Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

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4

Warschauer erhob sich schwer, schritt auf Etzel zu, der mit gesenktem Kopf auf dem Sofarand saß, tippte ihm mit dem Finger auf die Stirn, einmal, zweimal, bis dieser die Augen zu ihm aufschlug. Das Bild des durch die Sturmnacht jagenden Negers mit dem Blutfaden im Gesicht, es war kaum zu ertragen, er verspürte Kälte in den Eingeweiden, unwillkürlich machte er eine abwehrende Geste. »Na, Jungchen?« sagte Warschauer, setzte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter, »haben Sie genug davon?« Etzel schüttelte den Kopf. »Genug werd ich erst haben, wenn . . .« Er stockte, die Brauen waren zusammengezogen. – »Wenn –?« – »Wenn ich alles von Ihnen weiß, alles, alles.« – Warschauer wiegte ironisch-besorgt den Kopf. »Alles ist viel, alles, alles ist Ihre gewöhnliche Unverschämtheit, Mohl. Aber Sie haben Glück, ich bin in Schwung. Wenn Sie mir ein bißchen Ihre Hand überlassen, das feine Aristokratenhändchen, daß ich es zwischen meine Pranken nehme, will ich ein netter Onkel sein und mein Garn weiterspinnen.« Beinahe gierig haschte er nach Etzels Hand, der die ihn grausig anmutende Zärtlichkeit widerwillig duldete, und nur, weil sie als Bezahlung gefordert wurde. Die Gasflamme sang, eine fette Schmeißfliege raschelte unter den Papieren auf dem Schreibtisch.

Das eintönige, an Kantorgeleier erinnernde Reden begann wieder. Es gelang Etzel, seine Hand aus der breiig-weichen Umschließung zu befreien, doch hütete er sich, sonst eine Bewegung zu machen. »Es wäre eine verkehrte Vorstellung, kleiner Mohl, wenn Sie mich dort als eine Art Jesaias erblicken würden, der den Untergang der Welt mit zornentbrannten Prophezeiungen introduziert. Nicht die Spur. Erstens ist da an Untergang gar nicht zu denken, ein Begriff, den ein paar belletristische Philosophen erfunden haben, um den seelischen Starrkrampf Europas zur Sensation aufzubauschen, zweitens: Das Auge, das sieht, ist ein Regulativ für das Herz, das leidet. Da die meisten Menschen mit Blindheit geschlagen sind, leiden sie desto mehr. Der Sehende wird kalt. Eine grausame Wahrheit, aber wär's keine, wie könnten wir, Sie und ich, jeden Morgen aus dem Bett steigen und wieder das Hemd und die Strümpfe anziehn und wieder die Zeitung lesen und wieder zu Frau Bobike wandeln? Wie wäre das möglich? Und was mich betrifft, ich leide ausschließlich an mir selber. An andern leiden, das ist Schwindel. Leide nur einer genügend an sich, er braucht nicht zu fürchten, daß er versteinert. Wir wissen viel mehr voneinander als . . . wir wissen. Ich hatte ja zu schleppen. Ich hatte was hinter mir. Es ist Ihnen, zum Teil wenigstens, jetzt bekannt. Ich mußte trachten, den Waremme unschädlich zu machen, verstehen Sie, das wurde nach und nach die Kardinalfrage. Abrechnen, abrechnen. Der Jude ist da, um abzurechnen. Dazu hat ihn Gott bestimmt. Warschauer kontra Waremme, verstehen Sie. Das Hüben und Drüben: zwei Parteien. Europa und die Vergangenheit, Amerika und die Zukunft; es wurde immer mehr zum Leitmotiv. Und bilden Sie sich nicht ein, daß ich fernerhin noch eine Silbe über diese verdammte Affäre Maurizius verlieren werde, das ist abgetan, sag ich Ihnen, da will ich keinen Gedanken mehr dran verschwenden, Sie mögen tun, was Sie wollen.« Er verharrte einige Minuten in seltsam drohendem Schweigen; als Etzel still blieb, fuhr er fort: »Das war also die Geschichte mit meinem Freund Joshua. Meiner Meinung nach war er ein Märtyrer. Heutzutage erregen die Märtyrer keine Aufmerksamkeit mehr, es gibt zu viele. Ich mache mir freilich nichts aus den Märtyrern. Sie hemmen, sie halten auf. Man muß das Schicksal gestalten. Unterliegen und sich opfern, das kann jeder Idiot. Das hat der Osten über uns geschickt, den Märtyrerglauben, die Märtyreranbetung. Da liegt zum Beispiel die russische Seele da, bedeckt Millionen Quadratmeilen Erde und feiert Orgien des Martyriums. Übel, lieber Mohl. Es fehlt die kleine Bemühung, ganz einfach, die kleine bescheidene Bemühung, die sich summiert. Ich bin lange unwissend herumgegangen drüben, jahrelang, nicht scharf genug sehend eben, bis mir ein Mann die Augen öffnete. Von diesem Manne sollen Sie jetzt hören, denn er war die Ursache, daß ich dahin kam, wo ich stehe. Er war gewissermaßen das erste Glied einer langen Kette. Er hieß La Due, Hamilton La Due. Ein mäßig begüterter Kaufmann. Vierzig, zweiundvierzig Jahre alt. Im Westen geboren, an der Küste des Pazifik, wo frische, heitere, unbefangene, kindergleiche Männer leben. Seine Bildung war ungefähr auf dem Niveau eines deutschen Rekrutenunteroffiziers, sein persönlicher Zauber etwas, das man in unsern Gegenden nicht findet. Dabei keineswegs schön oder elegant, bewahre, ein dicklicher, kurzhalsiger, plumper, stotternder Geselle, aber Sympathie strömte von ihm aus und Güte und Arglosigkeit wie die Hitze von einem Dampfkessel. Er hatte eine Menge Bekannte in der Stadt, aber was er eigentlich trieb, neben seinem Gewerbe trieb, davon hatte, glaub ich, niemand eine rechte Ahnung. Ich vermute, daß er dabei sich selber entwischte und sich mit einer lustigen Heimlichkeit in das andere stürzte, wie ein Kind in das verbotene Spiel. Ich lernte ihn kennen, als ich mich eines Tages im Jugendkorrektionshaus nach einem Mädchen erkundigte, das schon längere Zeit dort wegen Trunksucht in Verwahrung war. Ich stand unten an der Treppe, da kam das grüne Polizeiauto angefahren, mächtig groß wie ein Möbelwagen, und aus diesem riesigen Vehikel stieg ganz allein ein etwa zwölfjähriges Bürschchen, finster und verbissen, sprang die Treppen empor, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, so recht wie ein Habitué des Ortes, und wollte eben im Tor verschwinden, die Polizisten konnten ihm kaum folgen, als mein La Due herauskam, den Kleinen hurtig beim Schlafittich packte und sich erkundigte, was mit ihm los sei. Na, und was war los? Er hatte in der Schule einen Federhalter und einen Radiergummi gestohlen. Verbrecher. Rückfällig noch dazu. Man denke, Federhalter und Radiergummi. La Due ging gleich mit ihm ins Office und kam dann, den Jungen an der Hand, wieder zurück. Er hatte für ihn gebürgt. Er erzählte es mir lachend. Ich bin noch keinem Menschen begegnet, mit dem man so leicht ins Gespräch kommen konnte. Gehn Sie mal mit mir, schlug er mir vor, ich habe im Distriktsgefängnis zu tun. Den Jungen verfrachtete er in irgendeinem Shop, dann zog er mich in die Maxwell Street. Unterwegs drängte er mir ein Päckchen Schokolade auf, offenbar weil es ihm höchst unangenehm war, wenn er einem, der sich in seiner Gesellschaft befand, nichts schenken konnte. Er hatte beständig die Taschen voll, beständig teilte er aus, Zigaretten, Schachteln mit Feigen, kleine Gedichtbände, eine Stange Siegellack, kleine Papierfächer, was er grad bei sich trug. Dabei lachte er, stotterte, guckte mit seinem Opossumgesicht neugierig herum, rief ›Hallo, Frank‹ über die Straße hinüber oder klopfte im Vorbeigehen einem Henry aufmunternd den Rücken. In der Maxwell Street war ein vor kurzem eingewanderter Kiewer Jude in Haft, er sollte eine Urkundenfälschung begangen haben, beteuerte aber seine Unschuld, La Due hatte einen Advokaten für ihn gewonnen, den sollte er dort treffen. Als wir hinkamen, war er noch nicht da, wir warteten eine Weile im sogenannten Sitzungssaal, einem finstern Gewölbe, wo ein pestilenzialischer Gestank herrschte. La Due trippelte fröhlich singend auf und ab, er sah aus, als habe er Geburtstag. Scheußlicher Lärm bewog uns, ins Erdgeschoß zu steigen, man hatte ein halbes Dutzend Neger und Negerinnen eingeliefert, ich weiß nicht mehr warum, Gestalten aus dem Inferno. Zwei Dirnen waren darunter und ein lepröser Alter, der vor Wut auf einem Bein tanzte, La Due mischte sich in die Unterhandlungen, nach fünf Minuten hatte er die heulende und keifende Bande zur Ruhe gebracht, eine der Megären, die hexenhafteste, dick geschminkt, kropfig, scherzte sogar mit ihm, indem sie mit gräßlicher Koketterie ihr japanisches Schirmchen, das sie immer noch geöffnet über dem Kopf hielt, hin und her schwenkte, es war eine Szene, bei der mich die Gänsehaut überlief, ich trat einen Augenblick auf die Straße, das Gewühl von Menschen, Karren, Autos, der windgewirbelte Kehricht, die düsterroten Ziegelbauten, die schreienden Farben der Plakate, der bleierne Himmel, es war ein Moment, wo man das eigene Dasein nicht mehr kapiert, ich dachte: Du bist vielleicht auf dem Mond, es ist eine Mondstadt, es sind Mondwesen, zwischen Krater- und Lavawüsten spielt sich ein Gespenster- und Lemurenleben ab. Plötzlich stand La Due mit seinem strahlenden Geburtstagsgesicht vor mir, er hatte eine kokosnußgroße, kalifornische Orange entzweigeschnitten und reichte mir die eine Hälfte. Er hatte gleich einen Korb voll gekauft, das verhaftete Negergesindel hatte sich darüber hergemacht, die Beamten ließen es achselzuckend geschehen. Endlich kam der Anwalt, wir wurden zu dem gefangenen Juden geführt, er hockte in einem Käfig, das ganze Gefängnis bestand wie eine Menagerie aus eisernen Käfigen, da hockte er drin; als er uns erblickte, schluchzte er laut auf. La Due setzte sich zu ihm auf die Pritsche, strich ihm zärtlich über den Kopf, forderte ihn auf, zu erzählen, wie alles zugegangen. Der Mensch war wie ausgewechselt, in kaum verständlichem Jargon schilderte er sein Unglück, es schien wirklich, daß er das Opfer einer Perfidie war, jedenfalls wußte ihn La Due über seine Aussichten zu beruhigen. Das Sonderbare war nur, wie er überhaupt von ihm erfahren hatte. Und von den hundert und hundert andern, für die er ununterbrochen auf den Beinen war. Das blieb mir ein Rätsel. Nach und nach wurde mir ja sein Leben ziemlich vertraut, da er deutschen Sprachunterricht bei mir nahm, ich weiß heute noch nicht, ob er mir damit unter die Arme greifen wollte oder ob er wirklich so lernbegierig war. Er hatte keine Helfer. Er ging immer allein auf seine Jagdzüge in die Slums, von niemand beraten oder gewiesen. Es beruhte offenbar auf einer Art Schneeballsystem. Zum Beispiel, nachdem er dem Juden in der Maxwell Street geholfen hatte, wandten sich gleich sechs jüdische Immigranten an ihn. Juden lagen ihm besonders am Herzen, Juden und Neger. Was er vollbrachte, geschah auf eigene Faust, nach eigenem Augenschein, von Person zu Person. Er hatte keine Wohlfahrtsleute um sich, keine hinter sich. Er schwamm nicht im großen Strom der Philanthropie. Es war ihm vollständig gleichgültig, woher die Dollarmillionen für karitative Anstalten kamen und wofür sie verwendet wurden. Wahrscheinlich war er sich kaum bewußt, daß seine Tätigkeit in eine ganz andere Kategorie von Menschendienst gehörte. Zu urteilen erlaubte er sich nie, dazu war er zu respektvoll und dachte zu gering von sich. Ich sagte ihm einmal, das ganze soziale Fürsorgewerk sei ein Fingerhut voll Milch in einem Hektoliter Tinte. Er sah mich betrübt an. So? meinen Sie? ist das so? fragte er und schüttelte untröstlich den Kopf. Ich bin sicher, daß er die Großunternehmer der Wohltätigkeit nicht schätzte. Es gab aber eine Frau, die Samariterin von Hullhouse, Gründerin der Jugendhilfe, die verehrte er auf Knien, man brauchte bloß ihren Namen zu nennen, so wurden seine Augen feucht. Eines Tages kam er in ungewöhnlich erregtem Zustand zu mir und erzählte, was sich den Abend vorher ereignet hatte. Ein vierzehnjähriger Junge sei mit allen Zeichen der Angst und des Schreckens ins Hullhouse gekommen, habe die Miß zu sprechen begehrt, habe sich, als man ihm bedeutet, die Miß habe sich schon zur Ruhe begeben, auf die Erde hingeworfen und verzweifelt um sich geschlagen. Die Miß soll kommen, die Miß soll kommen. Man holt also die Miß, sie kennt den Jungen, es ist einer ihrer Schutzbefohlenen. Allein mit ihr, stürzt er auf die Knie, beschwört sie, ihn zu retten, zu verbergen, die Polizei sei hinter ihm her, er habe seinen Vater umgebracht. Grund? Seit Monaten hat er Nacht für Nacht mit dem fürchterlichen Stumpfsinn einer Maschine die Mutter aufs grausamste mißhandelt, der Junge hat es nicht länger mitansehen können und ihn mit dem Küchenmesser von hinten erstochen. Was dann sich abspielte, da hätte ich dabei sein mögen, es muß was Unerhörtes gewesen sein. La Due war um Mitternacht ins Hullhouse gekommen, wo er häufig Station machte und gewisse Tips bekam, er hatte den Bericht noch frisch aus dem Mund der Miß gehört, er brachte auch den Jungen, der vollständig gefügig geworden war, nachher zur Polizei. Er schilderte mir den Vorgang mit seiner südlichen Lebhaftigkeit. Die Miß hatte den Jungen angehört und dann begonnen, ihm sanft und entschieden zuzureden, er müsse sich stellen und sich zu seiner Tat bekennen. Er weigerte sich leidenschaftlich. Er habe kein Unrecht getan, er habe ein gemeines Tier aus der Welt geschafft, weiter nichts, es sei besser zu leben in der Welt, wenn das Tier nicht mehr da sei, die Tat verdiene Lohn, nicht Strafe, nicht den Kerker, nein, nein, nein. Seine Augen glühten, der ganze Kerl glühte. Zu leben war sein Recht, das Scheusal beseitigt zu haben, war sein Recht, Vater oder nicht Vater, danach fragt er nicht, wer danach fragt, hat kein Herz im Leib und keinen Verstand im Kopf, der weiß nicht, wie der Hund sein armes Weib gequält und so weiter. Die Miß kannte den Starrsinn des Buben, er war einer ihrer begabtesten Schützlinge, doch maßlos wild und unbändig. Mit Aufgebot all ihrer Seelengewalt überzeugt sie ihn langsam, daß er das Recht nicht habe, fremdes Leben zu vernichten, ich berichte nur, es ist meine Ansicht keineswegs, warum soll man nicht eine solche Pestbeule am Leib der Menschheit ausmerzen, doch was ich denke, ist ja nebensächlich. Sie bringt ihm bei, um seiner selbst willen, seiner Ehre, seines Stolzes willen habe er die Buße auf sich zu nehmen, verborgen könne die Untat nicht bleiben, wie beschämend, wenn er erst aufgespürt, erst überführt werden müsse, statt ein Mann und Held zu sein, stehe er als Feigling und Lügner da, wie solle sie dann je wieder an ihn glauben. Darauf spitzt sie ihre Beredsamkeit zu: Daß sie dann nicht mehr an ihn glauben könne, das macht den tiefsten Eindruck auf ihn. Endlich hat sie ihn erweicht, er fällt ihr um den Hals, der Trotz ist gebrochen. Es hat Stunden und Stunden gedauert, mit Argumenten und Gegenargumenten, mit Beispielen und Geständnissen, mit Zögern und Sichwiederverschließen, mit Bitten und Vorstellungen und Anruf von beiden Seiten. Sie sollen daraus nur entnehmen, was das für ein Menschenschlag ist, wie stark, wie unbeugsam, wie nah zueinander gestellt, wie eng ineinander verwoben. Was später La Due für den Jungen tat, war weniger entscheidend, doch nicht weniger wichtig, die verhältnismäßig milde Strafe, zu der er verurteilt wurde, war seiner unermüdlichen Bemühung zu danken, er hatte bei den Zeitungen Stimmung gemacht und den tüchtigsten Anwalt aus seiner Tasche besoldet. Je genauer ich ihn kennenlernte, je mehr schälte er sich aus der bescheidenen Hülle los. Ich sah einen Menschen, der in all seiner Unscheinbarkeit für ein Ganzes einstand, den Kristall sozusagen, der sich aus dem rohen Material gebildet hatte. Es mochte Ungezählte seinesgleichen geben, und je tiefer ich in die mächtigen Zusammenhänge blickte, je überzeugter war ich, daß er tatsächlich nur einer von Ungezählten war, der eine, den ich zufällig gefunden hatte. Das gerade erschütterte mich in meinem europäischen Hochmut, so wie ein alexandrinischer Grieche vielleicht erschüttert worden wäre, hätte er zufällig einen sanften Nazarener in Gallien getroffen. Doch was, Nazarener . . . bei La Due war keine Botschaft, kein Evangelium, eine einfache kindliche Freundlichkeit, weiter nichts. Keine moralischen Grundsätze, kein Puritanismus, kein ›wer nicht für mich ist, der ist wider mich‹. Er machte sich wahrscheinlich überhaupt keine Gedanken, er nahm alles hin, wie es war, das Furchtbare und das Erfreuliche. Er murrte nie, er schimpfte nie, er zeigte keinen Ärger, er war nie mißgelaunt. Wenn er hundemüde war und es fragte ihn jemand um einen Weg, so ging er womöglich solang mit dem Betreffenden, bis er ihn ans Ziel gebracht hatte, und ergötzte ihn außerdem noch durch sein munteres Geschwätz. Als Ethel Green, der große Filmstar, von einem eifersüchtigen Liebhaber erschossen wurde, konnte er sich nicht fassen vor Kummer, nicht um ein Haar anders als irgendein Warenhausgirl. Ja, er wallfahrtete sogar zu ihrem Sarg, genau wie hunderttausend andere. Er war eben genau wie alle andern und doch in der Masse drin der magische Mensch, magisch wie der Brennpunkt in der Linse. In dem ungeheuern Staat mit seinen ungeheuern Städten, Gebirgen, Strömen und Wüsten, seinem ungeheuern Reichtum, seinem ungeheuern Elend, seinem ungeheuern Betrieb, seinen ungeheuern Verbrechen, seiner ungeheuern Angst vor Anarchie und Revolution, da mittendrin der kleine harmlose La Due . . . wie soll ich sagen . . . als Menschheitsnovum. Erstaunlich. Man konnte nicht aufhören zu staunen. Durch ihn lernte ich verstehen, daß das Ganze noch ein ungegorener Teig ist, oh, wir sind ja so jung, sagte er immer wieder mit seinem naiven Enthusiasmus, wir sind ja so schrecklich, so wunderbar jung. Und das ist es, das ist die Sache. Zeitalter der Vorbereitung. Völkerbackofen. Alles noch in der Mischung und im Werden. Noch nicht erkaltet. Süden und Norden, Osten und Westen zur Mitte drängend. Weiße Welt und schwarze Welt hart gegeneinander, der Neger zum Gläubiger verjährter Schuld geworden, unaufhaltsam zieht er heran, erobert Stadtteile, überschwemmt Provinzen, Asien dahinter als finstere Drohung und dann der eigentliche, schicksalhafte Widersacher, Rußland, zum Weltduell sich anschickend, Rußland auf der andern Seite des Planeten . . . was hatte ich da zu suchen mit der eingebildeten geistigen Mission? Was sollt ich Geistbehafteter da ausrichten? Da war Stoff, Stoff, Stoff, von Geist konnte erst in hundert Jahren die Rede sein. Gegen den glühenden Krater war Europa ein Antiquitätenkabinett. Ich war weit genug nach Westen gegangen, in jedem Sinn, um mit gutem Gewissen umkehren zu können. Ich erlebte, daß es mich ohne äußeres und inneres Zutun in die Ursprünge zurücktrieb. Unabwendbar vollzog sich die Wiedergeburt Georg Warschauers. Ich war mit dem Leben der Millionen jüdischer Einwanderer immer vertrauter geworden, Hamilton La Due war in der Gettowelt seit vielen Jahren zu Hause, er hatte seine besten Freunde namentlich unter den russischen Juden. Das sind herrliche Leute, rief er bei jeder Gelegenheit, wo er sie rühmen konnte, wonderful people, und wußte Geschichten über Geschichten von Stolz, Hingabe und Dankbarkeit zu erzählen. Aber es findet da ein historisch-psychologischer Prozeß statt, eine Verschmelzung von Elementen, die durch ihre Blutverschiedenheit etwas wie eine neue Seelengattung hervorbringen. Ich nahm teil an dem düsteren Leben. Durch europäische Katastrophen zertrümmert, hingeschwemmt, hat es unter einer Hülle von östlicher Schwere ein atemraubendes Tempo. Ich hatte Umgang mit chassidischen Gelehrten, ich vergrub mich in das Studium unserer alten Schriften, ich sah, was ich versäumt hatte. Es war nicht mehr einzuholen. Von einem gewissen Tage ab fühlte ich mich auf einmal alt. Ich hatte nichts in die Scheuer gebracht, der Zeit, die ich heraufkommen sah, hatte ich nichts zu geben. Da hieß es denn: sich in Sicherheit bringen. Da hieß es, nach einem Plätzchen auslugen, wo man ungefähr in der Mitte war zwischen den zwei rasenden Brandherden links und rechts. Ein Tuskulum konnte es nicht sein, höchstens ein versteckter Beobachterposten mit einem mitgenommenen Glutrest von der großen Oriflamme der Vergangenheiten. Welcher Sturm wird ihn ausblasen, den traurigen Rest, der Sturm von links oder der von rechts, der von Ost oder der von West? Was glauben Sie, Mohl? Denn in dem Jahrzehnt meiner Selbstflucht und Weltsuche hat ja der verschlafene Muschik da hinten die Glieder geregt, hei, Pöbelauflauf in dem ganzen Raum zwischen Weichsel und Baikalsee, man kann sich auf was gefaßt machen, die braven Leute hier, die noch bis über die Ohren in ihren Velleitäten stecken, haben keinen Dunst von dem, was ihnen bevorsteht. Sie träumen von einer Erbschaft der Knute, die sie antreten können, unterdessen lassen sie sich musikalisch entzückt von ihren Grammophonen die Klagegesänge von anno dazumal vorplärren: ei uchnemj . . . kennen Sie das, Mohl? Lied der Schiffszieher an der Wolga . . . ein Alarm sondergleichen, und sie erbauen sich dran wie an einem frommen Choral . . . haben Sie's nie gehört?«

Er stand auf, breitete beide Arme waagrecht aus, marschierte mit dem Trommlerschritt auf und ab und sang mit erschreckend mächtiger Stimme: »Ei uchnemj . . . ei uchnemj . . . eschtsche razikj . . . eschtsche dararj . . . ei uchnemj . . .«

5

Etzel hatte sich gleichfalls erhoben und stand da wie ausgelöscht. Die eine Wange, auf die die Hand gestützt gewesen, war flammend rot, die andere blaß. Er hatte den Fingerknöchel in den Mund geschoben und biß ihn wund. In seinen heißen Augen malten sich Furcht und äußerste Ratlosigkeit. Herrgott, Herrgott, dachte er mit stockendem Herzen, das ist ja, als wäre man bis jetzt im Wickelkissen gelegen. Man muß sich die Ohren zuhalten, man kann nicht mehr zuhören, man muß die Augen abwenden, man kann nicht mehr hinsehen, der feiste Mensch mit dem gewaltigen Körper trampelt einen tot, alles ist überlebensgroß an ihm, Polyphem, der mit Felsblöcken um sich schmeißt. Wie soll man ihn fassen, wie zurückbringen zu dem Einen, um dessentwillen man gekommen, um dessentwillen man das alles auf sich genommen, alles dies, wovon man in seiner Erbärmlichkeit doch keine Ahnung gehabt hat . . . Es ist Etzel zumut, als renne er mit einem Schubkarren hinter einem Expreßzug her. Seine Hoffnungen sind auf Null zusammengeschrumpft. Wie soll seine arme Rede sich durchsetzen gegen diesen Wortkatarakt, was soll er mit seiner Unwissenheit und seinen sechzehn Jahren gegen dies weltumspannende Hirn? Was bedeutet dem der Gefangene im Zuchthaus, was sind ihm die sechstausendundsoundsoviel Tage und sechstausendundsoundsoviel Nächte unschuldig erlittener Kerkerhaft? Und noch ein Tag und noch eine Nacht, heut wieder eine Nacht, aber was schiert es ihn, er hat anderes erlebt, er weiß von andern Greueln, alles ist von ihm abgeronnen wie Wasser von einer Ölhaut, was schiert ihn des einen Unglück, des andern Schuld, er hat sich ein System der Gerechtigkeit gezimmert, bei dem der einzelne Mensch nicht mehr mitspielt, ad usum delphini vermutlich. Man war schon so nah, eine Frage vielleicht noch, und man hatte das Geheimnis ergründet, bitte, einen Augenblick, hätte man einwerfen müssen, wie war das mit dem Gott aus der Maschine? Statt dessen hatte er einen weitergeschleift mit seinem verfluchten Waremme-Warschauer-Problem, und man war der Belämmerte und biß sich den Knöchel blutig. Er nahm allen Mut zusammen, und als Warschauer mit seinem Gesang aufhörte, stellte er sich vor ihn hin und sagte: »Von Maurizius sind wir auf die Manier ganz weggekommen . . .« – »Ja, das sind wir, du widerwärtige Kröte«, entgegnete Warschauer zornig, »verschone mich mit deinen schleimigen Exkrementen.« – »Das glaub ich gern, daß Sie nichts mehr davon hören wollen«, fuhr Etzel erbittert fort, »aber die Kröte muß quaken, auch auf die Gefahr hin, daß sie vom Adler gefressen wird.« Warschauer verbeugte sich höhnisch. »Sehr schlagfertig«, mokierte er sich, »schlagfertige Kröte.« – Etzels Gesicht brannte, ein herausforderndes Lächeln trat auf seine Lippen. »Es läßt Ihnen ja selber keine Ruh«, sagte er. »Der Eid . . . denken Sie an den Eid, Professor . . . kann sein, Sie haben dran vergessen, ich glaub's nur nicht, es hat nicht vergessen, es, wissen Sie, es da drinnen . . .« Er streckte den Zeigefinger gegen Warschauers Brust. Dieser wich einen Schritt zurück, stumm. »Ja«, beharrte Etzel in einem Anfall tumultuarischer Verwegenheit, » das betrügt man nicht, das hat Sie auch so herumgezaust in der Welt, für das müssen Sie büßen und der im Zuchthaus und der Alte und ich, ja! ja! ein Korn Schuld, ein Scheffel Leid, ja, ja . . .« Er war auf einmal wie außer sich.

Warschauer preßte die Lippen zusammen, ging schweigend zur Tür und öffnete sie weit. »Sie können sich, junger Mohl«, sagte er kalt, »Sie können sich von mir als hinausgeworfen betrachten. Marsch!« Etzel zögerte erbleichend. Warschauer blickte in den finstern Flur. »El uchnemj«, begann er wieder zu singen, als wäre er bereits allein, unterbrach sich aber gleich und herrschte den Knaben an: »Na, wird's?« – »Hab keinen Hausschlüssel, kann nicht hinaus«, murmelte Etzel störrisch. Warschauer holte den Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn hin. Etzel nahm ihn und schritt langsam über die Schwelle. Warschauer warf die Tür hinter ihm zu. Während Etzel sich die Treppe hinuntertastete, hörte er durch die geschlossene Tür wieder das »El uchnemj« wie einen höhnischen Refrain. Tränen des Zorns und der Hilflosigkeit verschleierten seinen Blick.

Die Haustür stand offen. Im Torweg lehnte Paalzows Junge im geflüsterten Gespräch mit einem übel aussehenden Subjekt. Als er Etzel gewahrte, drehte er spiralig den Körper herüber und starrte ihm, die Hände in den Hosentaschen, giftig ins Gesicht. Etzel beachtete ihn nicht und ging weiter. »Dir möcht ich mal im Mondschein bejeegnen«, rief ihm Paalzows Junge drohend nach. – »So? Was brauchst du da den Mondschein dazu?« gab Etzel über die Schulter zurück. Dann kam es eben, daß ihm zum Nachhausegehen plötzlich die Kräfte fehlten und er sich vor den Schnapsladen hinlegte. Vielleicht trug auch eine Art Gespensterfurcht dazu bei, das erste Mal erinnerlichermaßen, daß ein solches Gefühl über ihn kam, aber an jeder Straßenecke glaubte er, der riesige Neger mit den vorgestreckten Armen und dem Blutfaden von der Stirn bis zum Kinn stürze ihm entgegen. Es wurde jedoch nicht besser, als er sich auf die Staffeln gelegt hatte, die Nerven waren zum Zerreißen gespannt, er sah Holzbrücken, über die sich unendliche Züge von Ochsen wälzten, und es war ihm, als hörte er sie tausendkehlig das El uchnemj schmerzlich brüllen. Er sah den Juden im eisernen Käfig schluchzen und den elfjährigen Totschläger, wie er seinem Vater das Küchenmesser in den Rücken stieß. Er sah Hamilton La Due, wie er einem Leprakranken die eitrige Wunde küßte, und den Chinesen inmitten seiner Freunde als Leiche im Keller liegen. Und immer wieder, zwischen den andern Bildern, immer wieder den Neger mit dem Blutfaden im Gesicht, in wahnsinniger Angst vor den Verfolgern fliehend. »Ach Gott, Mutter«, seufzte er wie ein kleiner Bub, als er sich schließlich erhob und gegen die Anklamer Straße torkelte. Nebst allem war er natürlich äußerst ermüdet. Als er die Taschenuhr auf den Tisch neben seinem Bett legte, war es zehn Minuten nach halb vier, vor den Fenstern bleichte der Tag. Er konnte es sich sparen, Licht zu machen. Gewohnt, bevor er sich niederlegte, Insektenpulver über die roten Barchentkissen und das von seinem Blut befleckte grobe Linnen zu streuen, tat er es auch jetzt. Er schlief gleich ein, schlief wie betrunken. Ein sägig gezacktes, glühendes Rad senkte sich in rasender Rotation gegen seine Brust herab, es war ein manchmal wiederkehrender Alpdruck aus der frühesten Kindheit, er wußte im Schlaf, daß er fieberte, Wanzen so groß wie die Küchenschaben in Warschauers Stube krochen ihm über Hals und Gesicht. Frau Schneevogt kam und stellte das Frühstücksbrett auf den Tisch, er gewahrte es im Schlaf, in tiefer Seele schlaflos schlief er weiter. Kurz darauf, so schien es ihm, kam die Frau mit dem Mittagessen, murrend trug sie das unberührte Frühstück wieder hinaus, er sah und hörte es schlaflos-schlafend, die Feuersäge surrte wieder, er dachte: Wenn sie mich zerschneidet, begeht Gott eine Ungerechtigkeit, ich muß vorher noch mit meiner Mutter reden . . . und das andere . . . wieder ein Tag vorbei . . . Endlich schlug er die Augen auf und war bei Besinnung, das Hemd klebte feuchtheiß am Leib, die Beine waren so schwer, daß er sie nicht von der Stelle rücken konnte, krank, denkt er, das fehlte noch, jetzt plag ich mich sechs Wochen mit dem bösen Teufel und bin so klug wie zuvor, nichts, nichts, was soll da werden, wenn ich krank bin, das gibt's einfach nicht, ich verlier zuviel Zeit, warum ist denn die Anna Jahn mit ihm nach Frankreich gereist, das ist doch nicht mit rechten Dingen zugegangen, da ist er drüber wegvoltigiert, es ist das Allergeheimnisvollste an der Geschichte, was tu ich nur, am besten, ich warte jetzt, bis er herkommt, nicht rühren, es wird ihm leid tun, er wird kommen, dann bin ich im Vorteil. Er hatte eine Vision, sein kochendes Hirn gebar ein sonderbares Wahrgesicht, denn alles traf später ein, er sah Warschauer hier in der Kammer mit seinem Tambourschritt auf und ab marschieren und dann . . . redete er dann von der »Sache«? So weit ging aber das Hellsehen und Hellhören nicht, da wagte der Wunsch nicht mehr, Wirklichkeit zu spielen, warum, friert ihn denn so . . . ein Glück, daß es schon Juni ist, da braucht man nicht zu heizen . . .

Aus dem Nebenraum drang die glasharte Stimme Melittas herein. Er lauschte. Sie dürfen nicht merken, daß ich krank bin, dachte er, sonst schaffen sie mich am Ende ins Spital, dort verlangt man Papiere, dann geht's mir dreckig. Was wird's schon sein? Halsentzündung, ich kann nicht ordentlich schlucken, morgen ist's vorüber. Um für den Fall, daß eine der Schneevogtschen Damen hereinkam, einen möglichst unverdächtigen Eindruck zu machen, nahm er einen Band Ghisels von dem Wandbrett, das er neben seinem Bett angebracht hatte, und schlug ihn auf. Da hörte er die glasharte Stimme von nebenan verzweifelt sagen: »Solch 'ne Ungerechtigkeit, das ist ja himmelschreiend. Da möchte man ja auf die ganze menschliche Genossenschaft spucken. Da ist's ja besser, man nimmt 'nen Strick und hängt sich am nächsten Fensterkreuz auf.« Die Wand war so dünn, und die Tür schloß so schlecht, daß er jedes Wort vernahm, auch die ängstlichen Beschwichtigungsversuche der Mutter Schneevogt. Die Flurglocke läutete dazwischen, beide Frauen verließen den Raum, und es war ganz still. Da hat sie das Richtige gesagt, dachte Etzel, indem er mit weiten Augen und einem Gefühl drückender, uneingelöster Schuld in die Höhe schaute. Wie ist es denn wirklich möglich, daß man's aushält? Und jeder lebt weiter, auch die, die behaupten, sie können nicht weiterleben, und ich auch. Was ist es denn mit der Gerechtigkeit? Gibt's denn eigentlich Gerechtigkeit? Bildet man sich's nicht bloß ein? So wie sich die Frommen das Paradies einbilden? Vielleicht ist unsere Vernunft nicht imstande, sie zu erkennen, vielleicht liegt sie außerhalb unseres Begriffsvermögens. Aber dann wäre ja alles, was man tut, so vorläufig, und alles, was man erreicht, so unsinnig, es muß es, muß es, muß doch einen Ausgleich geben, achtzehn Jahre und neun Monate jetzt, du großer Gott, es muß es, muß es, muß doch . . . was? was, Etzel? du stellst ein ehernes Muß auf in deiner sechzehnjährigen Rebellenseele, aber von welcher Macht auf Erden oder im Himmel wird es approbiert? Er schloß die Augen, da erschien Joshua Cooper mit dem Blutfaden von der Stirn bis zum Kinn wie ein Sinnbild der Hoffnungslosigkeit. Ein kühler Schauder überrann ihn, er griff nach dem Buch, das er noch geöffnet in der Hand hielt, und las auf der aufgeschlagenen Seite folgende Zeilen: Auch auf dem vollsten Glas schwimmt noch das Blütenblatt einer Rose, und auf dem Blütenblatt haben zehntausend Engel Platz.

Welch ein Wort! Wie ein Stern. Er kannte es, aber er hatte es früher nicht erfassen können, jetzt, nach allem, was er erlebt, leuchtet es sternenhaft auf. Zu dem Manne, der das niedergeschrieben hat, muß er gehen, auf der Stelle, noch in derselben Stunde. Da gibt es kein Zaudern und Bedenken mehr, wenn einer auf der Welt existiert, der Antwort auf die eine Frage weiß, dann ist es der Mann, der das geschrieben hat. Fieber, was Fieber, darum kann man sich nicht kümmern. Es ist vier Uhr nachmittags, eine Stunde muß er für den Weg zum Westend rechnen, die Tageszeit ist nicht ungünstig, um jemand zu Hause zu treffen. Vielleicht fügt es das Glück, daß Ghisels nicht verreist ist und ihn empfängt. Trotz der Mattigkeit in den Gliedern und der Schmerzen im Schlund kroch Etzel aus seinem Bett, wusch Gesicht und Brust, schlüpfte in die Kleider und verließ Stube und Haus.

6

Er fuhr mit dem Lift in den vierten Stock eines isoliert stehenden Gebäudes und läutete an einer von zwei Wohnungstüren. Nach ziemlich langem Warten erschien ein junger Mann mit schwarzer Hornbrille und einem klugen, netten Gesicht. Er hatte die Türen der Zimmer, aus denen er gekommen, hinter sich offen gelassen, und man hörte lebhaft sprechende Stimmen. In dem kleinen Vorraum hingen fünf oder sechs Hüte und Stöcke, auch ein Damenmantel. Au, dachte Etzel, und das Herz fiel ihm in die Hosen, da hast du Pech gehabt, Bruder Etzel. Der junge Mann erkundigte sich nach seinem Begehr. Mit schier unüberwindlicher Schüchternheit erwiderte Etzel, er möchte Herrn Ghisels sprechen (»Herr« Ghisels, die Zunge widerstrebte, so dumm und steif klang der »Herr«). Der junge Mann lächelte (das Lächeln bedeutete: das möchten viele) und fragte nach seinem Namen. Etzel sagte, er heiße Andergast, Etzel Andergast, er habe vor einem halben Jahr an Herrn Melchior Ghisels geschrieben, auch eine Antwort von ihm erhalten, möglicherweise erinnere sich Herr Ghisels noch daran. Zum erstenmal seit langer Zeit nannte er sich mit seinem richtigen Namen, er hatte natürlich nie beabsichtigt, an diesem geheiligten Ort mit einer Maske vor dem Gesicht aufzutreten. Aber es war doch ein eigentümliches Gefühl, plötzlich wieder er selbst zu sein, nicht als kehre er zu Vertrautem zurück, sondern eher als habe er einen nagelneuen Anzug am Leib und befinde sich nicht ganz wohl darin, etwas beengt eher. Der sympathische junge Mann wollte wissen, ob es ein bestimmtes Anliegen sei, das ihn herführe. Etzel schüttelte den Kopf. Das gerade nicht, entgegnete er, er sei schon zufrieden, wenn er Herrn Ghisels sehen, eine halbe Stunde in seiner Nähe, im selben Raum mit ihm sein könne, das würde genügen. (Du lügst, es würde nicht genügen, widersprach eine innere Stimme.) Wieder lächelte der junge Mann und betrachtete den wunderlichen Besucher nicht ohne Interesse. »Kommen Sie doch einstweilen hier herein«, sagte er, »ich will mal Herrn Ghisels fragen.« Etzel trat in das schmale Vorzimmer, während der junge Mann verschwand. Da seine Knie zitterten und ihm ein wenig schwindlig war, setzte er sich auf einen Stuhl, alles war lautlos an ihm, alles ehrfürchtige Erwartung, Angst, abgewiesen zu werden, Angst vor dem großen Augenblick. Wenn ein Schriftsteller (ich spreche von denen, die wie Ghisels neue Ideen in die Welt setzen und den Menschen neue Wege zeigen) ermessen könnte, was die Seele eines ergriffenen Jünglings bewegt, der sich, nicht ohne ernste, innere Kämpfe wegen dieses Schrittes bestanden zu haben, vor sein Angesicht wagt, er würde sein ganzes Ingenium zu Hilfe rufen, um für eine solche Begegnung gerüstet zu sein, und sein ganzes Herz außerdem. Aber nur wenige, die Allerseltensten nur, bleiben sich in dieser Weise treu, vielleicht geht es auch über das Vermögen der menschlichen Natur, immer zu sein, was man in der schaffenden Stunde ist. Daher rührte vielleicht auch ein Teil der Angst, die Etzel verspürte, die geistigste Angst, die es gibt: wie wird mein Bild sich mit seiner wirklichen Person vertragen? wie wird mir zumute sein, wenn ich das Haus wieder verlasse und ihn gesehen, seine Stimme gehört, seine Worte vernommen habe? Was wird er sagen oder tun, wie wird er sprechen und blicken, und was muß geschehen, damit er mir bleibt, was er mir ist? Mit jeder Sekunde wurde die Versuchung stärker, die Wiederkehr des jungen Mannes nicht abzuwarten und einfach auf und davon zu laufen, da konnte nichts passieren, da behielt man seinen Gott. Es dauerte so schrecklich lange. Er lauschte. Er vernahm eine eintönig hersagende Stimme. Sein Ohr war durch Fieber und Erregung so geschärft, daß er durch zwei Türen einzelne Worte verstand. Jemand las etwas vor. Es war klar, der junge Mann konnte den ungelegenen Besuch erst melden, wenn der Vorleser fertig war. Die elektrische Glocke an der Eingangstür schrillte. In den Zimmern schien man es nicht gehört zu haben. Die Glocke schrillte noch einmal. Etzel überlegte, ob er öffnen solle, er fand, daß er kein Recht dazu habe. Da kam durch eine andere Tür der Wohnung, als durch die der junge Mann verschwunden, eine Frau von achtunddreißig oder vierzig Jahren. Ihre Haltung und Miene verriet Etzel, daß es die Frau des Hauses war. Das Gesicht zeigte Spuren großer Schönheit, sah jedoch welk und müde aus. Etzel hatte niemals daran gedacht, daß hier auch eine »Frau« sein konnte, es überraschte ihn und vermehrte seine Unruhe. Die Frau stutzte, als sie den jungen Menschen gewahrte, und fragte: »Hat es nicht eben geläutet?« – »Ja, zweimal, gnädige Frau«, erwiderte Etzel und hatte das Gefühl, sich wegen seines albernen Dasitzens entschuldigen zu müssen. Die Frau öffnete. Draußen stand eine andere Frau, sehr jung noch, blühend jung, sehr hübsch, mit blitzenden Augen, mit einem frischen, übermütigen Mund. Was sich nun zutrug, war merkwürdig. Die beiden Frauen maßen einander stumm und feindselig. Die junge Frau draußen schien unangenehm berührt, die andere vor sich zu sehen. Es machte den Eindruck, als habe sie bestimmt damit gerechnet, sie nicht anzutreffen. Die Frau des Hauses reckte sich ein wenig empor, zuckte die Achseln, ließ ein kurzes, gurrendes, verächtliches Lachen hören und schlug die Tür wieder zu. Die Brutalität der Geste hatte bei ihrem scheuen, melancholischen Wesen etwas Erschreckendes. Dann stand sie da, mit gesenktem Kopf. Der blaue Seidenschal, den sie um die Schultern trug, war auf der einen Seite herabgeglitten, ohne daß sie es merkte. Es war, als habe sie für einige Minuten alles um sich vergessen. Ein unbeschreiblich tiefer Kummer malte sich in ihren Zügen. Sie glich einer steinernen Figur, in der die völlige Schmerzversunkenheit ausgedrückt ist. Plötzlich zuckte sie zusammen und ging mit schweren Schritten wieder in die Wohnung hinein. Nach Etzel schaute sie gar nicht mehr hin. Der saß geduckt auf seinem Stuhl mit einer Empfindung, als habe er sich an fremdem Eigentum vergriffen. Und einer noch peinvolleren: auch vor dieser Pforte machte das Schicksal nicht halt, auch über sie wälzte das Leben seine trüben Wogen, auch der hohe Mensch, der geschrieben hatte: Auf dem vollsten Glas schwimmt noch das Blütenblatt einer Rose, und auf dem Blütenblatt haben zehntausend Engel Platz, auch er war nicht verschont von den Verwirrungen des Tages, auch um ihn tobten Leidenschaften und wölkten Traurigkeiten, es lag nun alles ein wenig entblößt vor Etzels Augen, das priesterliche Heiligtum war eine Menschenbehausung geworden, und wie man mit geminderter Sicherheit über eine Brücke schreitet, von der man einen Pfeiler vermorscht weiß, auch wenn zugleich Lastfuhrwerke sie befahren, war ihm nunmehr der Sinn beengt, der Grund schwankend geworden. Indessen erschien der junge Mann wieder und forderte ihn freundlich auf, einzutreten.

7

Melchior Ghisels Haus war ein Zufluchtsort der geistig Bedrängten, der Ringenden, Aufstrebenden, Ratlosen, Gescheiterten und Verirrten. Man ging zu ihm wie zu einem großen Arzt, oft wurde seine Stube von Mittag bis Mitternacht von Besuchern nicht leer, Leuten jeden Alters, Männern und Frauen, Literaten, Künstlern, Schauspielern, Studenten, Emigranten, Politikern, so daß die nächsten Freunde und seine Frau sich bisweilen entschließen mußten, den Zudrang abzuwehren. Er war seit einigen Jahren ernstlich leidend und den Anstrengungen nicht mehr gewachsen. Alle hingen an seinen Lippen, breiteten die delikatesten Angelegenheiten ihres Lebens vor ihm aus, legten ihm ihre Gewissens-, ihre Berufskonflikte vor, wollten ihre Arbeiten von ihm beurteilt wissen, verstrickten ihn in weitgreifende Erörterungen über Probleme der Kunst, der Religion, der Philosophie, und es gab kaum einen, der sich nicht zum Schluß vor einem autoritativen Wort aus seinem Munde beugte. Es waren Personen darunter, die ihm in keiner Weise vertraut, ja nicht einmal lieb waren und deren seelische Nöte und wirtschaftliche Schwierigkeiten ihn durch Wochen, durch Monate intensiv beschäftigten. Dann verschwanden diese Personen spurlos, und er hörte gewöhnlich nie wieder etwas von ihnen. Er fühlte sich dadurch nicht enttäuscht, auch kam er sich nicht verraten oder hintergangen vor, wenn ein Mensch, dem er beigestanden, sich seinem Einfluß entzog oder ihm gar mit Undank lohnte. Auch dies bereicherte ihn. Nicht im Sinne der Erfahrung, sondern der Vermehrung einer außerordentlich tiefen Intuition des Lebens, die ihn mild machte, gleichsam gnädig, und vor allem in einem Maße verstehend, daß er manchmal durch Selbstwiderspruch unverständlich wurde. Er nahm an andern nichts leicht, nicht einmal die anspruchsvolle Hohlheit des Dilettanten, sogar sein Spott war noch gewissenhaft, wenn man so sagen kann. Was er selbst äußerte, hatte hingegen die Leichtigkeit, die nur der vollkommenen Beherrschung aller Mittel eigen ist, mit ihm zu sprechen war beglückend, eben weil es so leicht war. Was er mitteilte, schien er nur von sich los haben zu wollen, dadurch enthob er den Empfänger jeder Verpflichtung, wenn man einfach aufnahm, war man, so schien es, genau so tätig, beziehungsvoll schöpferisch, geistreich und wissend wie er selbst. Es war alles organisiert bei ihm, zusammengefaßt, vom Zentrum aus bedient, und zwischen geistigem und seelischem Bezirk klaffte nicht jene verzweifelte Leere, die es bewirkt, daß aus Legionen von erstaunlichen Begabungen nicht ein einziger, großer Mensch sich erhebt. So war er befähigt, allen Ereignissen, allem Persönlichen, jedem Werk und jedem Schicksal einen selbstgeschaffenen Sinn zu unterlegen, den er in seiner Existenz auflöste, um ihn über die Erkenntnis hinaus fruchttragend zu machen.

Daß Etzel, halber Knabe noch, unreif, weltunerfahren, schon mit dem Erwachen seines Weltbewußtseins sich von einem solchen Manne magnetisch angezogen fühlte, dessen Art und Prägung ihm zudem nur durch Bücher vermittelt worden, spricht nicht zuletzt für einen auch in ihm vorhandenen Magnetismus, mag man ihn Instinkt oder Herzenskraft nennen. Freilich, der nämliche tiefe Instinkt hatte ihn mit jedem Schritt, der ihn dem verehrten Menschen näherbrachte, zaghafter und banger werden lassen. Der Zwischenfall mit den beiden Frauen war dann nur zur äußeren Figur des nagenden Zweifels geworden: ob es überhaupt einen Menschen auf der Welt gab, den höchsten, den weitesten nicht ausgenommen, von dem er erfahren konnte, was, wenn es nicht zu erfahren und sicherzustellen war, ihm das Leben gänzlich unwert machte.

Er trat in ein geräumiges, mit schönen, alten Möbeln ausgestattetes Zimmer, und alsbald stand er vor Melchior Ghisels, einem etwa fünfzigjährigen Mann über Mittelgröße, wohlproportionierten Körpers, mit Bewegungen und Gesten von natürlicher Eleganz und Freiheit, mit glattrasiertem Gesicht, starker, energischer, gebogener Nase, tiefliegenden Augen, die einen ruhigen, durchdringenden, grübelnden, gütigen Blick hatten, einem schmalen, unvergleichlich ausdrucksvollen Mund, dessen Lippen im Schweigen fest, beinahe schmerzlich fest aufeinanderlagen, während sie beim Sprechen aussahen, als seien sie von der Natur, die die vorzüglich notwendigen Organe an ihren Geschöpfen oft hypertrophiert, dazu gebildet, Worte zu formen, und zwar bedeutende, seltene, nur diesem Mund eigentümliche Worte. Bizarr und fast unheimlich an dem edlen Kopf wirkten die großen, fleischigen, abstehenden Ohren. Aber wie der Mund zum Sprechen gemacht war, so schienen die Ohren, rote, weitschalige Muscheln, dazu dazusein, um zu hören, gut und genau und viel zu hören.

Aufgefordert, Platz zu nehmen, setzte sich Etzel bescheiden und geräuschlos etwas außerhalb der Reihe der übrigen Besucher. Die Gesichter, in die er unbefangen blickte, gefielen ihm fast alle. Kein stumpfes darunter, kein vulgäres. Es waren vier junge Männer, ein weißhaariger Herr und ein junges Mädchen, das ebenfalls, seltsamerweise, ganz weiße Haare hatte. Ghisels hatte sich damit begnügt, den Ankömmling beim Namen zu nennen, andere Zeremonie unterließ er. Bisweilen streifte er ihn mit prüfendem, leicht verwundertem Blick, wobei er die dicken Brauen, die wie schwarze Wülste die Stirn begrenzten, ein wenig aufhob. Begonnenes Gespräch lief weiter. Etzel hörte nur die Stimme Melchior Ghisels. Er vernahm nicht, was die andern sagten, er faßte auch den Sinn von Ghisels Worten nicht auf, hatte nur einen vagen Eindruck von Geschliffenheit, mühelosem Fluß und anmutiger Form, er hörte nur die Stimme, und zwar mit solcher Inbrunst und Durstigkeit, daß er jedesmal, wenn die Stimme schwieg, unmerklich zusammenzuckte, um dann, mit einem hindrängenden Lauern, zu warten, bis sie wieder, sonor und alle übrigen Stimmen wie mit dunklem Flügel bedeckend, von neuem anhub. Es war eine sonderbare Freude, sonderbare Erlösung: in den wochenlangen, zerrüttenden Unterhaltungen mit Warschauer-Waremme hatte er sich unbewußt an dessen Stimme gewöhnt, wie man sich an eine tägliche Folter gewöhnen kann, schließlich war nur noch sie für ihn hörbar gewesen, mit andern Menschen hatte er kaum noch geredet, er hatte vergessen, wie eine Seelenstimme klingt, welche Echtheit und ruhvolle Schwingung sie hat. Es war ein Unterschied wie zwischen einem Goldstück und einem Stück Blei, wenn man sie auf einen Stein fallen läßt, damit sie ihre Beschaffenheit kundgeben sollen. »Sind Sie nicht wohl?« wandte sich plötzlich Ghisels an ihn. »Sie sehen sehr blaß aus, vielleicht darf ich Ihnen eine Stärkung anbieten, irgend etwas, sagen Sie es nur . . .« Etzel schüttelte den Kopf, dankte, die Worte taumelten durcheinander, er lächelte, das Lächeln schien Ghisels zu gefallen, er legte ihm einen Augenblick lang die Hand auf die Schulter. Etzel verstand, was damit bedeutet wurde: er möge ein wenig Geduld haben, man werde ihn nicht ungehört wieder gehen lassen. In der Tat brach die Gesellschaft bald hernach auf, das weißhaarige Mädchen und der junge Mann mit der Hornbrille blieben einige Minuten länger, Ghisels führte noch eine kurze, scherzende Konversation mit ihnen. Als sie sich endlich verabschiedet hatten, kam die Frau des Hauses herein und redete Ghisels sanft zu, sich aufs Sofa zu legen, er sah auch wirklich äußerst ermüdet aus, die Frau wartete, bis er lag, hüllte seine Beine in eine Kamelhaardecke und fragte, ob sie nicht das Fenster öffnen solle. Sie hatte eine wunderliche Art zu reden, sie entfernte kaum die Lippen voneinander, auch die Zähne kaum, es war alles so angestrengt, so leidensgeübt gleichsam, selbst der Gang und der Blick. Wieder hatte Etzel das Gefühl von wolkigen Traurigkeiten und einem Boden, der nicht verläßlich trug. »Ich falle Ihnen doch nicht zur Last . . .« stammelte er. »Seien Sie ohne Sorge«, sagte Ghisels und zu seiner Frau: »Ja, Liebste, mach das Fenster auf, es ist ein so schöner Abend.« Die Frau öffnete das Fenster und ging still hinaus. »Sehn Sie mal«, sagte Ghisels und wies gegen den westlichen Himmel. Etzel sah hin. Als ob dies Haus das allerletzte (oder das allererste) der ganzen Stadt sei, dehnte sich unter den Fenstern bis zum Horizont der gleichmäßige grüne Teppich der Kiefernkronen. Darüber hing ein bordeauxweinfarbener Himmel, über den in seiner ganzen Breite in gleichmäßigen Abständen purpurne und goldrote Strichwolken wie glühende Balken liefen. Während Etzel in einem eisernen Gefühl der Konzentration vorbereitete Gedanken sammelte und sie stockend zum Ausdruck zu bringen begann, verwandte Ghisels keinen Blick von dem tragisch-grandiosen Farbenspiel.

Mit wenigen Worten berührt Etzel sein Verhältnis zu Melchior Ghisels Werk. Um nicht anmaßend zu erscheinen, läßt er nur durchblicken, daß seine Stellung zu prinzipiellen Lebensfragen von den Schriften Ghisels' entscheidend beeinflußt worden ist. Er hat sich jedoch nicht mit der Reflexion begnügt, er ist einen Schritt weiter gegangen. Diesen Sinn hat er eben darin entdeckt: daß man einen Schritt weiter gehen muß. (Melchior Ghisels wird sichtlich aufmerksamer.) Die Sache ist die: Sein Vater ist ein hoher Gerichtsfunktionär. Zwischen ihm und dem Vater hat sich, seit etwa einem Jahr ist es akut geworden, ein unterirdischer Antagonismus entwickelt. Immer weniger und weniger hat er sich mit den allgemeinen Standpunkten, der Lebensauffassung, dem erstarrten Weltbild des Vaters, der im übrigen ein groß angelegter Mensch ist, in Einklang setzen können. Ja, er ist ein bedeutender Charakter, unbestechlich, lauter, und ein Mann von Bildung. Natürlich ist ihm, Etzel, von früher Jugend an vieles von der öffentlichen Wirksamkeit des Vaters zu Ohren gekommen. Schlimme Dinge, sehr schlimme bisweilen. Diese Dinge sind nach und nach zur unerträglichen Beunruhigung geworden. Alles ist wie auf den Kopf gestellt gewesen, das ganze Dasein im Hause, alles. Es herrscht in der Anschauung des Vaters von Recht und Gerechtigkeit etwas, das er nicht anders bezeichnen könne als mit dem Wort Verdorrung. Tote Tradition. Entseeltes Gesetz. (Er sprach plötzlich fließend und ergriffen.) Es hat Erörterungen gegeben, die Erörterungen haben zum Bruch geführt, er ist zu Verwandten geflüchtet, er hat sich von dem Druck einer Beziehung befreien müssen, in der keine Wahrhaftigkeit mehr war, solange er Vaters Brot ißt, steht er sozusagen in Vaters Dienst, vorläufig braucht er nichts weiter als Besinnung und Sammlung, auch Gelegenheit, sich umzutun. Man lese, höre, sehe so viel Verwirrendes, Quälendes, er hat in bezug auf Recht und Gerechtigkeit den Eindruck einer geistigen Seuche, einer allgemeinen Verfinsterung, wenn man jedoch über diese Materie nicht ins reine mit sich und der Welt kommt, ist es für einen jungen Menschen schlechterdings unmöglich, der Existenz eine Basis zu geben, und so hat er sich entschlossen, Herrn Ghisels um seinen Rat und seine Meinung zu bitten.

Der seltsame Junge! Auch hier, gewissermaßen vor seinem Meister, hielt er mit dem Tatsächlichen, dem Schicksalhaften zurück. So wie er gegen Camill Raff und gegen Robert Thielemann damit zurückgehalten hatte. Und wie er im Gespräch mit Thielemann das Verhältnis der Mutter als Paravent benutzt hatte, so schob er jetzt die Beziehung zum Vater vor. War es die zarte Scham vor der »Tat«, die in hochveranlagten Naturen oft abwehrend wirkt? Furcht, daß man ihm in die Hände fallen würde? Selbstbezweiflung, wegen der phantastischen Färbung, die sein Unterfangen in den Augen eines »Erfahrenen« haben konnte? (obwohl er längst so weit war, daß er sich aus sämtlicher Erfahrung der Erfahrenen nichts, aber auch nichts machte und die Überzeugung hatte, daß ein Melchior Ghisels sich nimmermehr zu ihrem Anwalt aufwerfen könne, er, der die Erfahrung das Monument auf einem Grab genannt hatte); war es eine Art Aberglauben, als hinge das Gelingen von seiner Verschwiegenheit ab? oder der geisterhafte Bann schließlich, in dem er durch die immer wiederkehrende Vision des Sträflings im Zuchthaus stand? Was es auch sein mochte, eines allein oder alles zusammen, es war stärker als Wille und Vorsatz und stärker als das grenzenlose Zutrauen, das er Melchior Ghisels entgegenbrachte. Dieser hatte ihm mit wachsendem Interesse gelauscht. »Sie sind sehr jung«, forschte er, halb fragend, da ihm Etzel noch jünger vorkam, als er war. »Bald siebzehn«, antwortete Etzel. Ghisels nickte. »Eine große Zahl Ihrer Altersgenossen lebt heute von der Anleihe bei der eigenen Zukunft«, sagte er und legte den Nacken in beide gefaltete Hände; »ich bin der letzte, es zu tadeln. Mit dem gegenwärtigen Tag sind wir alle schändlich dran. Aber das Vorwegnehmen hat unabsehbare Gefahren. Es erinnert mich immer ein wenig an die indischen Kinderheiraten. Diese Kinder sind mit zwanzig Jahren Ruinen.« Er machte eine Pause und fuhr tastend fort: »Sie scheinen mir durch ein sehr einschneidendes Erlebnis in Atem gehalten zu sein . . .« Etzel wurde feuerrot. Donnerwetter, dachte er erstaunt und erschrocken, der schaut aber wirklich in einen hinein. Jedoch Ghisels bewegte in einer Art die Hand, als bitte er den Knaben, seine Bemerkung nicht als Vorwitz oder Pression aufzufassen. »Lassen Sie nur, es soll nicht gelten, es soll nicht gesagt sein, ich sehe, ich habe da etwas zu respektieren. Was Sie zu mir führt, ist nichts Neues für mich. Leider. Es ist eine Krisis, die nicht mehr bloß harmlose Ringe im Teich wirft. Noch vor ein paar Jahren konnte man sich trösten und meinen, da ist dieses einzelne und dort ist jenes einzelne, man finde sich ab, mit dem einzelnen kann man sich abfinden, heute bedroht die Erschütterung das ganze Gebäude, das wir seit zweitausend Jahren aufgerichtet haben. Es regt sich eine tiefe, kranke Zerstörungslust in den empfindlichsten Teilen der Menschheit. Wenn dem nicht gesteuert werden kann, und ich fürchte, es ist bereits zu spät, muß es in den nächsten fünfzig Jahren zu einem ganz furchtbaren Zusammenbruch kommen, weit über die bisherigen Kriege und Revolutionen hinaus. Sonderbar, daß die Zerstörung so oft von denen ausgeht, die in dem Wahn leben, sie seien die Bewahrer der sogenannten heiligsten Güter. So ist es offenbar auch in Ihrem Fall, in dem Zerwürfnis mit Ihrem Vater. Ich habe häufig mit meinen Freunden darüber gesprochen. Die meisten geben der Politik die Schuld, dem, was heute Politik heißt, eine fressende Säure für alle menschlichen Bindungen. Ich habe es ja vielfach beobachtet. Ich habe auch ein andres Gleichnis dafür. Ein Ofen, in dem die Herzen unserer Jugend zu Schlacke verbrennen.« – Etzel, die Hände flach zwischen den Knien, beugte sich vor und entgegnete eifrig: »Ich verstehe, Sie sprechen von Politik als von der sozialen Disziplin überhaupt . . .« Ghisels lächelte. »Ja, oder der falschen, oder der fehlenden. Alles, was auf Gewaltordnung zielt . . .« – »Gewiß. Ich habe das immer gefühlt, ich konnte mich deshalb nie anpassen. Es wird immer nach der Gesinnung gefragt. Wer die gewünschte Gesinnung hat, darf dann auch niederträchtig handeln. Ich weiß nicht, ob ich per Wir reden darf. Ich möcht es nicht gern. Ich hab mal ein modernes Drama gesehn, wo ein Gymnasiast den ganzen Abend auf der Bühne Wir sagte, wir fordern das, wir denken so, wir gehn den oder den Weg . . . Es war recht lächerlich . . .« – »Ja«, warf Ghisels mit liebenswürdigem Sarkasmus ein, »es hat sich so herumgesprochen, als ob das hauptsächlichste Verdienst darin bestehe, zwanzig Jahre alt zu sein. Eine Hybris, an der wir Vierzig- und Fünfzigjährigen nicht unschuldig sind. Und doch, es ist ein einheitlicher Geist da, weil eine einheitliche Verzweiflung da ist. Sie wollten aber etwas anderes sagen . . .« – »Nein, nur das, was Sie eben gesagt haben«, erwiderte Etzel, über den ein förmlicher Rausch kam; seine Züge belebten sich dermaßen, daß er geradezu rosig anzusehen war, auch spürte er weder Fieber noch Schmerzen mehr; »nur das wollte ich sagen. Wir müssen ja verzweifeln, wenn mit der Gerechtigkeit Schindluder getrieben wird. Darauf beruht doch alles, nicht wahr? In alten Büchern liest man, daß Soldaten geweint haben, wenn die Fahne des Regiments beschimpft wurde. Was sollen wir erst tun, wenn die einzige Fahne, zu der wir noch aufblicken, Tag für Tag besudelt wird, noch dazu von den Fahnenträgern selbst. Gerechtigkeit, scheint mir, ist das schlagende Herz der Welt. Ist's so oder nicht?« – »Es ist so, lieber Freund«, bestätigte Ghisels. »Gerechtigkeit und Liebe waren uranfänglich Schwestern. In unserer Zivilisation sind es nicht einmal weitschichtige Verwandte mehr. Man kann viele Erklärungen geben, ohne irgend etwas zu erklären. Wir haben kein Volk mehr, Volk als Leib der Nation, infolgedessen ist das, was wir Demokratie nennen, auf eine amorphe Masse gestellt, kann sich nicht sinnvoll gliedern und erheben und erstickt alle Idealität. Man brauchte vielleicht einen Cäsar. Aber woher soll er kommen? Man muß vor dem Chaos Angst haben, das ihn erst gebären kann. Was die Besten tun, ist im besten Fall, daß sie Kommentare zu einem Erdbeben liefern. Das andere ist . . . so!« Er blies über seinen Handrücken, als bliese er eine Flaumfeder weg. »Ich möchte Ihnen nur eines sagen«, fuhr er fort, »denken Sie ein wenig darüber nach, vielleicht bringt es Sie wieder um einen Schritt weiter, wir können uns ja nicht anders als ganz, ganz langsam, Schritt für Schritt fortbewegen, zwischen jedem Schritt und dem nächsten liegt alle Schwäche, alle Versäumnis, alle Täuschung, auch noble Täuschung, deren wir uns schuldig machen. Es ist keine Heilslehre, keine gewaltige Wahrheit, die ich im Sinn habe, aber vielleicht, wie gesagt, ist es ein Wink, eine kleine Handreichung . . . Ich meine nämlich, Gut und Böse entscheiden sich nicht im Verkehr der Menschen untereinander, sondern ausschließlich im Umgang des Menschen mit sich selbst. Verstehen Sie?« – »Ja, ich verstehe«, sagte Etzel und schlug die Augen nieder, »doch . . . halten Sie mich nicht für borniert . . . ich muß das sagen, es ist ein Beispiel, . . . wenn mein Freund oder der Vater von meinem Freund . . . oder irgend jemand, der mir nahsteht oder meinetwegen auch nicht nahsteht, wenn der unschuldig im Gefängnis sitzt und ich . . . was soll ich da tun . . . wieso hilft mir da der Umgang mit mir selbst? Da gibt es doch nur eins, was ich fordern muß: Recht! Gerechtigkeit! Soll ich ihn schmachten lassen? Soll ich ihn vergessen? Soll ich sagen: Was geht's mich an? Was soll ich machen? Was ist denn die Gerechtigkeit, wenn ich sie nicht durchsetze, ich, ich selber, Etzel Andergast –?«

Er hatte sich unwillkürlich erhoben und sah Ghisels mit einem Blick ins Gesicht, als fordere er von ihm, und zwar auf der Stelle, Recht und Gerechtigkeit. Auch Ghisels erhob sich aus seiner ruhenden Lage zum Sitzen. Eine Weile hielt er dem Blick des Knaben stand, dann schaute er in den erloschenen Himmel hinaus; dann sagte er leise, indem er beide Arme ausbreitete: »Ich habe darauf nichts zu erwidern als: Verzeihen Sie mir, ich bin ein ohnmächtiger Mensch.« Er sah einen Augenblick so unendlich gequält aus wie der Gekreuzigte von Matthias Grünewald. Da senkte Etzel den Kopf wie unter einem Hieb. Er begriff sofort die Großartigkeit der Antwort wie auch den ungeheuren Verzicht darin. Und noch etwas begriff er in seinem schwergewordenen Herzen: die zehntausend Engel auf dem Rosenblatt, sie waren eine Metapher, ein Gedicht, ein geheimnisvoll-schönes Symbol, nichts weiter, ach, nichts weiter . . .

Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich, in dem beleuchteten Viereck erschien schwarz die Frau des Hauses und sagte mit ihrer brüchig-klanglosen Stimme: »Du mußt jetzt zu Tisch kommen, Ghisels.« Melchior Ghisels stand auf, mühsam, wie nur Leidende sich erheben, reichte Etzel die Hand und drückte sie mit fast kummervoller Innigkeit. Nicht viel fehlte, und Etzel hätte ihm die Hand geküßt. Auf der Straße unten fuhr eine Droschke vorbei, er gab ein Zeichen und fiel halb bewußtlos hinein, als sie an der Hausecke hielt.


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