Jakob Wassermann
Der Moloch
Jakob Wassermann

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Zwanzigstes Kapitel

Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche hatte Alexander Hanka seine Reise verschoben. Er sagte sich mit Befriedigung, daß ihn das Landleben, die Stille und Gleichmäßigkeit der Tage festhalte. Aber hätte ein Geist wie der seine, ewig nach den leeren Aufregungen der Gesellschaft lechzend und sie zugleich verachtend, dies früher ertragen? Sich früher so sorglos zwischen diesen nichtssagenden Beschäftigungen, diesen ereignislosen Wintertagen eingebettet? Bisweilen schüttelte er über sich selbst den Kopf, aber wie jemand, der ein sonst mißachtetes Gut nun mit Leidenschaft umklammert. Agnes war glücklich. Beate hatte sich mit der neuen Gesellschaft zurechtgefunden, und wenn auch Hanka in ihren Augen eine komische Figur war, versagte ihr eingeborener Spürsinn ihm nicht die Titel eines gescheiten Menschen und aufrichtigen Freundes. Auch war sie zahm gestimmt, seit der junge Bauer einer andern das Herz zugewandt hatte. Fruchtlos war sie hinübergegangen, hatte geweint, gedroht, gerast. Das alles ging förmlich im Dunkel vor sich, abgewandt vor den Augen, die sie liebevoll verfolgten. Endlich schämte sie sich, zuerst aus Verzweiflung und weil sie anders sich nicht helfen konnte, um sich selbst noch zu achten; dann war es die wirkliche Scham, die ins Fleisch schnitt und das Blut vergiftete. Sie wälzte sich auf dem Boden ihrer Kammer und heulte in sich hinein. Dann kam sie wieder herab ins Wohnzimmer, blaß und lächelnd, saß neben Hanka, spielte ein harmloses Kartenspiel mit ihm, wärmte sich an seiner Nachsicht, schmiedete dabei ihre schlauen Pläne, schien sanfter, ergebener, mitteilsamer und launenloser als früher.

Von seinen Freunden in der Stadt hörte Hanka wenig. Außerhalb ihres Kreises lebend, war er gleich dem Spieler, der den Einsatz versäumt hat. Nur Natalie Osterburg schrieb ihm. Neugierde verschlang sie, alles zu wissen, was mit dem Fall Elasser zusammenhing. In den Gesellschaften spreche man von nichts anderm, und er solle doch umgehend schreiben, wie diese berühmte Jutta aussehe, wie sie sich benehme, sich kleide, welche Farbe ihre Augen hätten, und so weiter. So geschwind wie möglich müsse sie das wissen, schon um den Neid zu genießen, mit dem dann ihre geheimnisvolle Wissenschaft beehrt werden würde. Da er, Hanka, an der Quelle der Ereignisse sitze, brauche er sich ja nur zu bücken und aufzuheben, was ihr so kostbar sei. Im übrigen möchte er nicht mehr lange mit der Rückreise zögern, da sie frische Ananas aus Hamburg erhalten habe.

Natalie, wie sie leibt und lebt, dachte Hanka amüsiert, ohne sich im geringsten zu beeilen, seiner reizenden Freundin zu antworten.

Mit Lesen, Spazierengehen, Essen und Schlafen verbrachte er die Zeit, und all dies hatte in seinen Augen einen Anstrich von Philosophie. Er trug sich mit der Absicht, eine Schrift über die Einsamkeit zu verfassen, aber er verzichtete darauf. Ein guter Gedanke ist kurz und reicht für drei Zeilen, sagte er sich; ihn breitzuquetschen wie einen Kuchenteig ist weder ehrenhaft noch unterhaltend. Er empfand Widerwillen und Furcht vor der Arbeit. In ihm war ein starker Strom von Erkenntnis, aber ein dünnes Flüßchen von Tatkraft. Seine Gewohnheiten konnten ihm zugleich verhaßt und unentbehrlich sein, und der halb unfreiwillige Aufenthalt in Podolin, weit entfernt, ihm die Segnungen der Stille, Sammlung und Abgeschiedenheit zu bringen, hatte etwas Zerstörendes für ihn. Seine nach Ablenkung hungrigen Blicke sahen sich auf ein schwankendes Bild gewiesen, auf dem sie mit jedem Tag fester ruhten. Er dachte an Beate, an nichts anderes als an Beate.

Drei Wege gibt es, sinnierte er; entweder ich gehe fort und lasse mich nicht wieder sehen; oder sie wird meine Geliebte; oder ich heirate sie. Das erste habe ich schon einmal erfolglos versucht; schon damals hatte mich der Teufel beim Genick. Das zweite ist ja für mich ganz angenehm. Doch mit der Ahnungslosigkeit ein Geschäft machen, gehört nicht gerade zu den sympathischen Dingen. Allerdings, ein natürlicher Geist wird sich in das natürlichste Verhältnis zu finden wissen, aber hab' ich darum mit vierundzwanzig Jahren Vorsehung gespielt, um mich jetzt selbst zu verlassen wie jemand, der ein erworbenes Vermögen plötzlich zum Fenster hinauswirft? Ich kann sie gegen Armut schützen, allein was ist mit Geld gegen den bösen Willen der Gesellschaft auszurichten? Bleibt also das Schlimmste von allen, sie zu heiraten. Eine Promesse auf Sicherheit, systematischer Freiheitsraub, gewohnheitsmäßiges Beisammensein und Langeweile zu zweien. Das Gepäck des Lebens wächst wie im Sommer bei der Eisenbahn; nach dem Jahr der Liebe kommen die Jahre der Pflichten. Es ist wie mit den Schaumtörtchen in der Konditorei; je besser sie sind, je sicherer verderben sie den Magen. Und gesetzt den Fall, ich hätte Nachkommenschaft zu erwarten. Habe ich die Talente eines Erziehers, die Geduld eines Lehrers, die Eigenschaften eines Vorbilds? Ich habe kein Verständnis für Kinder und wäre ein erbärmlicher Vater. Dem veralteten Institut der Ehe neue Glorie zu verschaffen, ist mir also jedenfalls versagt. Wie ist es aber sonst beschaffen, mit der Liebe etwa? Liebt Beate mich? Ein Gedanke von hervorragender Komik. Ich sie? Seit mich auf dem Gymnasium meine Mietsfrau in Begeisterung versetzte, weiß ich von solchen reflektorischen Nervenreizen nichts mehr. Summa: wie man es auch betrachtet, nichts Haltbares bleibt; Spinnefäden, die durch die Sonne ziehen.

Damit beendigte Alexander Hanka seine ernsthaften Überlegungen. Aber das Zimmer und das Haus waren ihm zu eng geworden, und er begab sich ins Freie, trotzdem schon finstere Nacht angebrochen war. Er vermochte schwer den Weg zu erkennen, der ihn von den Feldern schied. Der Himmel, kaum wahrnehmbar, glich einem verdunkelten Milchglas, und die übrige Welt lag schwarz wie Kohle. Um es in seinem Innern hell werden zu lassen, dazu war Hanka die äußere Nacht sehr willkommen. Aber wie ehrlich er sich auch bemühte. Klarheit fand sich nicht.

Am andern Morgen trat er mit einem militärisch ausholenden Schritt vor Agnes hin, als er sie allein sah. »Was würdest du sagen.« fing er ohne Umstände an, den Mund ihrem Ohr nahe, »wenn ich Beate heiraten würde?«

In großer Bestürzung riß Agnes die blauen Augen auf. Hanka saugte verlegen und krampfhaft an seiner Zigarre, sah sich spähend um, riß plötzlich ein leeres Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb in hastigen Zügen: »Du mußt gestehen, daß es nicht übermäßig vernünftig wäre. Heiraten ist in jedem Fall eine Dummheit, zugegeben, aber ich habe mich wenigstens auf diese Dummheit gut vorbereitet. Ad zwei: Für mich ist die Ehe etwas wie eine Heilkur. Ich bin nicht verliebt, was ja an sich ziemlich traurig, aber für das ganze Unternehmen von Vorteil ist. Was mich besonders anzieht, kannst du dir denken.«

Agnes las langsam mit, indem sie ihre Schulter an den linken Arm Hankas lehnte. »Nun?« fragte sie, naiv und ergeben zu ihm emporblickend, als seine Hand zögerte.

Er zuckte die Achseln und knüllte das Blatt zusammen.

»Du mußt es selber am besten wissen, Alexander«, sagte Agnes, indem auf einmal ihre Augen feucht wurden. Sie senkte verwirrt die Lider und machte sich nachdenklich an ihre häuslichen Arbeiten. Hanka nahm, unzufrieden mit sich, ein Buch, um zu lesen. Es ist unmöglich, sich jemand zum Freund oder zur Gattin zu züchten, dachte er und spuckte verächtlich durchs Fenster in den Garten, den die Sonne durchflutete; aber erst die Ereignisse charakterisieren eine Handlung, und ich will mich nicht selbst verraten, weil es mir einmal geglückt war, Idealist zu sein.

Als Beate ins Zimmer trat, schritt er ein paarmal auf und ab, dann wandte er sich plötzlich mit einer erzwungen pfiffigen und überlegenen Miene zu ihr. »Was würdest du sagen, Beate,« begann er mit derselben hölzernen Phrase, mit der er Agnes angeredet, und in einer enorm tiefen Stimmlage, »was würdest du sagen, wenn ich dir einen Heiratsantrag machen würde?« Er sah verärgert aus, und Runzeln erschienen auf seiner Stirn. Und da Beate unbeweglich vor sich hinsah und endlich mit langsamen Schritten das Zimmer verließ, sank er in ein tiefes Nachdenken und pfiff leise, ohne die Blicke vom Boden zu erheben. Es mochte eine Stunde später sein, als ihm das junge Mädchen am Hauseingang begegnete. Sie erhob im Vorbeigehen den Kopf und sagte mit listigem Lächeln: »Ja.« Hanka durcheilte klopfenden Herzens den Garten.

Die Nachricht von Frau Ansorges Tod war schon am Morgen zu Hankas gelangt. Alexander Hanka hatte sich gegen den üblichen Teilnahmsbesuch erklärt. Am folgenden Tag war das Begräbnis, und dorthin beschloß Hanka zu gehen. Der Kirchhof lag hoch auf dem Hügel. Trotz des klaren Nachmittaghimmels herrschte ein sturmartiger Wind. Die Gräber waren noch mit Schneeresten bestreut, die wie Blumen durch Zweig und Erde lugten. Hanka hielt sich abseits. Mit einer Mischung von Staunen und Ungläubigkeit beobachtete er Arnold, der neben dem Grab stand und mit einer wunderlichen Ruhe in das viereckige Loch blickte, als der Sarg hinabgelassen wurde. Alle sahen auf ihn, selbst der Pfarrer stotterte in seiner formelhaften Rede, brach plötzlich erregt ab und entfernte sich. Ursula weinte, aber lauter klang der Schrei einer Krähe, die über die Köpfe flog. Borromeos bleiches Gesicht über dem dunklen Bart wurde noch bleicher. Auch er hatte die Augen auf Arnold gerichtet, jedoch ohne Unwillen, ohne Vorwurf.

Zu Hause betrieb Hanka seine Vorbereitungen zur Reise, denn nun galt es, die Zeit zu nutzen. Er hätte sich an diesem Abend eine leichtere Stimmung gewünscht. Früh am Morgen fuhr der Wagen vor, der ihn zur Station bringen sollte. Nach anderthalb Stunden stand er auf dem Bahnhof und sah Doktor Borromeo und Arnold, beide reisefertig, beide gleich ihm den Zug erwartend. Hanka grüßte mit der ihm eigenen ernsten Verbindlichkeit, näherte sich aber nicht, sondern schritt in der holzgedeckten Halle auf und ab. Es war ein wunderschöner Tag; die Luft war still, die Erde hauchte feuchten Duft aus. Weithin schimmerten die Gleise in der Sonne und verloren sich in den graublauen Waldzügen der Ebene.


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