Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Zehntes Kapitel

Frau Ansorge erhielt aus Wien die Nachricht, daß ihr Bruder Borromeo sich wieder verheiratet habe. Die Photographie der neuen Schwägerin zeigte eine üppige Gestalt mit regelmäßigen Zügen, die einen herrischen und kalten Ausdruck hatten. »Friedrich tut nichts Gutes in seinem Schwabenalter«, sagte Frau Ansorge zu Arnold, der das Bild der schönen Frau mit Vergnügen betrachtete.

An demselben Morgen schickte Maxim Specht einen Brief und eine Zeitung. Die Zeitung enthielt Spechts Bericht über den Raub der Jutta Elasser. Arnold las, und es wirkte erstaunlich auf ihn, nicht gerade wie eine Lüge, sondern wie Schiefheit, wie Backenaufblasen. Aus dem Nahen und Wahren war etwas Fernes, Gespreiztes und Lärmendes geworden.

Der Brief lautete: »Wenn es Ihnen paßt, holen Sie mich morgen früh um sieben Uhr ab. Der Polizeihauptmann hat mit der Elasserschen Angelegenheit einen Kommissar beauftragt, der ein guter Bekannter von mir ist. Er erlaubt mir und Ihnen, dabei zu sein, wenn Elasser im Kloster seine Tochter zu sehen bekommt. Davon darf man die Entscheidung erwarten, denn es ist nicht einzusehen, wie sie ihm dann noch das Kind verweigern wollen, was doch zweifellos geschehen wird. Der Zweck ist, die Sache hinzuziehen, bis Jutta das religionsmündige Alter von vierzehn Jahren erreicht haben wird. Dann wird dem Samuel Elasser die väterliche Gewalt durch die Vormundschaftsbehörde abgesprochen, und der Taufe steht kein Hindernis im Wege; denn über das, was das Mädchen selbst will oder nicht will, wird ja die Öffentlichkeit getäuscht. Also nicht ich bin dumm oder boshaft, lieber Freund, sondern die Ereignisse sind es. Und dumm bin ich vielleicht nur deshalb, weil ich mich darum kümmere und die Welt, gemein wie sie ist, ändern möchte. Das ist nicht nur Dummheit, sondern Irrsinn. Bleiben Sie gut Ihrem Specht.«

Arnold hatte das Gefühl eines Hinterhaltes. Er las den Brief nicht nur, sondern er studierte ihn, drehte ihn um und um und zerriß ihn schließlich. Den ganzen Tag über vermochte er nichts Rechtes anzufangen.

In der Nacht hatte er einen seltsamen Traum. Er kam von einer langen Landstraße an eine hohe Gartenmauer. Vor der Mauer standen zwei Pferde einander gegenüber, ein kleines und ein großes Pferd. Beide Tiere sahen aus, als ob sie mit Grünspan überzogen wären. An Hals, Kopf, Rücken und Bauch trugen sie allerlei Zieraten, die, ebenfalls grünspanfarben, aus der Haut hervorragten, als ob es nur künstliche Tiere wären. Aber beide Pferde lebten. Nun stand an der Mauer eine Tafel, welche die Inschrift trug: Diese Pferde können sprechen. Nachdem er eine Weile unschlüssig und doch höchst begierig gestanden war, warf er ein Geldstück hin. Darauf ertönte ein langsames Glöckchen über der Mauer; das größere Pferd erhob den Kopf und öffnete weit das Maul, um zu sprechen. In diesem Augenblick wurde Arnold von einem so furchtbaren Schrecken ergriffen, daß er in der größten Eile über die Landstraße Reißaus nahm. Als er aufwachte und den Traum überlegte, kam er ihm recht albern vor; dennoch, die dünne Luft, die Mauer, die einsame Straße, die schwermütige Miene des grünen Gauls, der sich anschickte zu sprechen, das alles hatte etwas Unvergeßliches in sich.

Punkt sieben Uhr stellte sich Arnold bei Maxim Specht ein. Es war noch halb dunkel, als sie sich auf den Weg machten. Arnold verzehrte sein Frühstück unterwegs. Specht war schweigsam.

Vor dem Klostertor warteten sie. Als die ersten Wolken vom Frührot glühend wurden, traf der Kommissar mit einem Gendarmen ein. Ein wenig davon entfernt gingen Glasser und der Rabbiner aus Lomnitz. Der Kommissar zog die Glocke. Die Schwester Pförtnerin öffnete, deutete gegen eine schmale Türe zur Linken und hinkte auf einer Krücke davon. Als die Tür geöffnet war, wurde ein langer Gang sichtbar, an dessen Ende ein Windlicht brannte, das nur mühsam die Finsternis verringerte. Darnach kam ein weiter, flurartiger Raum. Auf einem Schemel hockte schlaftrunken eine Laienschwester und zeigte stumm auf die zur Linken befindliche Glastür. Die Männer betraten ein saalartiges Gemach, dessen Decke durch ein gekreuztes Tonnengewölbe gebildet wurde. Auf einer langen Bank standen zwei dreiarmige silberne Leuchter, darüber hing ein ehernes Kreuz mit dem Heiland. An der hinteren Wand öffnete sich ein dunkles Loch, vor dem sich ein aus weißen Stäben bestehendes Gitter befand. Glasser und der Rabbiner standen schweigend abseits; sie starrten vor sich nieder.

Nach einigen langen Minuten, während welcher Arnold seine Uhr in der Tasche ticken hörte, knarrte eine zweite Tür in der Ecke, und vier Nonnen traten herein. Elasser reckte den Kopf auf – Arnold gedachte seines Traumpferdes, das sprechen wollte – und blickte nach der Tür, die sich indes wieder schloß, ohne daß seine Tochter eingetreten wäre. Plötzlich war das finstere, vergitterte Loch durch eine Kerzenflamme erleuchtet. Eine Gestalt bewegte sich vorbei, eine andere folgte. Die erste kehrte zurück, streckte die Arme aus, als wolle sie einen schweren Gegenstand ans Licht ziehen. Darauf wurde das Öffnen einer knarrenden Türe hörbar, und in demselben Augenblick begann ein Weinen und Schluchzen, das um so schauerlicher wirkte, als es wie durch das Fallen einer Wand mit einem Male hervorgebrochen schien. Die Arme regten sich geschäftiger, noch ein Paar Arme und ein Kopf schienen Beistand zu leisten, aber das nicht zu beschwichtigende Weinen und Schluchzen erfüllte nach wie vor anschwellend den Raum. Die Kerze wurde ausgelöscht; das Gitter wurde wieder finster, die knarrende Türe ließ sich von neuem hören; Füße scharrten wie auf sandbestreuten Brettern, und mit einem Schlag war es wieder still.

Elasser war einen Schritt vorwärts gegangen. Der ganze Mann zitterte, und seine Stirn glänzte von Schweiß. Ein gurgelndes Geräusch kam von seinen Lippen. Er schwenkte die Arme hin und her; der Rabbiner und der Gendarm mußten ihn bei den Schultern zurückhalten. Als es hinter dem Gitter finster und ruhig wurde, war auch er wieder still. Einige Minuten lang hörte man das leise Aufprasseln der Kerzenflammen auf der Bank. Die frommen Schwestern zeigten eine durch Gewohnheit und Übung erlernte und befestigte Gleichgültigkeit. Ihr inneres Leben schien sich zu einem verheimlichten Lauschen gesammelt zu haben, wovon allein die Bewegung der Augenlider Zeugnis ablegte. Specht stand mit bleichem Gesicht. Arnold betrachtete auch ihn; sämtliche Gestalten erschienen im trüben Zwielicht wie Phantome. Es war kaum zu unterscheiden, ob sie schliefen oder wachten.

Jetzt öffnete sich zum zweitenmal die seitliche Tür, und die Oberin trat ein. Specht, der Kommissar und der Gendarm verbeugten sich ehrerbietig. Die Oberin streifte die Männer mit einem eisigen Seitenblick und richtete die Augen befremdet und fragend auf Arnold, der sich nicht rührte, nicht grüßte und mit verhängten Augen auf das eherne Christuskreuz sah. Indessen wandte sich die Dame ab, trat mit festem Schritt auf den Kommissar zu und sagte: »Herr Elasser kann leider seine Tochter nicht sehen. Das Mädchen ist krank.«

Elasser hob blitzschnell beide Hände, zog sie rasch gegen sein Herz und schien reden zu wollen. Ja, er schien gewaltsam bemüht, die ränkevolle Finsternis, die er um sich gewahren mußte, wenigstens durch Worte zu zerstören; der Polizeikommissar nahm seine Partei, bemerkte schüchtern, die Mutter des Kindes liege schwer darnieder und wünsche die Tochter vor ihrem Tode noch einmal zu sehen. Durch diese List gedachte er das Herz der Oberin zu rühren.

»Sie wird sie im Himmel wiedersehen«, antwortete die Oberin mit feierlich erhobener Hand und mit langsamer, zu peinvollem Lauschen zwingender Stimme. Dann winkte sie den Nonnen zu und verließ an ihrer Spitze den Raum.

Arnold, als wären seine Sinne für andere Wahrnehmungen getrübt, starrte gegen den Boden; das rasche, allseitige Getrappel auf den Steinfliesen schien ihn zu fesseln. Auch er wandte sich schließlich, um fortzugehen. Elasser stieß einen Seufzer aus, der Arnold noch lange in Erinnerung haften blieb, ordnete den feiertäglichen Rock, der sich verschoben hatte, und sagte mit seinem kummervollen, diesmal aber von Entschlüssen durchwühlten Gesicht nichts als: »So wahr ein Gott lebt –!«

Der Kommissar und Maxim Specht gingen dem Dorfe zu. Plötzlich verabschiedete sich Specht von seinem Begleiter, schaute sich nach Arnold um und wartete, bis er herankam.


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