Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Achtunddreißigstes Kapitel

Ende August kehrte Anna Borromeo vom Landaufenthalt zurück. Sie machte sofort Besuche, empfing Besuche, abonnierte für Konzerte und Theater und bereitete sich auf das gewohnte Herbst- und Winterleben vor. Stöße von Romanen kamen von der Buchhandlung und vom Leihgeschäft, und keiner konnte sie länger als einen Vormittag festhalten. Sie jagte hierhin und dorthin, klagte über Schlaflosigkeit, schien bald entkräftet, bald überreizt, bald geschwätzig und bald allzu still. Arnold verfolgte aufmerksam ihr Treiben, und ihn beklemmte es, sie und den Oheim in einem so engen und ewigen Verhältnis zu denken, als welches ihm die Ehe erschien.

Friedrich Borromeo war tief in sich gelehrt. Nichts kam der Müdigkeit und Gelassenheit gleich, mit welcher er Messer und Gabel führte, die Speisen auf seinen Teller legte, nichts der Appetitlosigkeit, mit der er aß oder ein Gespräch zu einem vorläufigen Endpunkt schleppte.

Es verdroß und kränkte Arnold, dies zu beobachten. Noch brannte in ihm der Wunsch, sich um Menschen zu bemühen. Als er an einem Morgen mit Borromeo allein beim Frühstück saß, begann er offen: »Könntest du mir nicht sagen, was dich so niederdrückt? Muß denn alles so sein, wie es ist?«

Borromeo zog die Brauen langsam empor. Seine beiden Augensterne rollten erlöschend in die Winkel. »Du fragst wie ein Jüngling,« sagte er, »aber ich kann dir nicht antworten wie ein Mann. Lassen wir das. Auch die Sterbenden haben ein nil nisi bene

Als sie sich voneinander trennten, war Borromeos Händedruck voll Wärme. Nichts konnte deutlicher ausdrücken, wie zufrieden er mit ihm war und wie sehr er ihm vertraute.

Mit seinem jungen Lehrer Wolmut hatte Arnold ein gutes Verständnis erreicht. Er erkannte sofort dessen glückliche und gesunde Veranlagung, allen Kräften seines Wesens gleichmäßig zur Entwicklung zu verhelfen, und beobachtete ihn so scharf, als ob er durch die fremde Natur seine eigene ohne weiteres vervollkommnen könne.

Völlig das Kind eines wissenschaftlichen Zeitalters, gehörte Wolmut zu jenen Menschen, die sich eine Weltanschauung aufbauen, um damit das Leben zu kommandieren. Seine kleinsten Geschäfte verrichtete er mit unermüdlichem Eifer und strenger Gewissenhaftigkeit, und seine Armut trug er mit selbstverständlichem Stolz. Er liebte um jeden Preis zu lernen und suchte stets zu helfen. Sein klares Urteil befähigte ihn, jede schadhafte Stelle in der Lebensführung des andern sofort zu übersehen. Die neugierige Frage tauchte in Arnold auf, wie sich Wolmut gegenüber Elasser und der Gewalttat des Klosters benommen hätte. Seit jener Nacht, die unter dem Kastanienbaum in Regen verflossen war, hatte er nicht aufgehört, sich zur Rechenschaft zu ziehen, mit sich und der Welt zu hadern. Allmählich war sein leidenschaftliches Wollen einem dumpfen Zwiespalt gewichen. Er glich einem Mann, der kampf- und rechtbegeistert vom Schlachtfeld reitet, um Verstärkungen gegen den Feind zu holen; er eilt anfangs, und seine Botschaft benimmt ihm noch den Atem. Dann wird seine Stirn kühler. Er beginnt Gefallen an der Landschaft zu finden, läßt allmählich das Pferd im Tritt gehen und an geschützter Stelle grasen; aus der Nacht wird Morgen, aus dem Morgen Mittag. Der drängende Ruf, der seine Schritte beflügelt hatte, verklingt, die schreckensbleichen Gesichter, die ihre flehenden Blicke dem Abgesandten in die Seele bohrten, entrücken unter dem Horizont, und aus dem Geschehenen wird sozusagen eine Vorstellung.

Dazu war Arnold in den letzten Tagen sehr bemüht gewesen, eine ihm neue Weichheit der Stimmung abzuschütteln, von der er kaum wußte, woher sie kam. Er stellte also eine Frage an Wolmut, die harmlos schien. Er gedachte zu ersehen, welches Echo die Podoliner Ereignisse in einem so Fern-, doch wahrhaft Mitlebenden gefunden hätten. »Soviel ich weiß, steht die Geschichte auf dem alten Fleck«, erwiderte der Student. »Ich hörte, die Regierung habe jemand zum Papst gesandt, aber dadurch wird nichts geändert werden. Wenn die Justiz ihre unmittelbaren Handhaben verloren hat, ist für den einzelnen keine Möglichkeit mehr, sich zu widersetzen. Der Rechtsbegriff wird nicht erzwungen und gemacht, sondern bildet sich wie die Sprache.«

Arnold sah ziemlich betroffen vor sich nieder. »Das hört sich gut an,« erwiderte er schroff, »so lange, bis Sie selber dabei den Hieb bekommen. Wollen Sie verzichten, an dem Unrecht teilzunehmen, das nicht an Ihnen selbst ausgeübt wird?«

Wolmut lächelte. »Das müßte man auch. Es handelt sich nur um eine Ausschaltung unzweckmäßiger Triebe. Was soll platonische Teilnahme? Sich selbst in Betrieb setzen, eine Maschine sein, die möglichst viel Räder in Bewegung setzt, mit der Feuerung haushalten und bei der größten Arbeitsleistung den kleinsten Kräfteverbrauch erzielen, ist das nicht Teilnahme genug?« Der kleine, schmale, hübsche Mensch mit dem rosenroten Gesicht sprach ruhig und überlegen, mit einer Verhaltenheit, als wolle er Meinung und Gebaren sogleich in Einklang bringen. »Das ist wahr, weil es wahr sein kann«, gab Arnold gereizt zurück. »Ich will nicht sagen, daß ich anders denke, aber wenn ich gar nicht denke, wird alles anders.«

»Gefühl zerstört«, behauptete Wolmut mit seiner unerschütterlichen Lehrsamkeit. »Ziehen Sie Ihren Kreis; verbieten Sie Ihrer Fußspitze, ihn auch nur um einen Millimeter zu überschreiten. Glück ist Positivität. Die Welt ändern wollen heißt, sich selbst vernichten.« Arnolds Gesicht rötete sich. »Das ist Streberweisheit!« rief er zornig aus. »Das Judenmädchen ist also nur deshalb nicht zu retten, damit wir, ich und Sie, glücklich werden?«

Wolmut zuckte die Achseln. »Warum denn nicht? Jede Kultur schleppt noch einen Rest von Finsternis hinter sich her, der von selbst kleiner wird wie ein Schatten, je höher die Sonne steigt. Ich predige nicht Apathie oder banalen Egoismus. Aber jeder Mensch muß unbedingt seine Handlungen nach dem Maß seiner Hilfskräfte modeln. Ebenso wie er zu jeder Minute sich darüber klar sein muß, daß nichts in seinem eigenen Charakter ihn überraschen und daß kein Vorfall der Welt ihn verführen kann, die Arme statt des Kopfes oder das Herz statt der Füße zu gebrauchen.«

Arnold hatte das Gefühl, als ob ein schädlicher Doppelgänger auf ihn zugetreten wäre, um die Gedanken der Entschuldigung und entfremdeten Kälte, die er gehegt, in ein System zu pressen. Dieser feste und ehrliche Mensch, weit entfernt, ihn zu überzeugen, verdunkelte ihn nur vor sich selbst und vermehrte seine Unsicherheit.

Er klagte im stillen seine Jugend und erste Erziehung an, die ihm vorenthalten hätten, wozu andere so mühelos und planvoll kämen: Sichbescheiden. Darüber erhob sich die Gestalt der Mutter, und mit einem Gemisch von Schrecken und Scham kehrte er wieder zu jener weichen Stimmung und Verstimmung zurück, aus deren Wolken sich das Gesicht Verenas erhob. Aber nicht mit Innigkeit stand er vor der Erscheinung, sondern mit Trotz und Wachsamkeit, als ob sich neuerdings eine Sache der Gewalt und der unbefugten Eingriffe zu entscheiden habe. Eines Nachmittags machte er sich auf, um Verena zu besuchen. Er fand in ihrem Zimmer eine kleine Gesellschaft fremder und halbfremder Menschen beim Tee, unter ihnen Wolmut und Tetzner. Verena war zurückhaltend wie sonst, doch heiterer. Tetzner saß schweigsam beim Fenster, und Wolmut setzte seine Ansicht über Askese auseinander.

Verena stand auf und trat zu Arnold. »Ich habe für morgen abend zwei Billette zum Konzert«, sagte sie freundlich. »Vielleicht kommen Sie mit?«

Arnold lächelte, ohne zu antworten. Verena war etwas verwundert; dann preßte sie die Lippen zusammen, erblaßte und warf einen flüchtigen Blick auf Tetzner, der schweigend und abgekehrt saß. Hierauf sahen sie sich zum erstenmal von solcher Nähe in die Augen, Arnold mit großem, etwas knabenhaftem Blick, Verena mit einem zugleich bösen und flehenden Ausdruck. »Kommen Sie nur,« wiederholte sie schließlich mit der vorigen Freundlichkeit, »man spielt Beethoven.«

Am nächsten Abend holte er sie gegen sieben Uhr ab, und sie fuhren zum Konzertsaal.

Wunderbare Klänge hörte Arnold in diesen Stunden. Er sah eine Säule langsam und zart bis in den höchsten Himmel wachsen, und oben erst sprühten die erdgeborenen Blitze. Es war, als würden ihm zwei neue Ohren aufgerissen, und er lauschte mit einem Zustimmen seines tiefsten Herzens.

Aus einer hastigen Äußerung entnahm Verena, daß er ganz und gar nicht zerflossen war. Das hatte sie wohl erwartet, allein sein bestimmtes und heiteres Wesen erfüllte sie mit seltsamer Furcht.

Als es aus war, gingen sie lange schweigend auf der Straße nebeneinander. »Ich habe Hunger«, sagte Arnold endlich. »Wollen wir nicht in das Gasthaus da?« Er deutete auf die erleuchteten Fenster eines vornehmen Restaurants.

Verena schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin keine Millionärin«, sagte sie. »Überdies habe ich Tetzner versprochen, nach Haus zu kommen.«

Sie gingen weiter. »Ich lebe nämlich von Tetzners Geld«, sagte sie auf einmal mit veränderter Stimme.

Arnold hatte Mühe, einer rätselhaften Freude Herr zu werden, die ihn von der Stirn bis zu den Sohlen einhüllte.

»Aber ich will nicht sprechen«, fuhr Verena fort. »Wozu auch. Man kann doch nichts aus sich herausbringen. Ich bin auch kaum mehr fähig, mich zu verständigen. Ach, das Leben, das elende Leben!«

»Das elende Leben? Nein, das schöne Leben!« versetzte Arnold. »Das schöne, herrliche, gute, glückliche Leben! Jeden Tag bin ich froh, daß ich lebe.«

Bei diesem unerwarteten Ausbruch sah ihm Verena mit einem forschenden und ergebenen Blick in die Augen.

Sie waren im Haus. Verena zündete eine Kerze an und ging gedankenvoll voraus, den Arm mit der Kerze hochhaltend und Arnolds Gegenwart lebhaft und dankbar fühlend.

Oben angelangt, klopfte sie dreimal an die Türe und sah mit dem breiten schwarzen Hut, dem langen glatten Mantel und dem vorgebeugten Kopf, der von dem Licht magisch bestrahlt wurde, wie eine Zauberin aus.

Tetzner kochte Wasser zum Tee. Als der Tee fertig war, nahm er sein Buch und setzte sich abseits. Verena legte Brot, Butter und kaltes Fleisch auf einige Teller. Ihre niedere Stirn leuchtete über den blauen stillen Augen wie ein weißes Blatt. Während sie aß, nahm sie ein Stückchen Kreide und zeichnete auf der Tischplatte herum, dabei lächelnd und verstohlen einigemal nach Arnold schielend. Er beugte sich über die Ecke und erkannte verwundert sein übertriebenes Profil: ein rundes, ausladendes Kinn, dessen Linie gegen den Mund abenteuerlich weit einbog und so mit dem vorstehenden Lippenpaar einen wahren Hafen bildete, eine griechisch kurze Oberlippe, das Stück eines kümmerlichen Schnurrbarts, eine lange, gerade und unbescheiden in die Luft stechende Nase und über der ungewölbten Stirn anständig und gleichmäßig gestrichenes Haar. Arnold nahm nun seinerseits die Kreide und begann damit Verenas Frisur zu zeichnen. Mit diesem schwierigen Stück verging aber so geraume Zeit, daß Verena belustigt ausrief: »Sehen Sie, auch dazu braucht man Talent!«

Tetzner hatte die Brille abgenommen und sie auf das offene Buch gelegt. Mit großen, weit offenen Augen blickte er herüber.

»Was liest du?« fragte Verena.

»Ein Buch über die Liebe«, antwortete Tetzner.

Arnold blickte Verena an. Es gibt Augenblicke, wo ein einziges Wort genügt, um die Seele zu entflammen. Sein berücktes Herz sammelte sich plötzlich zu aller Sehnsucht und Leidenschaft, deren es fähig war.

»Wenn ich so das Leben überblicke«, fuhr Tetzner versonnen plaudernd fort, und sein Blick richtete sich düster gegen die Wand, »so ist nichts als Irrtum. Was man hat und rechtmäßig in sich trägt, wird verschleudert, und das Schlechte, das trügerisch glänzt, kauft man um teuren Preis. Auch die Liebe ist eigentlich ein Irrtum, und sie trübt das Bild der Welt.« Gegen den Ofen gelehnt, flüsterte Verena nervös: »Was soll das ewige Reden! Ich bin satt von Worten. Ich bin überdrüssig, alles zu wissen, was ich empfinde und empfinden soll.«

Tetzner ging auf und ab und seufzte. »Solange es Tee und Schinken auf Erden gibt, soll man nicht über Liebe reden, das ist richtig«, sagte er in seiner wiederkehrenden kaustischen Manier. Breitbeinig stellte er sich vor den Tisch, starrte ins Licht der Lampe und trällerte mit veränderter, heiserer Stimme:

»Wenn er bei einer Hochzeit ist,
Da sollt ihr sehen, wie er frißt;
Was er nicht frißt, das steckt er ein,
Das arme Dorfschulmeisterlein.

Wenn er einmal gestorben ist,
Legt man ihn sicher auf den Mist.
Ach, wer setzt einen Leichenstein
Dem armen Dorfschulmeisterlein.«

Dann warf er den Wettermantel um, nahm den Schlapphut und sein Buch und entfernte sich, ohne Abschied genommen zu haben. Bald hörte man ihn die Außentüre zuschlagen.

Die Stirn an die Scheibe gedrückt, stand Verena am Fenster. »Es ist finster draußen«, murmelte sie mit erzwungener Gelassenheit. Als sie sich umdrehte und Arnold gewahrte, entfärbte sich ihr Gesicht. Er ging auf sie zu und packte mit Heftigkeit ihre Hände. Sie schwieg, atmete jedoch wie eine Gehetzte. Er drückte ihre Hände nur um so fester, als umschlösse er alles, was er im Leben an sich reißen wollen. Vergeblich war sie bemüht, sich ihm zu entwinden.

»Sind Sie denn glücklich, Verena?« fragte Arnold endlich flüsternd, im innigsten Ton, mit einem Ausdruck von Treuherzigkeit und Selbstanerbietung.

Ihr Gesicht wurde kalt, verschlossen und todesruhig, und er gab ihre Hände frei. Während sie sich an den Tisch setzte und den Kopf in die Hand stützte, stand Arnold ratlos, wie niemals durchwühlt, gekränkt und geängstigt. »Sie müssen jetzt gehen, Arnold«, sagte Verena plötzlich weich.

Mit der Lampe leuchtete sie ihm in den dunklen Flur und wartete, weit über das Geländer gebeugt, bis er unten war. Dort blieb er noch einmal stehen und schaute nun in Wirklichkeit zu ihr empor, wie er es sonst in seinen Gedanken zu tun pflegte. So begegneten sich ihre Augen durch eine nächtige Ferne, einander grüßend, doch ohne Versprechen, ohne Begehren.


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