Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Er wünschte zu wissen, wovon all die Leute sprachen, die sich hier zusammengefunden hatten. Mitteilsam glänzten die Augen, voll Geschäftigkeit öffneten sich die Lippen, um zu schwatzen und zu lachen. Viele Männer waren feist und ansehnlich; andere sahen aus, als hätten sie schreckliche Sorgen. Jemand ergriff Arnold beim Arm. Es war Baron Drusius, der seine Freude ausdrückte, ihn zu sehen. Er führte ihn zu einem jungen Mädchen, das eine Narbe auf der Wange hatte. »Meine Schwester«, sagte der Alte. Sie grüßte flüchtig, lächelte flüchtig und wandte sich zu einem Herrn, der in majestätisch-nachlässiger Haltung dastand und einem Menschen glich, welcher von dem Bewußtsein unendlicher Geistesüberlegenheit erfüllt ist, dies aber in anmaßender Bescheidenheit zu verbergen wünscht.

»Das ist der berühmte Bernay, eine Kapazität«, flüsterte Drusius Arnold zu. »Er will einen Staat von freien Menschen gründen, ohne Steuern und ohne Städte. Er hat eine Aktiengesellschaft gewonnen, um einen Landstrich in Amerika anzukaufen ...«

Petra trat zu Arnold. Ihre vorgeschobene Oberlippe gab dem verständigen Gesicht einen altjüngferlichen Ausdruck. Sie machte Arnold wieder mit fremden Menschen bekannt. Von neuem das unerklärliche Namennennen, Verbeugen, Händedrücken. Wer sind sie? dachte Arnold; was bedeutet das? Einige waren so freundlich wie gegen jemand, auf den man große Hoffnungen setzt. Arnold grübelte, weshalb sie freundlich seien, ohne daß sie ihn kannten; weshalb sie, zuerst kalt, plötzlich dies überfließende Betragen annahmen, wenn sie sich verbeugt und die Hand gereicht hatten. Sie schienen Geheimnisse zu wissen, und oft strahlte es feindselig und angstvoll aus ihren Augen. Aber ihre Worte klangen freundlich und leer.

Auf einmal kam Natalie mit Lebhaftigkeit auf ihn zu und sagte: »Sind Sie nicht aus Podolin, Herr Ansorge? Haben Sie da nicht Doktor Hanka kennengelernt? Anna Borromeo sagte mir, Sie kämen aus Podolin. Sie kennen Hanka? Und kennen Sie auch seine Frau, diese Beate? Ja? Erzählen Sie doch – bitte!«

Das alles sprudelte Natalie nur so hervor. Sie war ganz außer sich vor Neugierde und biß sich auf die Lippen vor Verdruß, daß sie nicht früher den Einfall gehabt, Arnold zu fragen.

Arnold fühlte sich abgestoßen durch das zudringliche Wesen. Nachdem er einige Sekunden überlegend geschwiegen, hob er in jener heiteren Weise den Kopf, die ihn auszeichnete, und sagte: »Herr Hanka hätte ein besseres Frauenzimmer finden können, glaube ich. Die Beate, oder wie sie heißt, ist dem Teufel zu schlecht.«

Natalie erblaßte, sah sich erschreckt um, legte einen Finger auf den Mund und erwiderte betreten: »Was machen Sie denn, Sie komischer Mensch! Das dürfen Sie doch nicht so offen sagen. Geben Sie nur acht, daß Doktor Hanka nicht so etwas zu Ohren kommt, sonst können Sie sich schöne Unannehmlichkeiten zuziehen. Er hat doch diese Beate seit ihrer Kindheit für sich aufgezogen.«

»Es ist aber doch so, wie ich sage«, beharrte Arnold kalt. »Von mir aus mag sie treiben, was sie will, aber ich weiß, was ich weiß.«

Natalies Neugier war aufs äußerste gestiegen. Ungeduldig nahm sie Arnolds Arm und führte ihn in ein nebenan gelegenes kleineres Gemach. Zwei alte Herren saßen am Fenster und unterhielten sich leise; sie erhoben sich nun und gingen hinaus.

»Also was wissen Sie? Erzählen Sie! Erzählen Sie!« begann Natalie sogleich.

Arnold runzelte die Stirn. »Gar nichts erzähl' ich Ihnen«, antwortete er grob.

Natalie sah ihn entsetzt an.

Er aber fuhr fort: »Ist es wahr, daß Sie gar kein Geld haben, um die ganze Herrlichkeit zu bezahlen, die Sie da den Leuten vormachen? Ich hab' auch noch ganz andere Dinge gehört, davon will ich aber jetzt nicht reden. Was treiben Sie denn eigentlich? Warum ist denn das so?«

Natalies Entsetzen war mitleiderregend. Sie zitterte über den ganzen Körper, trat einen Schritt zurück und flüsterte: »Was fällt Ihnen denn ein? Sind Sie toll geworden, Monsieur?«

Ah, Monsieur sagt sie zu mir, dachte Arnold verdrießlich. Als er jedoch ihre hübschen Kinderaugen voll Tränen sah, wurde er gerührt. »Wenn es nicht wahr wäre, würden Sie nicht weinen«, bemerkte er treuherzig.

Natalie hätte plötzlich lachen mögen. Sie zog das Taschentuch und verbarg das Gesicht. Sie erstickte beinahe an dem unterdrückten Lachanfall. Dann kam ihr ein Einfall, der ihr in den Ernst zurückverhalf. Er ist reich, dachte sie, man könnte seine Dummheit benutzen.

»Sie sind ein sonderbarer Mensch«, sagte sie, das Gesicht erhebend und unter Tränen lächelnd. »Wir müssen ausführlich miteinander reden, wir würden uns sicher verstehen. Kommen Sie doch mal, wenn ich allein bin.«

Arnold verabschiedete sich und ging.

Er aß bei Borromeos zu Abend. »Wie hast du dir die Zeit vertrieben, Arnold?« fragte Anna Borromeo.

Er dachte einige Sekunden lang nach und erwiderte: »Ich will nicht die Zeit vertreiben. Ich will die Zeit halten.«

Frau Anna lachte.

Borromeo liebkoste seinen Bart. »Er hat ganz recht«, sagte er. »Man sollte diese Redensarten immer beim Schwanz packen und sie nicht lassen, bis sie zertreten sind.«

Arnold betrachtete Borromeo und die Frau und lauschte ihrem spärlichen Gespräch. Sie sprachen wie durch eine Wand. Sie sahen einander nie an, ohne daß in ihren Blicken etwas wie Unmut oder Feigheit lag. Noch gestern hätte Arnold das nicht gespürt. Einen Augenblick lang wollte er das rätselhafte Dunkel, das zwischen den zwei Personen herrschte, durch eine ehrliche Frage ergründen. Daß er dies nicht vermochte, daß er einsah, das dürfe nicht geschehen, war die Ursache zu tieferem Nachdenken. Wo er stand, wo er saß, wohin sein Herz sich wandte, überall wuchs ein Anderssein-Müssen aus dem Boden.


 << zurück weiter >>