Jakob Wassermann
Oberlins drei Stufen und Sturreganz
Jakob Wassermann

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Dorine

Dorine Oberlin war vierzig Jahre alt. Sie hatte eine Jugend im Sinn von Freiheit und Überschwang nicht gelebt, daher fühlte sie dieses Alter nicht als Abstieg und nicht als Verarmung, sondern als Ergebnis eines natürlichen Prozesses, der sie weder zur Rückschau zwang, noch zum Bedauern. Unbestrittene Gebieterin in ihrem Kreis, hielt sie sich im Verhältnis zu Menschen und Dingen an die bewährte Regel. Nichts was von außen zu ihr drang, von der Welt der Gleichgeordneten nicht und von der der Untergebenen nicht, hatte bisher vermocht, sie zu beunruhigen. Das Dasein war vollkommen durchsichtig für sie gewesen.

Mit einundzwanzig Jahren hatte sie den um zwanzig Jahre älteren Mann geheiratet, der ihr gesicherte Umstände, glänzende gesellschaftliche Stellung und ein Miteinanderleben ohne Konflikte versprach. In der Tat war die Ehe niemals durch einen Zwist, einen Wortwechsel, eine Verstimmung getrübt worden. Beide Partner waren gleichgerichtet in ihren Neigungen, Anschauungen, Gewohnheiten und äußeren Beziehungen. Die gänzliche Leidenschaftslosigkeit der Führung bewirkte in den gemeinsamen Fragen einen Ausgleich ohne Rest. Es konnte kaum von Sich-fügen die Rede sein, von Nachgeben auf der einen oder der andern Seite, da Wunsch und Wille stets aus der nämlichen Wurzel kamen und Übereinkunft sich ergab wie bei zwei Reisegefährten, die weder über den Weg noch über das Ziel ein Wort zu verlieren brauchen.

Hieran änderte sich nichts mit der Geburt und dem Aufwachsen des Sohnes. Wie das Verhalten zueinander so stand auch das zu dem Knaben unter einem Gesetz, das freilich bei den konservativsten Familien der Stadt seine ursprüngliche Geltung nicht mehr besaß und von modernem Geist, moderner Schwäche etwa seit der Wende des Jahrhunderts angekränkelt war. Man mochte es patriarchalisch nennen oder bürgerlich-patrizisch, es war Frucht von altüberbrachten Lehren und Erfahrungen, die im Blut wirkten und der profanierenden und entkräftenden Aussprache nicht bedurften.

Der Ratsherr Oberlin, bis in die Faser den Interessen der Gemeinschaft ergeben, zu deren vornehmsten Hütern er gehörte und sich zählte, brach vielleicht daran, daß er die Heraufkunft neuer Welt und Zeit voraussah und im ahnungsvoll erschütterten Innern spürte, daß seine und seiner Geschlechter Uhr abgelaufen war. Bei einem politischen Anlaß hielt er in der Ratsversammlung eine Rede, die einigen Teilnehmern durch das schmerzlich-aufrüttelnde Geständnis davon unvergeßlich geblieben war.

In der wachsenden Schwermut dann quälten ihn hypochondrische Befürchtungen in bezug auf den Knaben, und er suchte grüblerisch nach Mitteln, wie er vor dem Unheil zu retten wäre, als ob der Brand, der den Besitz der Menschheit bedrohte, vor diesem allein hätte Halt machen sollen. Einige Tage vor seinem Tod hatte er eine Unterredung mit Dorine, in der es sich ausschließlich um die Richtlinien handelte, nach denen Dietrichs Erziehung zu vollenden sei.

Es lag an der Atmosphäre von Dorines Leben, dem spröden Sichtragen, nüchternen Erscheinen, erzogenen und kühl-heiteren Selbstsein, daß sichtbare Zärtlichkeit gegen Dietrich nie hervorgetreten war. Das einzige Kind; der erfüllte Sinn ihrer Frauenexistenz; ein wohlgeratener Mensch, fügsam, bildsam, erfreulich anzusehen, angenehm im Umgang; alles das war selbstverständlich. Schicksal war selbstverständlich. Daran, daß einer war wie er war, hatte er kein Verdienst; fuhr er doch in einem tüchtigen Fahrzeug auf breitem Strom, und das Wesentliche war ihm, als Erben vieler Trefflichkeit und edler Art, bereitet und gebaut. Man ließ sich auch selbst nichts durchgehen, hatte acht auf den Tag und diente Gott zu seiner Stunde. Da hätte Weichlichkeit dem frevlen Aufdröseln eines dauerhaften Gewebes geglichen.

Eines freilich ruhte in ihrem Gemüt als Grundstein von Denken und Fühlen, und nach dem Tod des Gatten noch tiefer darin versenkt denn zuvor: dieser Sohn war ihr Eigentum; nicht zu schmälerndes, von ihm nicht, von andern nicht; unbedingt ihr gehörig wie kein Ding auf Erden sonst, Teil von ihr. Fleisch von ihr. Daß er auch eines Sinnes und Wesens mit ihr war, dünkte ihr über jeden Zweifel und Argwohn erhaben.

Es hatte den Anschein, als habe die Witwenschaft verjüngend auf Dorine gewirkt. Manche versicherten es ihr taktlos schmeichelnd. Ihr Gesicht hatte Festigkeit und frische glatte Haut. Die Form des Kopfes war anmutig schmal, die Stirn von einer gutrassigen Flachheit. Die Nase war ein wenig gestülpt, mit nervös-beweglichen Flügeln; die Lippen traten leicht hervor, und die obere, entschlossene, zwang die untere, etwas bedächtige, ihr im Schwung zu folgen. Das stark entwickelte Kinn deutete auf Herrschsucht. Die langwimprigen Augen waren von intensivem Blaugrau; sie hatten einen kalten Blick im Vordergrund, einen unbestimmteren, fast fragenden dahinter. Die Lider, umschattet und gelblich verfaltet wie bei Menschen, die wenig und schlecht schlafen, verrieten am merklichsten die vierzig Jahre; im übrigen hätte sie für dreißig gelten können.

Sie besaß einen gesunden Organismus, ruhige Nerven, und ihre Lebensgewohnheiten waren so anspruchslos wie gleichmäßig. Doch führte sie auch nach dem Ableben des Ratsherrn das Haus im selben Stande weiter, niemand vom Gesinde wurde entlassen, und zu jeder Frist konnten Gäste eintreffen, ohne irgend Ungelegenheiten zu verursachen. Sie war Sammlerin und Kennerin von altem Porzellan. In der Ermatinger Villa waren kostbare Schätze davon aufgespeichert; sie hatte ihre Korrespondenten, und bisweilen besuchten sie Händler, um ihr ein kostbares Stück anzubieten. Daneben trieb sie ziemlich ernsthafte botanische Arbeiten, legte Herbarien an, las die einschlägigen Werke und gelehrten Fachschriften, und ihr Spezialstudium war die hochalpine Flora.

Wenn der Föhn einbrach und die Schlaflosigkeit, die zu Zeiten wie Krankheit über sie kam, folternd wurde, packte sie den Rucksack, fuhr ins Oberland und stieg auf die Berge. Sie konnte zehn Stunden wandern, ohne zu ermüden, hatte Führer, die sie bevorzugte und schreckte vor den schwierigsten Gletscherpartien und Felsklettereien nicht zurück. Davon machte sie aber kein Aufhebens, es war ihr sogar unangenehm, wenn es beredet wurde, und hauptsächlich um diese Liebhaberei zu bemänteln, hatte sie sich von ihrem Arzt Heuer das Leuckerbad verordnen lassen.


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