tauschten einen vielsagenden Blick. Der von Mathys bat um Einhalt, er begriff das Außersichsein Dietrichs, die flehentliche Berufung plötzlich besser und tiefer als der eigensinnige Justus Richter, der sich verbissen hatte und sich für die Schwester beleidigt fand. Es kam auch eine Art Männerärger hinzu, den er darüber verspürte, daß Oberlin sich so maßlos einsetzte für ein weibliches Wesen, auf das er so wenig Anrecht besaß wie Justus selbst. Er wollte es nicht gelten lassen, sprudelte etwas hervor von Borniertheit und Überheblichkeit und sagte spöttisch, wenn Dietrich seine Informationen von Hanna Landgraf beziehe, mit der er ihn gestern in der Strandallee gesehen habe, brauche er nicht weiter stolz auf seine Wissenschaft zu sein; die werde ihm sicherlich keinen reinen Wein einschenken. Georg Mathys, der das Erblassen Dietrichs bemerkte, wies die Rüpelei Richters scharf zurück, und nun gerieten die zwei einander in die Haare, während Dietrich mit verschränkten Armen am Fenster stand und in ihre Gesichter schaute, die ihm häßlich vorkamen wie Fratzen.

Auch als am Abend wieder versöhnlichere Stimmung eintrat, blieb in allen der bittere Bodensatz. Es war keine freie Verständigung mehr, die Harmlosigkeit war gewichen, der schöne Dreiklang hatte sich in Mißtöne zersplittert, und jeder einzelne hatte das Gefühl, daß die Zeit abgelaufen und es ratsam sei, sich zu trennen. Richter war der erste, der den Mut hatte, es zu sagen; am andern Nachmittag schon reiste er nach Hause. Zu seiner Überraschung teilte ihm Oberlin auf dem Bahnhof seinen Entschluß mit, den Winter in Heidelberg zu verbringen und dort die Prüfungen abzulegen. »Dann werden wir uns ja hoffentlich viel sehen«, antwortete Justus Richter herzlich, und bevor er ins Coupé stieg, umarmte er den Kameraden, nicht ohne Scheu, als wage er es nicht ganz, ihn seiner Zuneigung zu versichern. »Trotz allem, Oberlin«, sagte er lachend.

Am folgenden Tag nahm auch Georg Mathys Abschied. Er fuhr zu Verwandten nach Luzern und wollte Ende Oktober in Basel sein. Sie hatten darüber ein kurzes Gespräch, und an dessen Schluß sagte Mathys: »Zu verabreden haben wir nichts. Ich denke, es kann dir jetzt wenig passen, dich zu binden. Mir ist, als gingst du weit von mir weg, wenn ich dich jetzt verlasse, auf eine weite Reise. Ich weiß nicht, was in dir vorgeht, ich spür nur deine Ungeduld und dein erregtes Herz. Ich hab Angst um dich; ich sag es geradeheraus, dumme, gemeine Angst, und ich genier mich, daß ich vor dir stehen und dich ermahnen soll wie eine fromme Tante. Halt deine Sinne beisammen, kleiner Bruder; heut nacht träumte mir, eine tolle Bestie hätte dich im Wald überfallen und in Stücke zerrissen. Menschen wie du sind auf der Welt, um ihre Erlebnisse mit Blut zu bezahlen. Gib wenigstens nicht alles Blut aus deinem Leibe her. Was ich da rede, hat gar keinen Kern, ich tappe nur so in der trüben Ahnung; es ist mir ein Gesicht erschienen, vor dem ich erschrocken bin, und außerdem haben deine Augen jetzt was merkwürdig Geisterhaftes. Sei auf deiner Hut, Oberlin, und wenn du mich brauchst, du weißt, dann bin ich da.«

Dietrich nickte, bewegt und verwundert.


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