Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Unbedingte

Die Stunden, die nun folgten, hinterließen in Dietrich den Eindruck zusammenhangloser Bilder. Begegnungen, Gespräche, Gesichter, Gebärden, es war wie Spiegelung im Wasser. Er blieb stehen, und die Geschehnisse rollten vorbei; er ging, und Dinge und Menschen verschwanden im Nebel. Er war nicht traurig und nicht heiter, nicht tätig und nicht schlaff; es war etwas mit ihm vorgegangen, das ihn unter neue Gesetze stellte. Er bereitete sich auf einen Kampf vor; Duell mit einem mächtigen, unsichtbaren Gegner. Er sammelte sich. Er schöpfte Atem.

Die Leiche der Toten war in die Oberlinsche Villa gebracht worden, in das Musikzimmer neben dem Vestibül. Leute gingen fortwährend ein und aus. Als der Professor mit festem Schritt durch den Flur ging, wichen sie ehrerbietig zur Seite und einige grüßten stumm.

Frau Landgraf hatte man ohnmächtig in einen Wagen gesetzt. Sie ins Hotel zu schaffen, verbot sich. Dietrich öffnete den fremden Gästen sein Haus, und Justus Richter erhielt den Auftrag, es dem Professor mitzuteilen. Der nahm es dankbar an, hauptsächlich im Hinblick auf den Zustand seiner Gattin, an deren Lager der Arzt gebeten wurde. Mathys und der Gärtner hatten sie in eines der Fremdenzimmer im zweiten Stock getragen; sie war aus der Bewußtlosigkeit noch nicht erwacht. Später weinte sie ununterbrochen vor sich hin. Hanna war um sie bemüht. Der Professor zeigte sich im weiteren Verlauf beherrscht. Es schien ihm angenehm, in Justus Richter den Sohn eines Amtskollegen zu finden; es befreite von dem Gefühl, sich völlig Unbekannten zu verpflichten. Daß die Leiche nicht überführt, sondern in Ermatingen beerdigt werden sollte, beschloß er noch am Abend. Notwendige Formalitäten zu erledigen, durfte man nicht säumen. Die sommerliche Temperatur ließ das Verbleiben der Leiche im Haus länger als über die Nacht untunlich erscheinen. Es mußte der Sarglieferant noch aufgesucht werden, Verhandlungen mit dem Pfarrer, mit der Ortsbehörde und mit dem Distriktsarzt wegen des Totenscheins waren anzuknüpfen. Mathys und Justus Richter erklärten sich mit Eifer zu Hilfe bereit; sie wurden von einem Nachbar der Oberlins, Regierungsrat Westerland, tätig unterstützt; er war an der Unglücksstätte gewesen und bewies nun dem Professor beflissenen Anteil. Dietrich, auf den man ebenfalls rechnete, war so geistesabwesend und gab so verkehrte Antworten, daß man schließlich auf seine Mitwirkung verzichtete. Der Regierungsrat bestellte telephonisch ein Auto und fuhr mit den jungen Leuten weg.

Das alles war für Dietrich fern; Geräusche, Huschen von Schatten. Zweimal begegnete er Hanna auf der Treppe. Das eine Mal fragte sie ihn um den Weg nach der Küche; er geleitete sie; das andere Mal suchte sie eine fehlende Ledertasche; das Gepäck war vom Adlergasthof geholt worden. Er erkundigte sich, wie es ihrer Mutter gehe; sie dankte mit flüchtigem Blick und antwortete unbestimmt.

Er verließ das Haus. Da fast alle Fenster des Gebäudes erleuchtet waren, dehnten sich die Gartenwege hell. Er vernahm die knöchern-harte Stimme des Professors durch ein offenes Fenster oben. Es klang, wie wenn jemand Rechenschaft verlangt oder Umstände aufzählt, mit denen er einen Widersprechenden zum Schweigen bringen will. Aber es war kein Widerspruch. Niemand antwortete. Die Stimme ereiferte sich, erbitterte sich, und niemand antwortete. Dietrich mochte nicht lauschen. Er verstand nur diese Worte: »Ich bin dazu verdammt, unter Unzulänglichen zu leben und zuzusehen, wie meine Kraft im Wesenlosen zerschellt. Wer Unheil ahnt, dem geschieht Unheil. Der Fluch ist, alles zu wissen und nichts verhüten zu können.«

Unerwarteter erster Blitz in das entlegen gewesene Dasein von Menschen, die er gestern noch nicht gewußt, die heute unter seinem Dache wohnten, ihm verbunden durch eine Tote.

Er verbarg sich, als er die Freunde zurückkommen hörte. Eine Weile unterhielten sie sich auf dem oberen Balkon; offenbar hatten sie ihn gesucht, denn er vernahm mehrmals seinen Namen. Vom Herumirren müde, warf er sich auf den Rasen. Die Finsternis sang wie eine Orgel, aber es verlangte ihn nach dem Anblick der Sterne. Mit seinen Händen umgriff er das schaurig hinrinnende Schicksal, die Augen hingen an der verborgenen Welt; Leiden durchdrang ihn.

Um Mitternacht erhob sich Wind und trieb ihn empor. Das Haustor war versperrt, er hatte die Schlüssel nicht, aber an der Seitenfront war ein Fenster offen, er kletterte am Birnenspalier hinauf und stieg ein. Er befand sich in dem Boudoir der Mutter neben dem Musiksalon. Mit pochendem Puls zauderte er, die Hand auf der Klinke, dann betrat er den Raum, in dem die Leiche lag.

In der Ecke hinter dem Klavier brannte eine elektrische Flamme. Die Frau des Gärtners war zur Wache bestellt worden, aber sie schlief fest in einem Sessel neben der Toten; auf dem Teppich vor ihr kauerte seltsamerweise der Neufundländer.

Dietrich trat zur Bahre und blickte auf die marmornruhende Gestalt herab, über die bis an den Hals ein graues Tuch gebreitet war. Unheimlich blumenhaft, wie das Gesicht aus dem Dunkel sproßte. Die Schußwunde war vom Haar verdeckt. Die Schönheit der Züge war ins Unirdische gesteigert, vielleicht gerade in dieser einen Stunde, wo das Leben mit einem letzten, schon kristallnen Abglanz in den Tod mündete. Hier endete der Schmerz; dies zu schauen hieß an der Grenze sein und Auferstehung ahnen oder das Nichts. Was Dietrich auf die Knie niederzog, war jenseits von Gefühl und Willen, auch was ihn zwang, die Hände zu falten und zu beten.

Er betete das Vaterunser. Es war einfach, es lag nahe, es drückte neben Altgeläufigem und Verständlichem ein Mysterium aus, an das noch kein Gedanke von ihm gerührt hatte.

Der Hund war aufgestanden und an seine Seite getreten. Jetzt knurrte er, und als Dietrich sich erhob, fiel ein Schatten vor ihn. Sich ohne Neugier umwendend, gewahrte er Hanna Landgraf. Sie musterte ihn schweigend, in ihrem Blick war Angst. Ihre Lippen öffneten sich zu einem Hauch und schlossen sich wieder, sie senkte den Kopf und legte die gekreuzten Hände an die Brust.

Dietrich grüßte stumm und wollte den Raum verlassen. Er lenkte den Schritt mechanisch, weil er von dort gekommen war, gegen das Boudoir. Rust folgte ihm. Noch hatte er die Schwelle nicht erreicht, als er aus dem abermaligen Knurren des Hundes schloß, daß das junge Mädchen hinter ihm ging. Er hielt die Tür offen, sie trat ein, er machte die Tür wieder zu. Sich mit ausgestreckter Hand gegen den Neufundländer wehrend, der mit Groll sich wider sie stellte, sagte sie bebend: »Was hat das Tier? Ich begreife nicht, was es von mir will.«

»Ich versteh es auch nicht,« antwortete Dietrich befangen; »still, Rust, Platz!« gebot er. Der Hund gehorchte unwillig. Dietrich machte Licht.

Hanna ging auf und ab, lange Zeit; dann blieb sie am Fenster stehen und schaute in die Dunkelheit hinaus. Sie trug das weiße Kleid vom Tag, darüber jedoch einen venezianischen schwarzen Schal, der die schlanke, mehr als mittelgroße Gestalt bis über die Hüften einhüllte und ihr etwas zugleich Bescheidenes und Würdevolles verlieh. In ihrem ganzen Auftreten machte sich diese Mischung geltend, in der Sparsamkeit der Bewegungen namentlich.

Plötzlich drehte sie sich um und sagte gereizt: »Warum sehen Sie mich so an? Warum verfolgen Sie mich immerfort mit demselben Blick? Glauben Sie, das spürt man nicht? Schon am Wald droben; und so oft ich Ihnen im Haus begegnet bin: derselbe Blick. Hat es etwas zu bedeuten?«

In der Tat hatte Dietrich, wahrend sie am Fenster stand, mit dem Rücken gegen ihn, die Augen nicht von ihr gelassen. »Nichts,« erwiderte er scheu und fast erschrocken, »es bedeutet nichts Besonderes.«

»Nichts Besonderes, aber doch etwas. Sprechen Sie!«

»Nichts, als daß Sie die Letzte waren, der letzte Mensch, der mit ihr geredet hat. Der letzte Mensch, der sie aufrecht stehend und lebendig gesehen hat. Wenn man es so sagt, ist es nichts Besonderes; für mich ist es viel. Um halb sechs Uhr war es, daß sie an mir vorübergegangen ist. Sie hat mich wohl kaum bemerkt, ich glaube wenigstens nicht. Aber seitdem weiß ich, seit sieben Stunden weiß ich, was Leben ist. Und seit fünf Stunden weiß ich, was Tod ist.«

Er hatte ruhig und in sich gekehrt gesprochen. Seine Mienen hatten einen Zug von Erschöpfung. In den Mundwinkeln war ein zuckendes Kinderlächeln.

Hanna Landgraf ging ein paar Schritte auf ihn zu, blieb stehen, dachte lange nach, dann hob sie den Kopf und schaute ihn mit tiefster Aufmerksamkeit an. Hierauf flüsterte sie mit einem Ausdruck düsterer Betroffenheit: »So also. Das also.«

Sie setzte sich auf ein Taburett, verschränkte die Hände über den Knien und sah mit dem gleichen Ausdruck zu Boden. Wieder betrachtete er dieses Gesicht; wieder konnte er den Blick nicht von ihm lösen.

Er suchte darin das Gesicht der Andern, das Gesicht der Toten. Er glaubte es zu finden. Es leuchtete wie Feuer durch Rauch, das andere, und er war dem lebendigen Gesicht dankbar. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob es ein anziehendes oder sympathisches Gesicht war. Es schien ihm ein Gleichnis zu sein, dessen Sinn erst enträtselt werden mußte, die gebliebene Nachahmung eines unwiederbringlich verlorenen, unendlich kostbaren Originals. Etwas Zerflatterndes war ihm eigen; es wechselte in der innern Form; verging und tauchte wieder auf, war beseelt und wieder leer; voll Maß und Stille, dann wieder quälend bewegt.

Das Haar, weit dunkler als Cäcilies Haar, fast schwarz, war nicht kurz gehalten, sondern über dem Nacken in einen reichen Knoten gefaßt, über Schläfen und Ohren in natürlichen Wellen fließend. Das Seltenste, graublaue Augen im Gegensatz zu dunklem Haar, sah man an ihr; der Blick war bald fest und stark, bald schwankend und abgleitend; die Brauen lang geschwungen und ungewöhnlich dicht. Der Mund war zur Mitte hin in einer harten Linie emporgehoben; die schmale Nase gab den Zügen einen stolzen Charakter, so wie die bronzene Bräune der Haut, unter der die Blässe schimmerte, einen fremdartigen. Stolzes und Wildes, Energisches und Weiches, Verschlossenes und Unstetes hatte keinen Punkt, wo es sich sammelte; auch enthüllte es sich nur nach und nach, den verschiedenen Empfindungen und Trieben gemäß, denen das innere Wesen hingeworfen war oder sich versucherisch, empörerisch zur Beute lieh. Dietrich spürte es; es wurde ihm wie Botschaft kund: Region der Leidenschaft und der Gefahr.

Auf einmal kam es, unerwartet ihm selbst, von seinen Lippen und durchschnitt ein Schweigen, wie es zwischen einander fernen Menschen nicht zu herrschen pflegt: »Warum hat sie es getan?«

Als Hanna nicht antwortete, nur eine Geste feindseliger Abwehr machte, wiederholte er im nämlichen fallenden Rhythmus: »Warum hat sie es getan?«

»Ich weiß es nicht,« sagte Hanna finster, »fragen Sie mich nicht.«

»Nie werde ich aufhören, es zu fragen«, entgegnete Dietrich leise. »Sagen Sie es mir. Sie wissen es. Sie müssen es wissen. Sie müssen es sagen.«

Sie sprang auf. »Ich wünsche, daß man mich in Frieden läßt,« stieß sie verächtlich-böse hervor, doch gleichfalls flüsternd, als dürften die Worte nicht zu der Toten im Nebenzimmer dringen, »niemand hat das Recht, mich zu foltern, niemand hat das Recht, mich zu fragen. Wollen Sie es dem Tier dort gleichtun und mich stellen, weil Sie ein Geheimnis wittern? Bilden Sie sich ein, ich sei Ihnen eine Beichte schuldig, bloß weil mich der Zufall in Ihr Haus verschlagen hat?«

»Davon ist keine Rede«, sagte Dietrich kopfschüttelnd. »Wozu Hohn und Schimpf? Bin ich vorläufig in Ihren Augen des Vertrauens nicht würdig, so muß ichs zu begreifen suchen und mich fügen. Aber ich hoffe, daß Sie mich deshalb nicht gänzlich zurückstoßen, daß Sie mir wenigstens die Erlaubnis geben, um das Vertrauen zu werben. Es ist kein bloßer Zufall, daß ich vor Ihnen stehe und daß Sie da sind, heut in der Nacht. Wollen Sie mir verbieten, zu fragen, so machen Sie etwas Häßliches aus mir, einen Spion, der Ihnen folgen wird wie Ihr Schatten. Räumen Sie mir also das kleine Recht ein, aus Gnade, aus Mitleid, damit ich weiterleben kann.«

Bei diesen Worten malten sich Verwunderung und Bestürzung in ihrem Gesicht. »Wie merkwürdig,« murmelte sie, »wie furchtbar ...« Und wie zuvor schaute sie ihn mit tiefer, unruhiger Aufmerksamkeit an.

»Was? was ist merkwürdig, was ist furchtbar?« fragte er kaum vernehmlich.

Sie stammelte in einer Art von Ratlosigkeit: »Dieses ... dieses Unbedingte ... dieses ... ich weiß kein Wort dafür ... auch sie hatte es ... auch sie konnte so reden. Wer sind Sie eigentlich? Den Namen kenn ich natürlich; wir haben Ihnen ja für viele Freundlichkeit zu danken ... Sie müssen mir von sich erzählen ... Ja, gewiß, wir wollen miteinander sprechen ... aber nicht jetzt, nicht hier ... lassen Sie mich gehen jetzt ...«

Alles das flüsterte sie hastig, verwirrt, widerwillig beinahe, in Eile loszukommen. Sie ging auf die Tür zu, dort hielt sie inne und horchte. Auch Dietrich hörte ein Geräusch: wie wenn nackte Füße langsam über Steinfliesen gingen; dann war ein Seufzen, dann war es wieder still.

Sie sahen einander an. Der Blick des Grauens und Horchens war eine Brücke, die ihnen den Weg zueinander wies und sie stärker verband als die gewechselten Worte.


 << zurück weiter >>