Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Vierundvierzigstes Kapitel

Der folgende Tag war ein strahlender Frühlingstag. Der Himmel hatte die Erde noch einer gründlichen Waschung unterzogen, bevor er ihr das Frühlingskleid über die noch frierenden Schultern zog. Arnolds Laune besserte sich; seine Wanderlust erwachte, und er schritt viele Stunden lang auf bekannten und neuen Wegen. Wenn er irgendwo rastete oder in einem Dorf bei Milch und Käse seinen Hunger stillte, zog er ein Buch aus der Tasche, denn er konnte nicht lange Zeit hindurch müßig sitzen oder liegen. Manchmal bemächtigte sich Ungeduld seiner Sinne. Die Einsamkeit der Felder wurde ihm dann drückend und nichtssagend. Lästig erschienen ihm die Bilder der Landschaft, die sanften, schattenvollen Täler, die sich nicht tiefer senkten als ein Teller unter seinen Rand, die schmutzigen Bauernhöfe, das dürftige Gras der Wiesen, der unbequeme Ostwind, die neugierigen Kinder in den Dörfern. Unruhe flammte in ihm auf. Am Palmsonntag kehrte er durch Podolin nach Hause zurück. Noch hatte er nicht den Hauptplatz erreicht, als jemand mit tiefer Stimme seinen Namen rief. Er drehte sich um und sah Alexander Hanka auf sich zukommen.

»Ich habe erst gestern gehört, daß Sie hier sind, und zwar durch den Briefträger«, sagte Hanka und drückte Arnolds Hand mit Herzlichkeit und Freude. Er schien größer, denn seine Gestalt war noch hagerer geworden, sein Gesicht länger und farbloser; die schwarzen Augen hatten einen Ausdruck vollkommenen Ernstes.

Arnolds Freude, Hanka wiederzusehen, war nicht ganz frei von Befangenheit. »Wo kommen Sie her?« fragte er. »Wo waren Sie so lange?«

»Ich war in Rom, Sizilien und Tunis,« berichtete Hanka, »und jetzt bin ich hier, weil meine Schwester erkrankt ist.«

»So? Was fehlt ihr denn?«

Hanka zuckte die Achseln. »Die Nerven, das Blut.«

»Bleiben Sie lange hier?« fragte er. »Ist es Ihnen nicht langweilig?«

Arnold schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich langweile mich nie«, antwortete er.

»Das ist ein großes Wort«, meinte Hanka und nickte nachdenklich. »Was mich betrifft, ich langweile mich in hervorragendem Maße.«

Die breite Behäbigkeit, mit der Hanka das O aus den Eingeweiden heraufbrummte, machte Arnold lachen. »Jetzt darf man doch nicht mehr klagen«, sagte er. »Schauen Sie sich doch um: Frühling!«

»Seit drei Monaten habe ich Frühling und bin den blühenden Wandeln von Syrakus bis Florenz nachgereist. Auch das bekommt man satt.« Mit verschwiegener und ehrlicher Bewunderung blickte Hanka Arnold an. Hier sah er quellend und in Blüte, was in ihm selber eine Wüste war. Hier vermutete er naiven Überschwang der Kräfte und die Fruchtbarkeit eines unbefangenen Geistes. Während seines langen Alleinseins hatte sich das Bild Arnolds in seinem Innern erhoben, und ihm hatte er sich im stillen zugewandt als der Verkörperung dessen, was seine Natur niemals auch nur aus der Ferne hatte hoffen dürfen. Ihm jetzt gegenüberstehend, sah er in sich selbst eine Gefahr für Arnold, und er beschloß, ihn zu meiden.

»Wollen wir nicht abends öfter zusammenkommen?« fragte Arnold. »Die Abende sind sehr lang.« Er zuckte zusammen, da er gerade dieses nicht hatte sagen wollen; auch Hanka wurde ein wenig stutzig. Indessen, es war geschehen. Errötend wandte er sich an Hanka und sagte, mit freundlichem Tadel auf dessen Zigarette blickend: »Nie sieht man Sie ohne das Zeug. Weshalb rauchen Sie? Vergiften Ihr Blut. Das gefällt mir nicht. Verzeihen Sie!«

Hanka lächelte gelassen. »Ich komme vielleicht morgen zu Ihnen«, sagte er stehenbleibend und sich verabschiedend.

Die Gesunden glauben, dem Kranken sei das Bett angenehm, dachte Hanka, als er allein war und sich dem Zaun des Vorgärtchens näherte. Er öffnete die Gattertüre und sah neben dem Weg einen sterbenden Vogel liegen. Betroffen bückte er sich und hob ihn auf. Das kleine Herz schlug langsam unter dem erkaltenden Federkleid, die Flügel waren schlaff ausgebreitet, die gelben Beinchen waren starr. Hanka schaffte Stroh herbei und legte das kranke Wesen in die Küche dicht neben den Ofen. Der gelbe, mit der Erde beschmutzte Schnabel wetzte sich mechanisch am Eisenfuß des Herdes, dann kam der Tod. Die kleinen schwarzen Perlaugen, soeben noch von der unbegreiflichen Bewegung erfüllt, welche Leben heißt, glänzten nun mineralisch leer.

Hanka ging an das Lager der Schwester. Abgezehrt und hilflos, wie sie lag, erinnerte sie ihn an den Vogel, den er im Garten aufgelesen. Er unterhielt sich mit ihr, erzählte Reisegeschichten und machte sie lachen. Agnes wußte das Notwendigste über ihres Bruders schnell vergangene Ehe. Es waren darüber nicht drei Sätze gewechselt worden, und Agnes war nicht so überrascht, als Hanka wohl glauben mochte. Sie sah ihn verändert, in einer Weise, die kaum mit Worten zu bezeichnen war. Dies ist Beates Werk, glaubte sie kurzsichtig und gefühlvoll. Hanka war es im Grunde gleichgültig, wofür man ihn nahm. Der Sturm kann darüber erhaben sein, daß ihn taube Ohren für das Summen einer Fliege halten.

»Jahrelang war kein solch wunderbarer Tag«, sagte Agnes, sich aufstützend. In dem milden, mattblauen Himmel sah sie die knospenden Zweige der Bäume schwimmen. Als Hanka fragte, ob er ihr vorlesen solle, nickte sie beglückt. Ihr Lieblingsschriftsteller war Jean Paul; sie hatte nie etwas anderes gelesen. Früher hatte Hanka die ihm altmodisch erscheinende Neigung verspottet, denn er vermochte unter dem faltenvollen Gewand dieser Sprache keinen Leib zu finden. Jetzt aber hatte er eine bessere Ansicht darüber gewonnen.

Er entnahm der Bändereihe ein Buch, das die Kranke bezeichnet hatte, setzte sich hin und las mit lauter Stimme, damit Agnes ihn gut hören könne. Bald kam er zu einer Stelle, die sein vorauseilendes Auge überblickt hatte. Er schwieg und las für sich: Sobald wir anfangen zu leben, drückt das Schicksal aus der Ewigkeit den Pfeil des Todes ab. Er fliegt so lange, als wir atmen, und wenn er ankommt, hören wir auf. O stürben wir doch auch so alt und lebenssatt wie dieser Greis, sagen dann diejenigen, deren Pfeile noch fliegen.

Mit erschrecktem Stirnrunzeln ließ Hanka das Buch sinken. Er entschuldigte sich bei Agnes, stand auf und ging in den Garten. Ihn quälte die Einsamkeit. Er sehnte sich nach dem Anblick vieler Menschen, nach ihrem Geschwätz und nach Spiel. Der weite Himmel drückte auf ihn nieder. Mit gesenktem Kopf beobachtete er jetzt, wie viele Tausende von schwarzen Ameisen über einen Regenwurm hergefallen waren, ihn zerbissen und in geteilten Haufen die roten Stücke fortzerrten. Voll Ekel wandte er sich ab. Er nahm Mantel und Hut, um Arnold aufzusuchen, und fand ihn im Garten auf und ab gehend, wie er selbst vorhin getan. Sie setzten sich auf eine Bank und plauderten. Der Garten und besonders seine parkartige Fortsetzung sahen verwildert aus; geknickte dürre Zweige lagen umher, und ein Teppich feuchter brauner Blätter leuchtete in der Sonne. Die Spatzen lärmten, und auf den Feldern schritt schon der pflügende Bauer.

Das Beisammensein der beiden Männer trug den Ausdruck gegenseitiger, natürlicher Achtung. Arnold sprach von der Landwirtschaft und erwähnte, daß er sich die Zeit her um nichts gekümmert habe; er finde nicht die Ruhe, es treibe ihn zu großen Geschäften, die ein Wagnis und Einsetzen verlangten, denn wenn man nur dasitze und sein inneres Kräftevermögen in sich selber verzehre, käme man bald zur Schwäche. Darum sei es ihm zweifellos, daß das Leben auf dem Lande für junge Menschen, wenn nicht gefährlich, doch sehr einschränkend sei. Er redete mit einer ganz kleinen Überspannung des Temperaments; dies entging Hanka nicht nur, sondern er hatte auch seine Freude daran. Er trat aus sich heraus, und das Weben seiner Gedanken wurde weniger beklommen. Arnold meinte, daß ein solches Wagen und Opfern, wie er es auffasse, mit Geldgeschäften nichts zu tun habe. Hanka stimmte ihm bei, denn obwohl er gegenwärtig sein ganzes Vermögen in Börsenunternehmungen stehen habe, empfinde er keine Tätigkeit, sondern fühle sich faul und gleichmütig. Es entstand ein kurzes Schweigen, bis Arnold ohne Übergang die Geschichte mit dem Häusler Kubu berichtete. Hanka sagte: »Solange es nur gute Menschen gibt, die mit den unglücklichen fühlen, ist nichts gewonnen für die Welt. Mit den Glücklichen zu fühlen, dazu müßte man die Menschen erziehen.«

Sie verabredeten für den nächsten Morgen einen Ausflug, aber da Hanka zu träg war, um zu gehen, wollte er im Ort eine Kutsche auftreiben. Zur bestimmten Stunde kam das Gefährt zur Stelle, mit zwei dicken Gäulen bespannt. Langsam ging es über die Heerstraße; der Tag war noch schöner als der gestrige. Nach einer Stunde nahm sie der Wald auf. Frisch geschälte Baumstämme lagen quer über dem Graben und glänzten in der Sonne wie Goldbarren. Die Straße war schmal. Hinter ihnen fuhr im scharfen Trab ein Bauernwagen heran. Vier verwegen aussehende Burschen hockten auf den Leitern; einer schwang die Peitsche, deren Knallen den ganzen Wald mit Getöse erfüllte, die andern, mit schiefsitzenden Kappen, schrien drohend und lachend drauflos. Das Fuhrwerk kam näher, auch die Kutsche rollte schneller. Die Kerle warfen die Arme und brüllten; ihre beiden Pferde hatten Schaum am Maul, als nähmen sie an der Erregung teil. Arnold riß dem Kutscher die Zügel aus der Hand; lachend trieb er die dicken Gäule vorwärts, und sie jagten nun auch ihrerseits wild dahin. Die Bauern blieben scharf hinterher; Hanka blickte den nachstürmenden Pferden in die rötlich lohenden Augen. Seine Gleichmütigkeit schwand unter einer grausigen Vorstellung, und er dachte an den Mann jenes Gedichts, der im Brunnen hängt, Tod unter und Tod über sich erblickt.

Endlich kam eine Schenke, und da hielt die Bauernkarre still. Arnold und Hanka kehrten auf einem näheren Weg gegen Podolin zurück. Eine eigentümliche Verachtung begann in Hanka zu wirken. Er verachtete das Ding, welches ihm das Herz auffraß.

Im Schweigen liegt oft die aufdringlichste Mitteilung. Das erfuhr Arnold bald. Seine Lebensstimmung wurde durch das beeinflußt, was Hanka schweigend in sich verschloß. Er trieb wieder mathematische Studien. Er spielte, und es ist im Grund dasselbe, ob man mit Zahlen oder mit Karten spielt. Aber all dem, wolkengleich, spannte sich etwas trist die Sehnsucht nach Verena. Bisweilen senkte sie sich nieder wie Regen und erfüllte seine Brust mit Traurigkeit. Er suchte das Rätsel ihrer Person zu ergründen und wollte ihr beikommen wie den algebraischen Formeln.

Er langweilte sich. Mitten in die Stille und Einsamkeit kam ein Brief Anna Borromeos. Sie schrieb an Arnold, daß sie für sein langes Ausbleiben keine andere Ursache vermuten könne, als daß ihn ihr Haus abgestoßen und ihre Person verscheucht habe. »Aber, lieber Neffe und Freund, wir können dich, so scheint es, weniger entbehren als du uns. Wir zerbrechen uns den von zahllosen Geschäften ermüdeten Kopf, indessen du boshaft hinter deinem Dorfofen sitzest. Mein Gatte quält sich mit der Befürchtung, daß du unsere Gastfreundschaft mangelhaft gefunden haben könnest, und auch mich drängt es, dir eine bessere Idee von Anna Borromeo zu geben, als du jetzt in deine Heimat getragen. Für die Schlechtesten gibt man sich aus, und dem, den man umschließen sollte, dem sperrt man sich zu. Komm bald! Deine A.B.«

Arnold war Anna Borromeo fast dankbar für dieses Schreiben, durch das sein Schwanken beendigt und der Entschluß der Abreise bewirkt wurde. Er freute sich auf die Stadt, und gleich teilte er Hanka seinen Vorsatz mit.


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