Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die zweite Stufe

Rottmanns Brief

Hochverehrte Frau Ratsherrin, es geschehen in der Schulgemeinde Hochlinden schlimme Dinge, vor denen Eltern ihre Söhne zu schützen verpflichtet sind. Wenn in einer Zeit der hemmungslosen gedanklichen Ausschweifungen in willensschwachen Jünglingsseelen der Keim der Verführung aufschießt, trifft es nur diejenigen überraschend, die zuvor die Augen in gutmütiger Blindheit geschlossen hatten. Beifolgender Zeitungsausschnitt wird Ihnen einen Begriff davon geben, bis zu welch bedenklichem Grad das Unwesen gediehen ist. Die Öffentlichkeit nimmt Anstoß, der Stein kommt ins Rollen, man wird sich mit den erzieherischen Grundsätzen des Doktor von der Leyen an maßgebender Stelle auseinandersetzen und den Stachel zu entgiften suchen, den er in leider allzu empfängliche Gemüter zu senken weiß. Wobei ich mir und andern nicht verhehle, daß man es mit einem Mann von hohen Gaben zu tun hat, von einer ungemeinen Kraft der Beeinflussung, der aber in der Hoffart und Rücksichtslosigkeit des entschlossenen Theoretikers keine Grenze achtet, auch die heiligste nicht, und lieber das ihm anvertraute Menschengut zugrunde richtet, als von dem einmal beschrittenen Wege abweicht. Um die gebotene Ehrerbietung nicht zu verletzen, darf ich in meinen Andeutungen nicht ausführlicher werden; nur so viel will ich erwähnen, daß ich mit offenem Visier auf den Plan trete, mich der Verantwortung in keinem Punkt entziehen werde und mich, was den unzüchtigen Vorfall betrifft, der die letzte Ursache meiner Trennung von Doktor von der Leyen war, auf das freie Eingeständnis Ihres Sohnes Dietrich mir gegenüber und vor einem Zeugen berufen kann. Legen Sie es einem fernstehenden, aber ergebenen Freund nicht zur Last, hochverehrte Frau, daß er es wagt, Sie mit solchen Widrigkeiten zu belästigen. Seine Erwägung ist, eher das Odium des Angebers auf sich zu nehmen, als unter dem Gewissensvorwurf zu leiden, er habe das äußerste nicht getan, um eine würdige Familie vor Schande zu bewahren und einen jungen Menschen, der ihm trotz verzeihlicher Charaktermängel wert ist, einer mit jedem versäumten Tag drohender sich gestaltenden Gefahr zu entreißen. In besonderer Hochschätzung Alfred Rottmann, Lehrer, zur Zeit Freiburg, Domgasse 8.


 << zurück weiter >>