Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Zwölftes Kapitel

Die ganze Ebene lag im tiefen Schnee. Es war sogar mühselig, nach Podolin zu kommen, aber da Maxim Specht Arnold durch einen kleinen Burschen hatte zum Besuch bitten lassen, folgte er der Aufforderung, trotzdem es schon weit im Nachmittag war. Als er in der Wohnung des Lehrers ankam, war es schon dunkel. Specht saß lesend am Tisch, und in einer Teekanne vor ihm summte das Wasser. Das Stübchen war gemütlich; der Lehrer trug einen großväterischen Schlafrock und rauchte aus einer langen Pfeife. Die Tabakswolken zogen langsam durch das Zimmerchen, nur über der Lampe wurden sie in schnellen Wirbeln emporgerissen.

Als Neuigkeit erzählte Specht, seine Schreiberei habe in der hauptstädtischen Redaktion solchen Beifall gewonnen, daß man ihm eine Stellung bei dem Blatt angetragen habe. Er werde auch nicht säumen; noch vor Weihnachten gehe er nach Wien, obwohl sein neues Amt erst im Januar beginne. Aber da sei viel zu ordnen, und er könne es vor Ungeduld in Podolin nicht mehr aushalten. »Ich freue mich ja wahnsinnig, lieber Freund! Endlich! Wenn Sie wüßten, was in mir alles brodelt, was da drinnen steckt! Nicht genug Hände hat man dort, und hier sind zwei bald zuviel. Endlich werd' ich atmen können!«

Arnold nickte. Niemals war ihm der Lehrer so sympathisch gewesen, niemals auch hatte er so leicht das Wesen eines andern begriffen. Atmen können! Er betrachtete das Gesicht des Lehrers, das in peinlicher Sauberkeit gehaltene Stübchen, die Bücher an den Wänden und auf dem Tisch. Maxim Specht, an das wortkarge Gehaben des Kumpans längst gewöhnt, war der Gelegenheit froh, sich ausschwatzen zu können. Er schenkte Tee ein; Arnold lehnte sich auf dem Sessel zurück und starrte in die Luft. Auch in ihm meldete sich höheres Leben. Das durch Gewohnheit nahe trat zurück, und der Horizont wurde beglüht von einem noch verborgenen Feuer.

»Sie müssen mir ein wenig auf Beate achten«, sagte Specht, in Freudigkeit vor sich hinbrütend, und ohne seine Worte sonderlich zu wagen. »Zwar ist alles aus zwischen uns, aber was man geliebt hat, soll man bewahren. Vielleicht gehen Sie hie und da zu Hankas. Zu Ihnen hab' ich ein, ich möchte sagen, übersinnliches Vertrauen. Jaja,« seufzte er, schlürfte behaglich aus der Tasse und blickte nicht ohne Empfindsamkeit in die Rauchwölkchen, »so geht die Liebe hin, und das Leben ergreift uns.«

Arnold griff nach einem der Bücher im Regal. Es war ein Band von Gibbons Geschichte, vom Untergang des Römerreichs.

»Sie hat jetzt ein Verhältnis mit dem Bauernknecht auf dem Randomirschen Gut«, fuhr Maxim Specht halb für sich fort, als vermöchte er sich von diesem Gegenstand nicht zu trennen. »Traurig genug. Mir tut nur der arme Hanka leid. Er hat sich ihrer angenommen und glaubt nun, eine unverdorbene Blume zu besitzen, ein unschuldiges Kind. Zum Lachen!«

Arnold bat, Specht möge ihm die Geschichtsbücher auf einige Tage borgen. Vor der Abreise solle er sie wieder haben. Das plötzliche Interesse für die Historie war kaum mehr als Selbsttäuschung; ein Versuch, sich von seinem Innern ab- und an ein Äußeres, Weltliches zuwenden. Er hatte nach Schriften solcher Art früher nie gefragt. Die Vergangenheit der Erde und ihrer Völker war zwar bei ihm nicht Lernfutter gewesen, um abgelegene Höhlen des Gedächtnisses zu stopfen, aber nie war auch Lebendiges daraus hervorgegangen. Wie er nun zu Hause sich in diese Darstellung des Falls einer Nation vertiefte, gewahrte sein frischer Geist mit einem unermeßlichen Erstaunen, wie die Führung der menschlichen Angelegenheiten stets weit über den persönlichen Willen hinausgerückt wird. Dadurch erschien ihm zunächst alles als ein bodenloses Märchen. Zorn, und Gleichgültigkeit wechselten in seinem Innern. Voll edlen Sträubens las er trotzdem Seite für Seite, brachte jedem Ereignis eine Fülle von Miterleben entgegen und lachte nicht selten spöttisch und verächtlich, da manches ganz anders auslief, als er es abgeschätzt hatte. Wie ebensoviele Käfer, die dumm in der dunklen Rinne laufen, statt den sonnenbeschienenen Weg zu wählen, kamen ihm die Handelnden vor, und die Leidenden wie Mücken, die trunken ins kleine Netz sich verstricken, während rundum die Luft voll Freiheit ist. Seltsam war seine Anteilnahme, seltsam, wie er von dem längst entschwundenen Treiben längst vermoderter Geschlechter für die Gegenwart Besitz ergriff, wie er über Schicksalsmächte rücklebend verfügte, mit brennendem Kopf den Zusammenhang verlor und in wirrem Trotz sich anmaßte, an Stelle eines jeden dieser Helden und Unhelden frei über das Kommende bestimmen zu können. Indem das in Zeit und Raum Entlegenste wie Nächste in seiner Phantasie verschmolz, stieß er die neuen Bilder bald voll Haß von sich und kehrte bald leidenschaftlich suchend danach zurück.

Aber gleich wie in dünstevoller Atmosphäre sich ein vielfarbiger Ring um jede Flamme bildet, so waren jene Bewegungen nicht das eigentlich ihn Erfüllende, sondern nur Ausstrahlungen. Er las, geriet in Zwiespalt und Betrachtung, raffte sich auf, bekämpfte, ordnete, überblickte, aber alles das hatte mit seiner Lektüre gar nichts mehr zu tun.

Um seiner Bedrängnis einigermaßen Herr zu werden, begann er wieder viel draußen herumzuwandern. Dabei kam er eines Nachmittags zu einer kleinen entlegenen Bauernschenke in der Nähe der sogenannten Polen-Mühle. Er hielt Einkehr und ließ sich ein Glas Wein geben. Zufällig fiel sein Blick in ein von einer Talgkerze erhelltes Seitenzimmerchen, und dort sah er Beate, dicht und zärtlich an den hünenhaften Knecht geschmiegt, mit dem sie auf dem Jahrmarkt getanzt hatte. Arnold achtete nicht sonderlich darauf. Er griff nach der Zeitung, die auf dem Tisch lag. Es war der »Mährische Landbote«. Gleichgültig las er, bis sein Blick auf eine telegraphische Meldung fiel, des Inhalts, daß der Jude Glasser beim Justizminister zur Audienz vorgelassen sei. Mehr stand nicht darüber, aber dies befriedigte Arnold so vollkommen, daß er munter pfeifend seinen Weg fortsetzte.

Vor dem Postamt auf dem Hauptplatz gewahrte er Specht. »Wie geht es Ihnen?« fragte der Lehrer mit so übertrieben liebevollem Tonfall, daß Arnold ihn mißtrauisch anblickte.

»Elasser ist beim Justizminister – wissen Sie schon?« sagte Arnold. Wie er so dastand, ein wenig vorgebeugt, mit listig spähendem Blick, das erregte Maxim Spechts Lachlust, und er erwiderte: »Spaß! Schon längst gewesen.« »Nun, und ist Jutta schon frei?« fragte Arnold.

»Frei? Meinen Sie wirklich frei?« Specht lachte belustigt. Da er aber bemerkte, wie sich in Arnolds Gesicht wieder jener Zorn sammelte, dessen Äußerung er fürchtete, sagte er schnell: »Der Minister hat sich sehr gut benommen, o ja. Er hat dem armen Vater auf die Schulter geklopft, das tut ein Minister in solchen Fällen stets, und hat ihn mit den Worten entlassen: ›Fahren Sie ruhig nach Hause; das Kind wird Ihnen zurückgegeben werden.‹«

Arnold nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Den Spott in dem Bericht des Lehrers begriff er nicht.

»Sie scheinen ganz einverstanden zu sein,« fuhr Specht munter fort, »aber nun weiter. Der Minister beauftragt den Staatsanwalt, beim Landgericht die Strafanzeige wegen Entführung zu erstatten. Er verlangt ferner, daß ein gerichtlicher Auslieferungsbefehl geschrieben und dem Kloster zugestellt wird. Und was, meinen Sie, geschieht darauf? Die Ratskammer des Landgerichts lehnt diese Anträge einfach und rundweg ab.«

»Das wissen Sie doch noch nicht«, versetzte Arnold unwillig. Er mißverstand Spechts lebendige Wiedererzählung, durch welche die Zeitwörter in der Gegenwartsform erschienen.

Maxim Spechts Mienen wurden feierlich. »Was für ein Unglück für Sie, lieber Freund, daß Sie so unerfahren sind!« rief er aus und schlug die Hände zusammen. »Allerdings hätte ich es vorher nicht wissen können, denn so weit kann sich der frechste Pessimismus nicht versteigen. Aber es ist geschehen, ist schon geschehen.« Arnold schwieg. Er schaute den Lehrer studierend an, als mangle ihm in diesem Augenblick das Zutrauen in dessen Worte. Besinnend zur Erde blickend, schüttelte er den Kopf.

»Und noch etwas, lieber Freund, das ist noch nicht alles«, fuhr Specht mit leiser Stimme fort und zog Arnold ein wenig von den Häusern weg. »Der Advokat Elassers wollte die Akten sehen, in denen dieser Beschluß stand. Das erlaubt das Gesetz. Man sieht aus den Akten die Begründung des Urteils. Denn schließlich sollte doch jedermann wissen dürfen, warum die Ratskammer das Verlangen des Justizministers abschlägt. Und auch das ist nun verweigert worden, auch das.« Specht suchte erregt in seiner Tasche, nahm einen Zettel heraus, entfaltete ihn und sagte: »Ich habe mir von dem Dekret eine Abschrift genommen. Hören Sie!« Arnold trat dicht neben Specht, so daß er beim dürftigen Schein einer Öllaterne mitlesen konnte, was Specht murmelnd vorlas. »An den Landesadvokaten Dr. Steinbacher. Ohne die Frage zu entscheiden, ob Samuel Elasser in dieser Angelegenheit als Privatbeteiligter anzusehen sei –«

»Was heißt das?« unterbrach Arnold.

»Das? Das ist ein Schnörkel, den niemand auf Gottes Welt verantworten kann. Es ist nämlich nicht entschieden, heißt das, ob es den Elasser etwas angeht, wenn ihm sein Kind gestohlen wird. Also weiter ... anzusehen sei, wird die Einsichtnahme in die Akten betreffs der Sache Jutta Elasser verweigert, weil wichtige Gründe dem im Wege stehen. Das Landesgericht in Strafsachen.« Specht faltete seinen Zettel wieder zusammen.

»Wichtige Gründe?« fragte Arnold, der immer noch nicht völlig glauben wollte und keiner Lüge auf den Grund zu kommen fähig war. Fassungslos schaute er dem Lehrer ins Gesicht, und allmählich begriff er selbst, daß diese wichtigen Gründe in den zwei Worten bestanden, die sie vorgeben sollten.

»Nun spüren Sie den Atem unserer Welt«, sagte Specht mit Bitterkeit. »Heute war ein Herr von Groben bei mir, Gerichtsadjunkt in Lomnitz. Er sollte sich im Auftrag der Regierung über die Stimmung unterrichten, die unter den Gutsbesitzern für oder gegen die ganze Geschichte herrscht. Ich habe ihm ein Licht aufgesteckt, ich habe unter anderm auch von Ihnen gesprochen. Aber glauben Sie denn, daß das etwas nützen wird? Nicht einen Pfifferling. Die großen Herren tun, was sie wollen, und der kleine Jud mag sehen, wie er zu seinem Recht kommt. Wir beide werden es nicht erleben.«

Arnold hörte das alles nicht. Er stand und schien zu überlegen, welchen Weg er zu nehmen habe, um nicht einem furchtbaren Gespenst in die Arme zu laufen, das aus der Nacht emporstieg.

Langsam und ohne Gruß entfernte er sich von Specht. Er hatte kaum ein paar Schritte zurückgelegt, so holte ihn der Lehrer ein.

»Ich sage Ihnen adieu, ich reise morgen früh«, sagte Specht. »Ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten«, fügte er mit unsicherer Stimme hinzu und zog ein braunes Kuvert aus der Manteltasche. »Wollen Sie zu Hankas gehen und dies Beate geben? Nur ihr selbst und wenn niemand sonst dabei ist –? Wollen Sie das? Und grüßen Sie Agnes Hanka noch besonders von mir.«

Arnold nickte und nahm das Ding in Empfang. »Und nun, Liebster, leben Sie wohl!« sagte Specht, indem er Arnold die Hand gab. »Sollte Sie das Geschick einmal dorthin führen, dann wissen Sie, wo Sie einen Freund haben. Leben Sie wohl, Arnold! Von Ihnen scheide ich am schwersten.« Schnell wandte er sich ab und ging.

Als Arnold nach Hause kam, entfiel dem offenen Kuvert der Inhalt. Es war die Photographie Beates; auf dem Bilde stand: Zur Erinnerung an den herrlichen 7. Oktober. Obwohl von ländlicher Unvollkommenheit, war das Porträt doch ähnlich; das Gesicht über dem nackten Hals und den halbentblößten Schultern hatte einen unschuldigen und süßen Ausdruck. Wie Steine unter dunklen Torbogen traten die Augen unter den Linien der Brauen hervor. Arnold konnte eine Empfindung der Geringschätzung nicht unterdrücken, die Maxim Specht galt, dem so rachsüchtig offenen Kuvert und der Wichtigkeit, die der Lehrer all diesem beimaß.

Seine angstvollen und heißen Gedanken waren ganz woanders, und er bemerkte gar nicht, daß die Mutter, schweigsam und bleich auf dem niedrigen Sofa liegend, dumpf vor sich hinstöhnte.



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