Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

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Der Traum vom doppelten Ich und der Traum vom Weinen

Dietrich schrieb ihr, er sei wie gelähmt gewesen von der Nachricht ihrer Abreise. Er habe es nicht zu begreifen vermocht. Er sei zu dem Schluß gekommen, daß es Flucht sei. Warum sie vor ihm fliehe? Jetzt fliehe, wo alles zwischen ihnen vollgerüttelt Maß von Fragen sei? Er könne sich nicht darein finden; ihre Abwesenheit dünke ihn Verrat. Er horche auf die Treppe hinaus, ob nicht der Schall von ihren Tritten erklinge. Von seiner Mutter habe er einen Brief, doch sei er nicht imstande, ihr zu antworten. Da er sich vorgenommen habe zu arbeiten, arbeite er auch, aber es sei mit seinem Kopf, wie wenn man an die Dauben eines hohlen Fasses schlage. Er habe nicht geahnt, daß Trennung etwas so Herzbeklemmendes sei. In ihm sei das Unterste zu oberst gekehrt; ihr Wort fehle ihm, der Ton ihrer Stimme fehle ihm; er sitze da und rede in die Luft manchmal und warte auf ihr Wort. Wenn sie ein Fünkchen Gefühl für ihn in der Brust trage, möge sie zurückkehren. Er verspreche, sich des Fragens zu enthalten, falls sie es fordere; er wolle sich nach ihrem Befehl und Gefallen richten; alles sei auf einmal schauderhaft leer, zu viele Ungewißheit bedränge ihn.

Hanna antwortete, sie habe nicht aus Laune und Bosheit so gehandelt. Sie sei nicht fortgegangen aus Furcht vor seinen Fragen. Es sei nicht Flucht, wenn es auch so scheine, wenn sie auch der Entwicklung der Dinge zwischen ihr und ihm mit Bangen entgegensehe. Über die Raschheit ihres Entschlusses sei sie ihm Erklärung schuldig. Aber da sie das Vertrauen habe, daß alles, was er tue, aus tiefem Antrieb seiner Natur geschehe, müsse er gleiches Vertrauen fassen. Wie sie ihn keiner niederen Regung für fähig halte, dürfe auch er nichts Schlechtes von ihr glauben, und nur, was sie selbst ihm eröffne, dürfe er annehmen. Seine Achtung wolle sie besitzen. Ohne die sei ihr das Leben leid. Der Gründe zu ihrer plötzlichen Abreise seien so viele, daß sie Mühe habe, sie aufzuzählen; zunächst hätten äußere Geschehnisse von einer Stunde zur andern den Ausschlag gegeben. Im Hause habe wieder einmal das Geld zum Nötigsten gefehlt, die Mutter habe eine bedeutende Summe zahlen sollen, und der betreffende Gläubiger habe sie vor den Dienstleuten gröblich beschimpft. Nach Dietrichs Weggehen habe sie eine heftige Szene mit der Mutter gehabt, weil sie sich geweigert habe, dem Vater Mitteilung zu machen. Der Vater sei unerwartet dazugekommen; sie, Hanna, habe ihn zur Rede gestellt, ihm das gedemütigte Leben der Mutter, die frivole Mißwirtschaft, seine Verschwendung vor Augen geführt. »Ich mußt es herausschreien,« schrieb sie, »ich mußt es ihm sagen, ich mußte sein Gesicht sehen, während ich es sagte. Er aber, er hat mir seine eiskalte Verachtung entgegengesetzt; er zündete sich eine Zigarette an und fragte, woher ich die Stirn nähme, in sein beanspruchtes Dasein zu greifen, ob ich es nicht vorziehe, mit meinem Geliebten das Weite zu suchen; ihn gelüste nicht nach der Nähe einer Tochter, die nicht willens und nicht geschaffen sei, eine Existenz wie die seine zu begreifen. Mit meinem Geliebten? Ich erschrak bis in die Seele. Damit meinte er dich, Dietrich Oberlin. Er nannte dich auch. Er hatte von der geringsten Einzelheit unseres Umgangs Kenntnis, er hat mich behandelt, daß selbst die Mutter außer sich geriet. Und kalt, weißt du, immer eiskalt. Was ist mir da anderes übrig geblieben als fortzugehen? möglichst schnell, möglichst weit fort ...? Und die Verwirrung in meinem Gemüt all die Tage vorher schon, das grenzenlose Treiben in einem dunklen Strom. Jetzt bin ich also fort, die Wege sind zerbrochen. Aber ich denk an dich, Dietrich, Tag und Nacht denk ich an dich.«

Dietrich antwortete in beschwingter Eile; heiße Bestürzung atmete aus seinen Worten. Zehnmal in verschiedenen Wendungen wiederholte er dasselbe: daß es die äußerste Pein für ihn sei, sie fern zu wissen, daß sie zurückkehren möge. Nun klang die Sehnsucht schon lauter und kühner. Ihrer Mahnung zum Vertrauen hätte es nicht bedurft, doch sei in seinem Blut ein Tropfen Gift, in seinen Träumen eine finstere Bosheit; ohne das lebendig getauschte Wort könne er beides nicht bewältigen. Er müsse ihre Augen wieder vor sich sehen, ihre still und wahr versichernde Gegenwart wieder haben. Wenn sie nicht da sei, schwinde auch Cäcilie sogleich im Nichts hin, dann sei er so arm, daß ihn friere, dann ekle ihm vor dem Licht des Morgens, dann werde das Buch, das er aufschlage, klebrig wie Schlamm. Ob er nicht zu ihr kommen dürfe? Wovor sie denn bange sei? Ob etwas an ihm sie verdrossen oder enttäuscht habe? Ob sie ihn anders haben wolle, als er sei?

Darauf schrieb Hanna: »Lieber, herzenslieber Dietrich, kommen darfst du nicht, sonst ist alles aus. Überlaß es mir, zu bestimmen, wann wir uns wiedersehen dürfen. Wovor mir bangt, fragst du? Mir bangt vor meinem Abbild in dir. Mir bangt vor meiner Schwester Bild in dir. Die Schwester, denk es, faß es: sie liebst du, sie ist dein ein und alles. Soll sich das vermischen? Tod und Leben unheilvoll ineinanderfließen? Cäcilie und ich, dürfen wir uns in dir begegnen? Mir bangt, auch dieses sollst du wissen, mir bangt vor deiner Jugend, und daß du dastehst mit deinem reichen wilden Herzen. Ich kann dir nichts geben. Unsere Jahre, sind sie auch annähernd gleich, öffnen doch eine Kluft zwischen uns; die zwei oder drei, die ich voraus habe, machen mich verantwortlicher; ich habe mehr erlebt, Schwereres erlebt, ich bin für dich schon alt. Ich werde zaghaft, wenn mich dein redlich klarer Blick trifft, und oft wieder möcht ich dich einschließen, wie man seltene Vögel in ein Bauer sperrt, damit dir die Menschen nicht rauben können, was mir so teuer an dir ist. Ich bin besser geworden durch dich, das ist fast ein Schmerz, denn da geht man strenger mit sich ins Gericht und erschrickt vor der Tiefe, in die man hätte sinken können und vor der, in die man schon gesunken ist. Freunde stehen unsichtbar um dich und schützen dich, das sind meine Feinde; denn all mein Inneres strebt zu dir. Aber ich darf dir auch nichts anderes sein als die freundlichste Freundin, und so sollst du mich in deinem Sinn bewahren.«

War dies darauf berechnet, die Glut zu schüren, so wurde der Zweck erreicht. Es folgte gleich ein zweiter Brief Hannas mit der Mahnung zur Arbeit, einem klugen Programm künftiger Lebensgestaltung. So weise sind nur die, die heimlich wünschen, daß man ihnen die Entsagung aus dem Herzen schmeicheln soll. Sie wußte um die richtunggebenden Ereignisse aus Dietrichs Vergangenheit; sie wußte von Lucian und wies ihn auf den Bewunderten hin, als ob er dessen Spruch sich erst zu fügen hätte und als ob sie Dietrich erinnern müßte an die höhere Menschenpflicht. Dietrich aber erwiderte, von Lucian sei er jetzt geschieden, von den Freunden sei er geschieden, von der Mutter sei er geschieden. Es gäbe kein Leben mit Menschen mehr, wenn sie sich ihm entziehe. Vor ein paar Tagen sei er am Kornmarkt Justus Richter begegnet, der sei entsetzt gewesen über sein Aussehen; ob er krank sei, habe Justus gefragt, ob er zu ihm kommen könne. Dann sei er auch gekommen, habe erzählt, Lucian befinde sich in einem Dorf bei Heilbronn beim Pfarrer Langheinrich, dem Verfasser der Schwäbischen Laienpredigten, und arbeite an seiner Verteidigungsschrift für die Verhandlung; Richter habe ihn besucht und einen verbitterten Grämling gefunden; nach keinem Menschen habe er gefragt, nur nach ihm, Oberlin. Das zu hören habe ihn stark betroffen, aber er habe das Gefühl, der Weg zu Lucian sei jetzt so weit, daß er das ganze übrige Leben brauche, um zu ihm zu gelangen. Einmal vielleicht müsse er hin, das spüre er, aber dann sei kein Zurück mehr verstattet, gnadenlos verstoßen werde er dann sein. »So hab ichs immer gefürchtet und gehofft,« schloß der Brief, »daß ein Wesen da ist, nach dem ich begehren muß wie nach der unerfüllbaren Seligkeit. Bist dus oder ists Cäcilie? Ich weiß es nicht mehr. Schreib ich deinen Namen, so schallt mir der andere entgegen; es ist wie verzaubertes Echo; denk ich Cäcilie, so schaut mich Hanna an. Willst du mich zugrund richten, so bleib, wo du bist; wenns noch lange dauert, bis du kommst, leg ich mich hin und sterbe. Alle Farben werden mir schwarz, alle Sterne löschen aus, alles Geredete wird Lüge.«

So war es also die Sprache der Leidenschaft geworden, und das aufgeflammte Feuer ergriff die Beiden, die es genährt hatten. Hanna beschwichtigte und mahnte, aber hinter den Worten war Jubel und freudiger Schrecken. Dies erfaßte Dietrich nicht; er glaubte sich geopfert; er mißverstand das Zögern, begriff nicht die Angst. Er schmiedete abenteuerliche Pläne, versprach Gehorsam, forderte ungestüm, was ihm die Natur befahl, doch daß er liebte, das wußte er nicht, das Wort Liebe schrieb er nicht nieder, so wenig, wie er es bedachte oder Maß und Gleichnis dafür in einem schon gelebten Gefühl hatte. Es war neu, niemals empfunden und von keinem empfunden. Es war Wirrnis, Zwiespalt, Auflehnung, Gebet, Ruhelosigkeit und Qual. Wo seine ganze Seele beglückt und erschlossen weilte, war dem Leib der Eintritt verwehrt; und wo der Leib sein durfte, sträubte sich in unnennbarer Scheu die Seele; dort, auf der verbotenen Schwelle, stand mit rufend gebreiteten Armen ein Schatten; hier war die lebendige Kreatur, doch in rätselhafter Zweideutigkeit und Drohung.

Als ihm Hanna mitteilte, sie werde kommen, könne aber den Tag noch nicht angeben, setzte vor Glück sein Pulsschlag aus. Sie schrieb, daß sie sich auf einem einsamen Spaziergang dazu entschlossen. Sie habe sich hingedacht an den See, wo sie ihm zuerst begegnet. Es sei Abend gewesen, das Wasser schwarz und still, bloß am Gestade war verschlafenes Klatschen und Blinzeln winziger Wellenlichter. Da habe sie sich ihn in die Landschaft gedacht, in seine Landschaft, und ihn gesehen, wie er sich zum Rohr eines fließenden Brunnens gebückt und in gierigen Schlucken getrunken habe. Davon sei sie ergriffen worden, und nun müsse sie wieder zu ihm.

Darauf schrieb ihr Dietrich, er habe in der letzten Nacht zwei Träume gehabt, und er erzählte die Träume wie folgt.

Er ging durch ein vierbogiges Rundtor, das aussah wie eine Riesenhand, die mit den Fingerspitzen gegen die Erde gesetzt ist. Keine Stimme redete, aber er wußte, daß es entscheidend für ihn sein würde, durch welchen der vier Bogen er ging. Das Tor war ganz aus grünem Stein. Ohne sich lange zu besinnen, ging er geradeaus, und mit dem Augenblick, wo er den Bogen durchschritten hatte, kam eine herzzerreißende Furcht über ihn, denn ihn dünkte, er sei auf einmal außerhalb der Welt. Die Landschaft, die sich vor ihm dehnte, war so grün wie jenes Tor; es war nicht das Grün, wie es die Blätter haben, nicht das Grün des Mooses, nicht das Grün von alten Kupfergefäßen, es war ein Grün, das er noch nie gesehen, ein finsteres böses totenhaftes Grün. Darüber wölbte sich etwas wie ein Himmel; aber es war kein Himmel, es war eine weißliche Blase, aus deren unteren Rändern weißliches Licht strömte. Weit und breit keine Seele, die vollkommenste Verlassenheit. Von Furcht bis in die Knochen geschüttelt, dachte er: jetzt werd ich endlich wissen, woran ich bin. Zu rasten war ihm nicht erlaubt, er mußte gehen, beständig vorwärts gehen. Er wollte sich beschweren, daß er müde sei, aber das Wort müde fiel ihm nicht ein, er dachte statt dessen bloß: grün. Der Furcht gesellte sich ein eigentümlich wehes Hinziehen, das seinen Ausdruck fand in dem Verlangen nach einem Versteck. Alles schien ihm davon abzuhängen, daß er sich verstecken könne; aber, sagte er sich, es ist außerhalb der Welt, wo ich bin, und außerhalb der Welt gibts kein Versteck. Doch ich bin ja da, fuhr er zu überlegen fort, und wenn ich da bin, muß ich mich doch auch finden. Finden? also bin ich nicht da! Diese Worte sprach er laut; sie weckten ihn auf wie sechs Hammerschläge, er seufzte, hörte sich seufzen und schlief im Seufzen sogleich wieder ein. Da sah er in großer Ferne eine schwärzliche Figur; zuerst wars wie Ahnung, dann wuchs es aus dem Grünen heraus, stellte sich schwarz gegen das niederrieselnde Weiß, dieses Geisterlicht, das Himmel zu sein log, und bewegte sich, nicht auf ihn zu, sondern von ihm weg. Er dachte: wohin geht er? Ihn nicht mehr aus dem Auge zu lassen, war ihm plötzlich so wichtig wie das Leben selbst, und mit starr hingehefteten Blicken folgte er dem Unkenntlichen, Unbekannten, Weitentfernten. Da geschah das Grausige, daß er jeden Schritt, den er vorwärts zu gehen glaubte, in Wirklichkeit zurück tat, so als ob der Boden unter ihm enteile und ihn um sein Gehen bringe. Der Andere hingegen näherte sich ihm gerade dadurch, nicht zu ergründen auf welche Weise, und je näher er kam, je mehr wuchs die Furcht vor ihm, unerträgliche, fieberhafte Furcht. Und nun, wie er schon ganz nah war, der Unkenntliche, Unbekannte, bückte sich Dietrich und hob in verzweifelter Wut einen Stein auf und schleuderte den Stein wider ihn. Aber Grauen und Wunder; ihn selbst traf der Stein, und mit einem furchtbaren Schmerz an der Schulter fuhr er aus dem Schlaf empor.

Er wagte lange nicht wieder einzuschlafen, schließlich übermannte es ihn, und er entschlummerte doch. Da kam ein Traum, in welchem er flog. Sanft und beständig flog er in azurne Höhe. Das Firmament öffnete sich, ein Gewimmel von schönen Geistern war um ihn her; die geschmückten Gestalten ordneten sich, eine Scharlachwolke wurde sichtbar, und auf der Scharlachwolke saß Gott. In ergreifender Majestät ruhte er auf der Wolke, und Dietrich schaute hin, aber Gott sah ihn nicht. Er hatte Angst; schon während des Fluges war es sein angstvolles Bestreben gewesen, wieder zur Erde herabgleiten zu dürfen, und jetzt schien ihm die Erfüllung dieses Wunsches davon abzuhängen, daß Gottes Blick ihn traf. Gott aber schaute über ihn hinweg in eine andere Richtung. Er wechselte den Platz; er suchte eine Stelle, wo Gottes Blick ihn treffen mußte. Doch wenn er dann emporsah, erwies es sich, daß Gottes Blick ihn auch dort nicht traf; ja das Auge Gottes schien ihn zu meiden, und auch als er sich genau in der Richtung des Blickes befand, ging der Blick durch ihn hindurch, streng und fremd, ohne ihn zu gewahren. Da wurde er von einem zermalmenden Kummer erfaßt, und er begann zu weinen. Als nun Gott merkte, daß er weinte, lenkte er endlich den Blick auf ihn, und von diesem Moment an sank er zur Erde nieder. Die Angst verwandelte sich in das Gefühl seliger Befreiung; um rascher zu sinken, weinte er absichtlich heftiger, und schluchzend wachte er auf. Das waren die beiden Träume, scheinbar ohne Zusammenhang, dennoch einer aus dem anderen geboren, einer in den anderen mündend, die er Hanna im letzten Brief mitteilte. Und nun erwartete er sie.


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