Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

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Banger Traum

Der Brief Rottmanns und der mitgesandte Zeitungsartikel flößten ihr wohl Schrecken ein, doch faßte sie nicht die Anklage. Unerläßlich erschien es ihr, Dietrich zurückzurufen, und ebenso unerläßlich, genaueren Aufschluß zu erhalten, als der Brief ihn gab. Daher schickte sie zugleich mit dem Telegramm an Dietrich eines an Rottmann und ersuchte ihn, zu einer persönlichen Unterredung nach Basel zu kommen. Einen entsprechenden Geldbetrag wies sie telegraphisch an. Es war eine Reise von zwei Stunden, und er traf noch am selben Nachmittag ein.

Der Mann mißfiel ihr. Sie fand ihn verschlagen, ärgerliche Mischung von Untertänigkeit und Insolenz. Aber das wollte nichts bedeuten gegenüber seinen Eröffnungen, die den Stempel der Wahrheit trugen.

Es war außerordentlich peinvoll. Sie hatte an die bloße Möglichkeit von Dingen nie hingedacht, die dieser schilderte, als seien sie in seinem Beruf alltäglich. Er wählte die Worte mit Vorsicht und errötete sogar vor der strengblickenden Frau, als er von dem Nacktlauf und der mit einem Kuß besiegelten Umarmung notgedrungen sprechen mußte; er schien durchaus nicht zu fühlen, wie niedrig ihn seine Betretenheit machte. Nur zögernd nannte er die Gründe, die ihn bewogen hatten, sich wider die Verfügung aufzulehnen, daß die Knaben sich in völliger Blöße im Freien tummeln sollten. Worüber er sich vornehmlich ausließ, war der verhängnisvolle Geist der Entfesselung, mit dem Lucian von der Leyen seine Schüler erfüllte, die beständige verderbliche Lehre, mit dem Herkommen zu brechen, nichts gelten zu lassen, was bisher unantastbar gewesen, die Schranken des Egoismus und der Genußsucht niederzureißen und sich zu befreien, das heißt kein anderes Gesetz anzuerkennen als das von den eigenen Leidenschaften diktierte.

Da aber Dorine Fakten zu erfahren begehrte, beweisbares Einzelnes, Worte, Handlungen, Geschehen, zitierte er Gespräche und Reden, deren Zeuge er gewesen, erbot sich, Tagebuchnotizen vorzuweisen, schilderte die Art des Umgangs von Lucian mit den Zöglingen, die fangende, verfängliche, Neugier und Wißbegier aufreizende, den jugendlichen Enthusiasmus mit schlauester Herzenskenntnis weckende; wie ein Ausspruch über Eltern, Häuslichkeit, Religion, Staat als ätzender Tropfen in die jungen Seelen träufelte, unlöslich vermengt mit Freundschaft, Zutrauen, Interesse, und wie durch ein Lächeln, ein Achselzucken zunichte gemacht werde, was Liebe und redliche Bemühung der Angehörigen aufgebaut. Darum sei es ihm gegangen, sagte er zum Schluß, daß diese wenigstens zu wissen bekämen, wo der Verwüster zu suchen sei, wenn sie eines Tages entdeckten, daß ihre Hoffnung in Scherben vor ihnen läge; in einer Welt, in der der Idealismus ohnehin zum Tod verurteilt sei, habe er sichs zur Pflicht gemacht, sich gegen die Henker zu stemmen, auch gegen so geschickt vermummte wie von der Leyen einer sei.

Dorine ging im Zimmer auf und ab wie eine Tigerin. Weshalb man ihr denn die Anstalt empfohlen habe? Gebe es also solche, die das leichterdings auf ihr Gewissen nähmen ? Ob er glaube, daß die Folgen unabänderlich und unheilbar seien? Ob er es einer besonderen Anlage Dietrichs zuschreibe, daß er nach so kurzer Frist in den Mittelpunkt des abscheulichen Treibens getreten sei? Was sie tun, wie sie sich ihm gegenüber verhalten solle?

Sie redete eigentlich laut mit sich selbst, erschrak auch über sich selbst, faßte sich, schnitt die gewundenen, mit Philosophie und Schmeichelei verbrämten Trost- und Beileidsfloskeln des Mannes schroff ab, dankte ihm für seine Willigkeit und guten Dienste, fragte, ob sie sich bei Gelegenheit seiner erinnern dürfe und entließ ihn.

»Den Jungen wieder auf die rechte Bahn zu bringen, wird keine Schwierigkeit haben, der ist aus prächtigem Stoff,« war sein letztes Wort, auf das sie nur ein höfliches Kopfnicken hatte. Als er draußen war, zeigte ihre Miene Widerwillen. Nein, dachte sie verächtlich, jetzt keinen mehr von euch Seelenquacksalbern, jetzt heißt es, Aug in Aug mit ihm sein und sehen, was verdorben ist und was zu retten ist.

Hierüber grübelte sie den Rest des Abends: was verdorben sei und was zu retten sei. Sie versuchte, sich den Knaben in den Situationen vorzustellen, die der von ihr im Innersten beargwöhnte Mensch teils geschildert, teils hatte ahnen lassen. Es war nicht möglich. Im ziellosen Spähen schauderte sie schon. Die Welt wurde Kloake.

Den Knaben: ihren Knaben; Dietrich. Dietrich ohne Scham. Oder nur Opfer von Schamlosen. Oder, wenn dies Tun auch vor minder strengem Blick hätte bestehen können, in einer Auffassung bestehen, die sie nicht zu begreifen fähig war, dann doch Schritt um Schritt weitergetrieben, der Verführbare verführt, der Ehrfürchtige sich erfrechend, der Gehorsame widersetzlich, der Offene verstockt. Und wie ihn gewinnen, wie ihn zur Mitteilung stimmen, damit sein Wort am Wort jenes andern zu messen war, der nicht gelogen haben mußte, um doch Lügner zu sein? – Und wie ihm Unbefangenheit zeigen, die natürliche Scheu überwinden, wenn sie genötigt war, ihn zur Rede zu stellen, den Trotz niederhalten, in dem er, auch er vielleicht, zum Lügner wurde, zum Verheimlicher, Beschöniger?

Es ging um alles. Die Stunde will bedacht, zehnmal bedacht sein, in der ein Wesen abspenstig werden kann für immer. Da entscheidet ein Hauch, eine unüberlegte Gebärde. Schlimm, wenn er ahnte, um was es ging; schlimmer noch, wenn er ohne Ahnung war. Schlimm, wenn es zum Austausch von Meinungen kam; schlimmer noch, wenn sie zum Geständnis überreden sollte. In jedem Fall war ein Geisterband zerrissen und etwas herabgezogen ins Für und Wider, ins Nein und Ja, was hoch darüber geschwebt hatte, schlummernd.

Gegen Morgen hatte sie einen Traum. Sie hörte eine Stimme, die ihr zurief: Mutter! Dann hörte sie eine andere Stimme, die ihr zurief: Frau! Jene war eine erstickte und verhallende Stimme, diese eine lebendige und nahe. Aber stets, wenn sie der einen lauschte und sich dorthin kehrte, von wo sie kam, rief die andere sie um desto dringlicher an, bis sie schließlich voll Angst, die Hände an die Ohren pressend, entfloh.


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