Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

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Sechstes Kapitel

1

Abend für Abend sitzt er bis in die späte Nacht vor den staubigen, geradezu staubig schmeckenden Akten, exzerpiert, notiert, vergleicht und prüft. Es ist eine wahrhafte Schaufel- und Erdabhebungsarbeit, indem er sich mit unbezwinglichem Widerwillen dagegen wehrt, schraubt es ihn tiefer und tiefer hinein. Unbefohlen ist, was er tut; einen Zweck weigert er sich zu statuieren; gleichwohl bleibt er dabei und wird sich selber zum Rätsel. Er muß Vorwände finden, um sich das Unerklärliche einigermaßen plausibel zu machen, und überredet sich zur Bewunderung der meisterhaften Arbeit, die der Prozeß darstellt, wenn man sich durch den öden Buchstabenwust und Tatsachenschutt durchgewühlt hat. Eisern, folgerichtig fügen sich die Einzelheiten zum Gesamtbild, um schließlich von dem Verdikt gekrönt zu werden. Es gibt da Perlen juristischer Kunst, die zeitliche Entfernung läßt die imponierende Konstruktion erst übersehen, die Festigkeit des Fundaments, die feine Mechanik des inneren Getriebes. Der Fachmann ergötzt sich ästhetisch, auch die eigene Leistung erscheint ihm getragen von einem Schwung, den er, wenn er ehrlich über sich urteilt, heute nicht mehr aufzubringen vermöchte. Es ist ja oft so, daß wir auf unsere Jugendwerke, in die wir verschwenderisch alle Leidenschaft und Erfindung geschüttet haben, mit einer Art von tragischem Selbstneid zurückblicken.

2

Unleugbar jedoch: einen Schönheitsfehler hatte der Prozeß, das fehlende Geständnis. Zu keiner Zeit des Verfahrens, weder in der Voruntersuchung noch in der Hauptverhandlung, auch später in der Strafanstalt nicht, hatte sich Maurizius zur Tat bekannt. Im Gegenteil, jede Frage nach der Schuld hatte er mit demselben beharrlich schroffen Nein beantwortet. Wer aber dann der Schuldige sein sollte, darüber hatte er ebenso beharrlich schroff geschwiegen. Das konnte natürlich seine Verurteilung nicht hindern, zu fest lag die Beweiskette um ihn, da war kein Entrinnen möglich. Auch der genialste Verteidiger hätte den Ring nicht sprengen können, um wieviel weniger jener mittelmäßige Dr. Volland (inzwischen längst verstorben), den Maurizius zu seinem Rechtsbeistand gewählt hatte. Herr von Andergast entsann sich des Mannes noch ganz gut, ein trockener Silbenstecher, Kleinstädter mit Seehundsschnauzbart und schwarzgerändertem, schiefsitzendem Zwicker auf der knochigen Nase. Er glaubte keineswegs an die Unschuld seines Klienten, er stürzte sich auf die psychiatrischen Sachverständigen, flüchtete in die formalen Einwände. Einen schwächlicheren Helfer hätte der Angeklagte nicht haben können. Maurizius kümmerte sich auch kaum um ihn, behandelte seine Zwischenreden und Fragen mit verächtlicher Ungeduld und gebot ihm sogar einmal in offener Verhandlung zu schweigen. Leichterdings hätte er einen besseren Advokaten haben können. Warum hatte er es unterlassen? Bei den Akten lag ein Brief des alten Maurizius an den Gerichtshof des Inhalts, Anna Jahn habe darauf gedrungen, daß Leonhart den Dr. Volland nehme, er sei der einzige Anwalt, dem sie vertraue, er habe schon ihrem Vater zufriedenstellend gedient, sei anständig und zuverlässig. Die Zuschrift war damals nicht beachtet worden; man hatte gar nicht nachgeforscht, schließlich war es nicht die Sache des Gerichts, sich um die Qualität des Verteidigers zu kümmern; heute, in der Einsamkeit des Arbeitszimmers, haftete an dem geringen Umstand eine gewisse Zweideutigkeit. Es war zunächst wie ein winziges Loch in einem ungeheuren Gefäß, durch das die wohl- und langverwahrte Flüssigkeit ausrinnt, ohne daß man freilich zu fürchten braucht, das Loch werde sich vergrößern; zunächst; alles schien nietfest. Weder Zweifel noch Unruhe regten sich in Herrn von Andergast. Er drehte die Schreibtischlampe ab und stand eine Weile im Finstern, unschlüssig, ob er in sein Schlafzimmer oder in Etzels Stube gehen sollte. Er wagte nicht, sich zu letzterem zu entschließen. Es war ihm zumut, als kehre er von dem Schauplatz des Prozesses auf einem schmalen, finstern Weg wieder in die Gegenwart zurück. Er mußte sich erst besinnen, wo er war. Jene Geschehnisse lagen immerhin achtzehn Jahre dahinten. Er richtete den Blick forschend auf die achtzehn Jahre. Sie umschlossen den inhaltsvollsten Teil seiner Existenz, eine unabsehbare Kette von Tagen. Gleichlauf, Gleichlauf. Achtzehn Jahre Mannesleben; grau geworden; nichts in der Hand. Das Äußere, ja: Amt, Karriere, Stellung; aber was hat man in der Hand? Genau genommen war es eine endlose Zeit. Es gibt eine Art von Langeweile, die sich durch das Leben alternder bürgerlicher Männer schleicht, die verheerend ist wie die gierige Tropenameise; der Gegenstand, den sie heimsucht, bleibt auf der Oberfläche völlig unversehrt, im Innern besteht er nur noch aus mehligem Moder. Ein Ruck, ein Stoß, und der Balken, ja das ganze Gebäude bricht in einen formlosen Haufen zusammen.

Es ist aber etwas in der endlosen Zeit gewesen, das ihr die steppenartige Eintönigkeit hätte nehmen können, wenn er es beachtet hätte. Dieses Etwas ist verschwunden. Man hat es übersehen, und es ist fort. Während all der unzähligen Tage ist es neben einem aufgewachsen, und wenn man die Vergangenheit nach ihm absucht, weiß man nicht viel mehr von ihm, als was der Hausmeister, der Amtsdiener, der Postbote unter Umständen auch wüßte. Ist er das gewesen, der komische kleine Stöpsel, der (unermeßlich lang mag es her sein, damals war ja noch Sophia im Haus, die Gedanken meiden die Tatsache) mit sinnlosem Jauchzen in der Kinderstube hin und her rennt? Das Bild erhebt sich wie aus faulem Wasser, wobei sich irisierende Ringe bilden; welch ein wunderlicher Automatismus des Gehirns, warum produziert es gerade dieses Bild unter den Tausenden, die möglich wären? Der Bub ist nicht älter als drei Jahre. Er ist nackt, unmittelbar vor dem abendlichen Bad, und läuft jubelnd seinem blauen Gummiball nach. Wie rosig das Fleisch ist, wie tolpatschig die winzigen Füße auf den Boden stapfen, geradeaus gerichtet wie bei einem kleinen Bären, was für ein unfaßliches Funkeln in den Augen, als sei das kniehohe Menschlein betrunken von seinem Lebensentzücken: Spiel mit mir, Papa; ich such dich! Warum magst du nicht? Gehst du schon wieder fort? Bleib doch da, weißt du was? Du bist die große Eisenbahn, ich bin der Schaffner; sogleich pfeift und prustet er, schreit: einsteigen, verwandelt sich frenetisch und restlos in das, was er vorstellt: Lokomotive, Waggons, Reisende, alles in einem. Der Vater hat nur einen zerstreuten Blick auf die Miniaturzauberwelt und das strahlende Geschöpf zu seinen Füßen, er schließt die Tür hinter sich und begibt sich wieder in den Bereich der ernsthaften Verrichtung.

Es wurde nach und nach angreifend lästig, wie sich die Bilder und Gesichter, die sich aus der Beschäftigung mit dem Prozeß ergaben, mit denen aus Etzels Kindheit vermengten. Es war, als hätte er eines jener Opiate eingenommen, die den Willen aufheben und den Geist in zuchtlose Phantasien stürzen. Trotzdem war er sehr wohl imstande, logisch zu überlegen. Er hatte nur fortwährend das Gefühl, wie wenn diese Überlegung an einer unsichtbaren Wand zerschellte, hinter der sich etwas Unerfahrbares zutrug. Eines Nachts lag er im Bett und schaute, mit unter den Nacken geschobenen Händen, starr in die Luft. Bei Männern von der Art des Herrn von Andergast hat das Imbettliegen etwas eigentümlich Widersinniges. Es gibt Figuren, zum Beispiel steinerne und bronzene Denkmalsfiguren, die man sich beim besten Willen nur aufrecht denken kann; ihre horizontale Lage erinnert sofort an Unordnung und Zerstörung. Ein unangenehmes Körpergefühl überkam ihn, er spürte die Zehen und den Rücken, er war so schmerzhaft umgrenzt auf einmal. Sein Gedanke war: es stimmt was nicht in dem Prozeß, aber was? An irgendeiner Stelle ist das Gefüge defekt, aber wo? Er überging den Verlauf. Er fing mit dem Anfang an. Die Ehe zwischen Leonhart und Elli Maurizius wurde ihm auf einmal bis zur äußersten Sichtbarkeit gegenwärtig. Das war neu und in gewissem Sinn störend. Man hatte stets die Ansicht vertreten, daß eine zu große Lebendigkeit der Auffassung das sachliche Urteil trübe. Jede Art von Phantasiebeteiligung war verpönt, und schon die Neigung dazu bei andern erweckte Mißtrauen. Niemals in seiner ganzen Praxis war es ihm vorgekommen, daß er die Dinge und Personen sah. War vielleicht jener quasi-opiumisierte Zustand daran schuld, durch den er auch gezwungen war, das vergangene Leben seines Kindes zu sehen, statt, wie er getan, es bloß zu wissen? Steckte, hier wie dort, hinter der gewußten Wirklichkeit eine andere, geheimnisvollere und zugleich wahrere? Jedenfalls war es nicht uninteressant, die Entwicklung der Vorgänge in dieser ungewohnten Weise zu verfolgen. Indem er regungslos zum Plafond des Schlafzimmers hinaufschaute, rollten sie vor seinen Augen ab wie ein Film.

3

Elli Hensolt hatte nicht leichten Herzens eingewilligt, die Frau des jungen Maurizius zu werden. Dreimal hat sie seine Werbung ausgeschlagen, ehe sie sich endlich entschloß. Sie sagte: Ich bin eine reife Frau, morgen werd ich alt sein, Sie sind ein Jüngling und werden noch zwanzig Jahre jung sein, wohin soll das führen? Was reizt ihn an ihr? Ist es eben diese Reife? Die Beruhigung, die von ihr ausgeht? Die Festigkeit des Charakters, die man ihr nachrühmt und die in allen ihren Handlungen zutage tritt? Hat er genug von flüchtigen Abenteuern, sehnt er sich mehr nach Führung als nach Verführung, mehr nach Ordnung als nach wechselnden Leidenschaften? Ist es, mit seinen vierundzwanzig Jahren, schon die Flucht ins bürgerliche Heim? Neben dem allem spielt der Umstand, daß Elli Hensolt eine vermögende Witwe ist, sicherlich eine Rolle, obschon er ihren Reichtum, wie sich später herausstellt, bedeutend überschätzt; er glaubt sie im Besitz von mindestens zweimal hunderttausend Mark, aber der verstorbene Hensolt hat ihr nur die Hälfte seines Vermögens testiert, die andere Hälfte ist einer wohltätigen Stiftung zugeflossen, der gesamte Nachlaß hat nicht mehr als hundertsechzigtausend Mark betragen. Das erfährt Leonhart erst wenige Tage vor der Hochzeit. Ob er darüber Enttäuschung empfunden oder sogar gezeigt hat, weiß niemand; er kann keinesfalls mehr zurück. Im übrigen ist Elli die Frau nicht, die man nimmt oder stehenläßt, je nachdem. Sie hat ihre Würde, sie ist noch stattlich; sieht man sie auf der Straße, im Salon, so gibt man ihr höchstens dreißig Jahre; sie weiß sich anzuziehen, hat ausgezeichnete Manieren, und wenn ihr auch Schönheit mangelt, fesselnd wirkt sie trotzdem; man kann sich gut denken, daß sie einen Mann wie diesen Leonhart Maurizius nicht gleichgültig läßt.

Ihr ist es von vornherein klar, was er in ihr sucht und braucht. Er hat sich zu Rande gewirtschaftet. Er ist müde von zu raschem und zu gierigem Genießen. Er hat jede Hand ergriffen, die ihm hingehalten wurde; eine jede hat sich dann seiner ganzen Person bemächtigt und den Widerstandslosen in eine Abseitigkeit verschleppt. Er entbehrt des Haltes. Er sieht sich selber in Gefahr und blickt nach Stützen umher. Menschen wie er fallen unweigerlich, wenn sie nicht im entscheidenden Augenblick von einem Stärkeren gepackt werden. Er ist durch zu viel Gesellschaft irritiert, durch zu viel Beifall blasiert, durch zu viel Erwartung, die er nicht mehr erfüllen zu können fürchtet, gehemmt. Es handelt sich, mit dürren Worten, um seine Rettung. Elli erkennt es, sie geht mit sich zu Rate, sie erwägt, was sie gewinnen, was sie verlieren kann, sie beschließt die Rettung. Sie traut sie sich zu. Die Aufgabe, kaum gestellt, beansprucht ihr ganzes Leben, sie weiß es. Eines verlangt sie als Bedingung: Vertrauen. Ohne vollkommenes, unbedenkliches, ungemessenes Vertrauen kann sie das Wagnis nicht auf sich nehmen. Sie will alles wissen, in jeder Lage, unter allen Umständen, es darf keine Geheimnisse und Verheimlichung geben, über die Vergangenheit nicht, über die Gegenwart nicht. Sie will Vertrauen haben, dann kann sie Vertrauen geben, vollkommenes, unbedenkliches, schrankenloses. Er findet das Verlangen nicht nur gerecht, sondern auch natürlich, er selbst kann sich ein anderes Verhältnis nicht denken, es ist genau das, was ihm vorschwebt. Feurig leistet er das Gelöbnis, das sein moralischer Einsatz in die Ehe ist. Er ist überzeugt, daß er es niemals brechen wird, sie glaubt ihm, weil sie alsbald an seinem Herzen noch weniger zweifelt als an seiner Ehre. Ihre Liebe beruht gleichsam auf einem Schöpfungsakt. Sie hat das Gefühl, sich ihn erschaffen zu haben.

4

Als sie durch den anonymen Brief von der Beziehung Leonharts zu der Tänzerin Gertrud Körner und der Existenz des Kindes Hildegard erfährt, nach anderthalb Jahren ihrer Ehe, mitten im harmonischen Zusammenleben, glaubt sie an eine Verleumdung. Sie vernichtet das Schriftstück und versucht, nicht weiter daran zu denken. Bald aber merkt sie an Leonharts Unruhe, es ist nicht alles, wie es sein sollte. Er hatte ihr nach und nach alles gebeichtet, seine Mitteilsamkeit in diesem Punkt hatte sie sogar bisweilen amüsiert, es lag so was knabenhaft Prahlerisches darin. Sie weiß von der Apothekerstochter, die sich ihm leichtsinnig an den Hals geworfen und deren er nach einem Sommer überdrüssig geworden, von der Frau des Krefelder Seidenfabrikanten, die ihm auf öffentlicher Promenade Eifersuchtsszenen gemacht, von der kleinen Wiener Pianistin, die ihn fast dazu gebracht, mit ihr nach Amerika zu gehen; von gelegentlichen Liaisons minder verbindlicher Art, die sich ausgelebt hatten in einer Nacht, Mitgenommenes von allen Wegen, immer kam noch was Neues, noch ein gestohlenes Herz, noch eine getäuschte Anwärterin, noch ein geglückter Einbruch in einen ehelichen Frieden. Von einer Gertrud Körner keine Silbe. Es lag ihm doch nichts am Verschweigen, er hat es oft genug gesagt: Gott sei Dank, das ist vorüber, der Wirrwar zu Ende; seit du alles weißt, bin ich's erst richtig los. Wie froh sie das gemacht hat, um wieviel ernsthafter, männlicher er dadurch erscheint, um wieviel legitimer ihr Gefühl, geborgener ihr Leben an seiner Seite wird! Sie kann sich's nicht erklären: da ist ein Name, der Name kann nicht aus der Luft gegriffen sein, wer soll, noch so boshaft oder neidisch, derlei erfinden; es läßt sie nicht, sie muß es zur Sprache bringen: eines Tages, bei Tisch, berichtet sie ihm mit niedergeschlagenen Augen von dem Brief. Eine Weile antwortet er nicht, dann gibt er die Tatsache zu, er gibt erstens zu, daß er den Brief selber geschrieben hat. Auf der Schreibmaschine. Er behandelt es als einen Scherz, ihre weit erstaunten Augen machen ihm begreiflich, daß sie solche Scherze nicht versteht. Ja, also er wollte, daß sie vorbereitet sei, wenn er ihr die Sache erzählt. Warum das? Immer noch der dumme Bub im bestallten Privatdozenten, Pennäler auf Diebswegen; ich denke, das haben wir überwunden? Rückfall, leider Gottes. Einen anonymen Brief schreiben, der Mann an die eigene Frau! Vergessen wir es, es soll nicht gewesen sein; weiter, weiter. Er gibt ferner zu, daß er mit der Tänzerin ein Verhältnis gehabt hat, er hat mit ihr die Ferien in Mürren verbracht, er hat sie gern gehabt, vielleicht hat sie ihm ein wenig mehr bedeutet als seine übrigen Geliebten, möglich, er kann es nicht mehr genau sagen, sie sind als Freunde voneinander gegangen, im Winter hat sie dann das Kind geboren. Er gibt es zu, auch das. Nicht so freimütig wie bei allen früheren Geständnissen, bedrückt, winkelzügig. Sie will wissen, weshalb er gerade diese Beziehung verheimlicht oder doch die Mitteilung hinausgeschoben. Er erwidert scheu: wegen des Kindes eben. Sie faßt es zuerst nicht, dann verfärbt sie sich und wird still. Sie ist eine kinderlose Frau, sie ist durch ihren Körper verurteilt, es zu sein. Es ist unabänderlich. In einem Nu überlegt sie die Gefahren der Situation. Ihre Lage als Weib und Gattin erfordert in jeder Sekunde ihres Lebens die schärfste Wachsamkeit, die hellste Geistesgegenwart. In der Ehe zwischen einem fünfundzwanzigjährigen Mann und einer vierzigjährigen Frau ruht nicht nur die Erfüllung geheimsten Anspruches auf den Schultern der Frau, sondern ihr obliegt auch die schwierigste Selbstverleugnung, die es gibt, als ob das ihrer Natur Widerstrebende das Angenehme und Wünschenswerte wäre. So faßt sie in jenem schlimmen Moment den Gedanken an Adoption des verwaisten Wesens und hätte ihn auch ausgesprochen, wenn Leonhart sie nicht durch ein verhängnisvolles Wort, das wahrscheinlich nur seiner Verlegenheit entspringt, stutzig gemacht hätte. (Sowohl im Verhörsprotokoll Nr. 14 der Voruntersuchung wie auch in einem bei den Akten liegenden Brief Ellis an ihre Freundin, Frau Professor von Geldern, war dieses Gespräch erwähnt, der Adoptionsplan allerdings nur in dem zweiten Dokument, wie sich denken läßt.) Er sagt nämlich: Anna weiß es, ich wußte mir keinen andern Rat, als sie ins Vertrauen zu ziehen. Elli schaut ihn groß an. Auf einmal ist in ihr keine andere Regung mehr als Abwehr und Feindseligkeit gegen das Kind. Sie erhebt sich schweigend und geht hinaus. Wie ist es zugegangen, daß Anna Mitwisserin wurde, bevor sie selbst es wurde? Was ist da geschehen? Was ist gesprochen worden? Sie muß es ergründen. Sie spürt, Leonhart empfindet eine Zärtlichkeit für das Kind, die er sich vielleicht noch nicht eingesteht, die ihr aber deshalb um so bedrohlicher dünkt. Weiß Anna das auch? Hat sie es gebilligt, hat sie ihn in dem Gefühl ermuntert? Hat sie den Schutzgeist gespielt? Ganz ohne Zweifel, die Bestätigung läßt nicht auf sich warten: Anna hat das Kind nach England gebracht, Anna hat die Fürsorge übernommen, Anna hat die Korrespondenz in Händen, Anna verwaltet dieses plötzlich aufgetauchte Seelengut. Wie kommt sie dazu? Gebetenermaßen? Als Nothelferin? Sie, Elli, war in dieser Not keine Zuflucht? Hat man ihren Einspruch gefürchtet oder nur vorgeschützt, sie zu schonen? Annas Gesicht nimmt andere Züge an in Ellis Augen. Sie hat die Schwester geliebt. Sie hat ihre Schönheit bewundert. Sie begreift, daß es schon Glück ist, sie anzusehen; Gott schafft nur in seltener Schöpferlaune so ein Wesen. Sie hält Anna für rein, für ein stolzes Mädchen, sie erwartet viel von ihren natürlichen Gaben, ihre Weltklugheit weiß sich in alle Verhältnisse zu schicken, ohne daß ihre Haltung als Dame Einbuße erleidet. Darum glaubt Elli nicht, daß sie sich etwas vergeben hat; in solcher Provinzstadt, wo alles, vom Gewürzkrämer bis zur Oberstengattin, Schlüssellochtratsch treibt, ist man schon kompromittiert, wenn man einem Mann öffentlich zulächelt, obwohl es kein Laster und keine Ehrlosigkeit gibt, die sich nicht hinter dem züchtig bemalten Vorhang austobt. Anna wird sich also in acht nehmen, auch wenn ihr der junge Schwager besser gefällt, als er ihr gefallen darf, denkt Elli; und daß er ihr gefällt, kann sie verstehen, er muß ihr gefallen, wo wäre die Frau, denkt sie, die ihm gegenüber kalt bliebe? Aber die Geschichte mit dem Kind Hildegard hat ein Band zwischen ihnen geknüpft, das fester ist, als gelegentliche Koketterie (obwohl Anna nichts weniger als kokett ist, aber jedes Weib hat seine Künste, und die Nichtkoketten sind im Ernstfall die gefährlicheren), gelegentliche Nähe bloß um sie schlingen könnte, unangreifbarer, da sie sich auf Menschenpflicht, auf Freundschaftsdienst dabei berufen dürfen; was immer unter der harmlosen Hülle sich abspielt, es schützt sie gegen Ellis Argwohn.

Aber Elli wagt gar nicht, zu argwöhnen. Sie wagt es vor sich selber nicht. So weit darf es überhaupt nicht kommen, daß sie die heiligste Versicherung, die er je gegeben, beim ersten besten Anlaß für brüchig, ja gebrochen hält. Es steht ja nun so mit ihr, daß sie liebt. Sie hat bis zu ihrem neununddreißigsten Jahr nicht erfahren, was Liebe ist. Das Glück der Ausschließlichkeit, das ihr das vorher freudlos zerlebte Leben zu einem täglich neuen Wunder macht, hat sie nicht gekannt. Muß sie nicht schon zittern vor dem, was ihre Augen noch gar nicht sehen, was sie nicht einmal als Angsttraum in ihre Sinne hineinläßt? Dennoch, die Angst ist ihre Lehrerin, und sie durchtränkt jede Tugend, die sie in ihrer Ehe zeigt. Es ist ja die Ehe mit einem Mann, der am Anfang steht wie sie am Ende; einem Schoßkind des Glücks, dem alles geschenkt worden ist, was andere sich erringen, erlisten müssen, der Wohlwollen, Nachsicht, Förderung fand, wo vor andern, vielleicht nicht minder Würdigen unter seinen Alters- und Berufsgenossen, sich schnöde die Türen schlössen, der nur zu nehmen brauchte, wo andere vergeblich bettelten, nur zu sprechen, um Zustimmung, nur zu arbeiten, um Anerkennung, nur zu locken, um Gefolgschaft zu finden. Da wird jede Stunde zur Erprobung, jedes Zusammensein hat seinen besonderen Anspruch. Er natürlich darf davon nichts ahnen, alles muß leicht aussehen, Ermüdung darf nicht von ihm bemerkt werden; hat sie Kopfschmerz, versagen die Nerven, so verbirgt sie es heroisch, sie hat ja Zeit, sich zu pflegen und auszuruhen, wenn er nicht da ist, in seiner Gesellschaft ist sie frisch, elastisch, gespannt, heiter, bespricht seine Pläne mit ihm, verscheucht seine Mißstimmungen. Er hat Anfälle von Verzagtheit; obwohl ihn das Schicksal bisher in jeder Weise begünstigt hat, glaubt er sich wie alle innerlich unsicheren Charaktere von der Welt nicht verstanden, da wendet sie die raffinierteste Überredung auf, eine erfinderische, geistige Zärtlichkeit, um ihn zu den Dingen und zu sich selbst wieder in ein beruhigtes Verhältnis zu setzen. Ihre Gespräche bei solchen Gelegenheiten dauern oft bis in die späte Nacht, und wenn es ihr endlich gelungen ist, ihn zum Lachen zu bringen, dann weiß sie, sie hat gesiegt. Alles ist ihr erlaubt, nur nicht langweilig zu sein; und wirklich unterhält sich Leonhart so ausgezeichnet mit ihr, daß er in den ersten achtzehn Monaten der Ehe Abend für Abend zu Hause ist, allein mit ihr. Zur Verwunderung seiner früheren Freunde zeigt er sich weder in der Kneipe noch bei sonstigen geselligen Zusammenkünften, auch Elli äußert nicht das geringste Verlangen, ins Theater oder zu Bekannten zu gehen, drei- viermal im Lauf des Winters sehen sie einige Leute bei sich, drei- viermal folgen sie den Gegeneinladungen, das ist alles. Es hat eine Zeitlang den Anschein, als ob das so ungewiß schimmernde Bild des »genialen« Maurizius, wie ihn seine Bewunderer, des »skrupellosen Romantikers«, wie ihn Zweifler und Spötter manchmal nennen, unter dem Einfluß Ellis sich zu reineren Umrissen formte.

5

Die Akten geben hinlänglich genauen Aufschluß darüber, daß das Unheil bald nach der Auseinandersetzung wegen des Kindes Hildegard begonnen hat. Um diese Zeit kommt Anna Jahn schon beinahe täglich ins Haus der Schwester. Es ist ja ein behagliches Haus, geschmackvoll eingerichtet, gut geführt, hübsche Villa in der Gartenvorstadt, man fühlt sich wohl. Anna wohnt in einer dichtbesetzten Pension, sie beklagt sich über das schlechte Essen und die öde Gesellschaft. Tafelrunde von uninteressanten Studenten, ältlichen Fräuleins, die alle Familienverhältnisse der Stadt durchhecheln, vergreisten Junggesellen, die sie mit flauen Schmeicheleien bombardieren; es macht sie krank vor Nervosität. Zudem ist sie sich nicht schlüssig über die Wahl ihres zukünftigen Berufs, ihre Vermögensumstände sind desolat, in den letzten Monaten hat sie bereits von ihrem ererbten kleinen Kapital gelebt. Sie schwankt zwischen kunstgewerblicher Ausbildung und der Vorbereitung für das Examen in französischer und englischer Sprache. Sie sucht Rat bei Schwester und Schwager, beide bemühen sich, ihr zu helfen; doch kann sie sich nicht entscheiden, sie ist voll Unlust, sie spürt, daß sie sich für den Broterwerb nicht eignet, es fehlt ihr die Begabung, sie kann sich nicht unterordnen, sie kann nicht dienen, sie kann nicht verzichten auf das, was man damals »das Leben« nannte, wenn man um das Leben herumpromenierte. Leonhart, der sich zuerst ziemlich ablehnend verhalten hat, begreift ihr Zaudern und bestärkt sie darin. Er sieht in ihrer Verachtung des Erwerbs einen aristokratischen Zug, mit dem er auf alle Fälle sympathisiert. Elli hingegen warnt vor der Existenz eines Luxusgeschöpfes, die sich ohne Erniedrigung viel wesentlicherer Art als jene der arbeitenden Frau, nämlich Selbsterniedrigung, nur aufrechterhalten läßt, wenn man über die nötigen Mittel verfügt. Im übrigen wolle ja Anna nicht ins Kloster gehn, und es sei zu erwarten, daß sie bald genug einen Mann finde, der ihr ein Leben nach ihrem Sinn zu bieten vermöge. Anna zuckt die Achseln. Ihr schönes Gesicht verfinstert sich eigentümlich. In dem Tagebuch, das Elli um jene Zeit geführt hat, ist dies als auffallende Wahrnehmung ausdrücklich vermerkt. Später äußert sich Anna gegen Leonhart geringschätzig, die Schwester fürchte wohl, sie werde Geld von ihr verlangen; aber die Furcht könne er seiner Frau getrost ausreden, eher ließe sie sich die Hand abhacken, als daß sie was von Elli annähme; so verabscheuenswert ihr ein geiziger Mann sei, ein geiziges Weib erscheine ihr wie eine Mißgeburt. Das giftige Wort wirkt. Er kann sich einer ärgerlichen Bemerkung gegen Elli nicht enthalten. Eine seiner besten Eigenschaften ist Generosität, unleidlich ist ihm ängstliches Taschenzuhalten. Elli weist die Zumutung, sie wolle möglichen Geldforderungen der Schwester vorbeugen, ruhig zurück. Warst du's denn nicht, erwidert sie, der Annas damenhafte Neigungen immer am schärfsten mißbilligt, ja sich darüber mokiert hat, daß ihr Auftreten so wenig im Einklang mit ihrer sozialen Stellung ist, der ihre Ambitionen übertrieben gefunden hat? Es ist wahr. Leonhart schweigt. Er hat in der Tat keine Gelegenheit versäumt, sich über das »Fräulein Habenichts«, das sich aufspielte wie eine Prinzessin und dem keine Gesellschaft vornehm genug war, lustig zu machen. Wie sich die Dinge später entwickelten, ist allerdings zu vermuten, daß er sich damit nur rächen wollte für die hochmütige oder doch gleichgültige Haltung Annas gegen ihn. Sie war anfangs überzeugt, daß er Elli nur des Geldes wegen geheiratet und von vornherein auf das Vermögen des verstorbenen Papierfabrikanten spekuliert hat. Sollte sie ihn vielleicht deshalb besonders achten, den jungen Mann, der schamlos in das vergoldete Joch einer alten Frau gekrochen ist; Kurz nachdem er sich wegen des Kindes Hildegard an sie gewandt, hatten sie eine seltsame Auseinandersetzung. (Es scheint, daß der Entschluß, an ihr weibliches Mitgefühl zu appellieren und sie zu seiner Vertrauten zu machen, ganz plötzlich über ihn kam, ohne jedes Vorspiel, ohne daß er wissen konnte, ob sie ihn anhören, ob sie ihm nicht nach den ersten Worten die Tür weisen würde; möglicherweise wollte er sie überrumpeln, seit langem schon heimlich gereizt durch ihre Kälte, wobei ihm gar nicht bewußt wurde, was er riskierte. Er war eben ein Triebmensch und ließ sich treiben.) Nun, damals, bei dem zweiten oder dritten Beisammensein wegen des Schicksals der kleinen Hildegard, kam es auch wegen seiner Ehe zu einer Aussprache. Ihr häßlicher Verdacht, dessen Geständnis er ihr abpreßte, erbitterte ihn leidenschaftlich. In seiner Rechtfertigung war ein unüberhörbarer Ton von Glaubhaftigkeit. Womit verteidigt sich ein Mann unter dem Gewicht solchen Vorwurfs? Er wird auf die selbstlose Freundschaft hinweisen, die ihm von der Frau entgegengebracht worden ist, er wird sagen: einen Mann so zu verstehen, notabene einen, der sich selbst noch nicht gefunden hat, ist nur eine gereifte Frau fähig, deren Charakter gestählt ist, deren Geist keinem billigen Blendwerk mehr unterliegt; er wird den inneren Frieden preisen, den ihm diese Verbindung gegeben hat, das Gefühl der Verläßlichkeit, wie es den Kapitän eines havarierten Schiffes erfüllt, wenn er das Steuer in einer festen Hand weiß. Aber man muß tiefer gehen, das sind Gemeinplätze; sie enthalten nichts von Ellis kräftiger Persönlichkeit, ihrem empfindlichen Herzen, ihrem unbestechlichen Urteil über Menschen, ihrem Opfermut, dem Reichtum ihrer Seele. Leonhart gerät in schwärmerischen Eifer, Anna Jahn lauscht mit gesenktem Kopf. So viel Vorzüge bei einer andern sind fast eine Herabsetzung für die, die sie rühmen hört, erst recht, wenn es die eigene Schwester ist. Er erklärt, was er mit dem havarierten Schiff gemeint hat (bezeichnend für ihn, daß er so gern die Gelegenheit ergreift, von seinem gefährdeten Charakter zu sprechen, allerdings zumeist recht schönfärberisch, sich sozusagen als eine problematische Natur aufspielend); bevor er Elli getroffen, war er ein Spielball in der Hand beliebiger Menschen, er hätte sich eigentlich jeden Augenblick aufgeben können, betört von seinem Wahn, entmutigt bis zum Überdruß; purer Zufall, daß es nicht geschah, nur das freche Vertrauen in seinen Stern hielt ihn manchmal oben. Wenn er bis jetzt die große Liebe nicht kennengelernt und seine Ehe mit Elli in dieser Hinsicht einen wissentlichen Verzicht bedeutet, so hat er doch dafür anderes gewonnen, Edleres vielleicht, Haltbareres jedenfalls. Anna stutzt. Sie kann sich eines ironischen Lächelns nicht erwehren. Die Liebe nicht kennengelernt (die »große« Liebe, als ob's eine große und eine kleine gäbe!), was heißt das? Abgesehen davon, daß es eine Primanerfloskel ist, sieht es wie ein Köder aus, obschon kein sehr schlauer. So fängt man begehrliche Närrinnen, deren Begierde nur Naschhaftigkeit ist und denen man Resignation als Lockspeise hinwirft. Immerhin, die schmerzlich klingende Scheinwahrheit einer Beichte, deren Kern eine schmackhafte Lüge bildet, ist ein Rezept, das selten ohne Wirkung bleibt.

Aber Anna geht nicht so leicht ins Garn. Sie sieht den Schwager wohl mit etwas andern Augen an, doch sie traut ihm nicht sehr. Er ist so beredt, er argumentiert so geschickt, und er ruht nicht, sie von einem Vorurteil abzubringen, von dem sie nicht mehr bekehrt zu werden braucht: sie glaubt ihm, daß er Elli nicht aus habsüchtigen Motiven geheiratet hat, so dumm ist sie nicht, daß sie ein oberflächliches Urteil nicht aufgibt, wenn sie eines Besseren belehrt wird. Wozu also die beständigen Besprechungen, das Bestreben, ihrer habhaft zu werden, die vielen Fragen, das viele Zurredestellen? Sie hat schließlich seinen Wunsch erfüllt, ist mit einer Pflegerin in die Schweiz gereist, hat das Kind geholt und hat es zu ihrer Freundin Pauline Caspot gebracht. Diese Mrs. Caspot ist eine Arzttochter aus Düsseldorf, sie hat einen kleinen englischen Kaufmann geheiratet, der kurz nach der Hochzeit starb und sie fast mittellos zurückließ, worauf sie in Hertfort, ein paar Meilen nördlich von London, ein Heim für stellenlose Gouvernanten einrichtete und ein ganz anständiges Auskommen dabei fand. Anna korrespondierte regelmäßig mit ihr wegen des Kindes, gab genaue Anweisungen über die Erziehung (die alleinstehende Frau hatte sich des verlassenen Wesens mit Eifer angenommen) und schickte in Leonharts Auftrag jeden Monat das Geld für die Verpflegung, das er ihr für den Zweck übergab. Das alles erfordert natürlich bestimmte Abmachungen und Vereinbarungen, besonders da Ellis brüsk ablehnende Haltung es Anna gewissermaßen zur Pflicht macht, dem in praktischen Dingen so ungeschickten Mann beizustehen. Aber er wird nicht müde, davon zu reden, jede Woche muß sie einmal mit ihm in die Stadt, um ein Geschenk, ein Kleidchen, ein Spielzeug für das Kind zu kaufen, er bittet sie, ihm Photographien zu verschaffen, er will einen englischen Maler bestimmen, Hildegards Porträt zu malen, er beschwört Anna, dem Kind niemals ihre Teilnahme zu entziehen, er sagt: Du bist doch nun seine wahre Mutter, und ähnliches. Schwer, ihm etwas zu verweigern, seine Liebenswürdigkeit ist ungemein bestrickend, sie kommen einander näher, der Verkehr wird ungezwungener, es ergibt sich von selbst. Elli benimmt sich wie jemand, der mit zugeschnürter Kehle ein freundliches Gesicht machen will. Wo geht ihr hin? fragt sie, wo kommt ihr her? und lächelt. Anna fühlt sich ausspioniert. Trotz erwacht in ihr, eine spöttische Bemerkung, eine gelangweilte Miene genügt, und Leonhart wendet sich gereizt gegen seine Frau. Etwa: Sind wir in einem Kindergarten? Ist es verboten, miteinander zu plaudern? Elli lächelt. Abbittend. Sie findet nicht die rechten Worte mehr. Ihr ist, als ob zwischen ihr und Leonhart ein Schleier aufgespannt wäre, sie können nicht mehr harmlos zusammen sein, jedes Gespräch hat eine verborgene Härte, eine verdeckte Falle, die Einsamkeit, Zweisamkeit, in die sie sich zurückgezogen haben, wird unerträglich; widerspricht Elli einer Ansicht, die er äußert, so verstummt er sofort, hüllt sich stundenlang in Schweigen; wenn sie dann sein Gesicht anschaut, weiß sie, was er sinnt, und hat Angst, hat Angst. Eines Tages bittet er sie um Geldzuschuß. Er ist in Schwierigkeiten, Annas Reisen, die Unterbringung des Kindes haben beträchtliche Summen verschlungen, er kann sich nicht rühren, er braucht sechshundert Mark. Sie schreibt einen Scheck auf ihre Bank, er sieht ihn an, der Scheck lautet auf vierhundert. Ich habe dich um sechshundert ersucht, bemerkt er kalt. Sie erwidert, es seien nicht mehr Zinsen fällig. Er zuckt geringschätzig die Achseln. Zinsen? Willst du mich auf Zinsen legen? Behandelst du mich wie einen Studenten, der seinen Monatswechsel überschritten hat? Ich weiß, was ich tue, entgegnet sie mit abgewendetem Blick, und ihre Finger flechten sich ineinander, wenn wir anfangen, vom Kapital zu zehren, sind wir in zehn Jahren fertig. Er lacht ihr ins Gesicht: In zehn Jahren hoff ich's so weit gebracht zu haben, daß ich auf deine Großmut verzichten kann; oder willst du bis an mein Lebensende den Vormund spielen? Elli zuckt zusammen, eine ihm unbekannte stumme Wildheit zeigt sich in ihrem Gesicht, sie sagt, indem sie ihm die Hand auf die Schulter legt: Du hast die Vormundschaft selbst gewollt. Sie schützt dich vor dir. Wenn es sein muß, werde ich dich auch gegen deinen Willen vor dir schützen. Er schweigt und macht große Augen. So hat sie nie gesprochen. Es ist wie ein drohendes Programm. Er ahnt plötzlich, worauf er sich gefaßt machen muß.

Nun fängt er an, die Abende außer Haus zu verbringen. Sie klagt nicht, beklagt sich nicht. Sie trachtet, offenen Zwist zu vermeiden. Sie sieht, daß sie mit jedem Schritt auf unterhöhlten Boden tritt, und bei jedem zittert sie vor dem nächsten. Sie fragt ihn nicht, zu wem er geht, erkundigt sich nicht, wenn er spät heimkommt, wo er war; aber bei seinen gewundenen Erklärungen und unverkennbar erdichteten Berichten von Konferenzen, Sitzungen, beruflichen Pflichten, denen er angeblich höchst ungern obliegt, wird ihr weh und bang. Einmal ertappt sie ihn auf einer glatten Lüge. Dort, wo er gewesen sein will, sind die Leute tags vorher abgereist; er hat übersehen, daß sie es leicht erfahren konnte. Er verschweigt ihr, aber sie weiß es, daß er fast täglich ins Kasino geht und Poker spielt. Er ist wieder, wie vor der Ehe, in maßloses Trinken und Rauchen geraten, von geregelter Arbeit ist keine Rede mehr; erst unter Waremmes überwältigendem Einfluß redet er wieder (aber redet nur, es bleibt bei Anläufen) von disziplinierter Tätigkeit, was nicht hindert, daß er die Nächte in Gesellschaft des verhängnisvollen Menschen verzecht, verspielt, verdebattiert.

6

In ihren bereits erwähnten Aufzeichnungen hatte sie sich des öfteren mit der Person Waremmes beschäftigt, bald in einer hingeworfenen Notiz, bald in längeren Betrachtungen, auch in einem Brief an Frau von Geldern äußerte sie sich über ihn. Sie überblickte ihn natürlich so wenig wie die meisten Menschen, die mit ihm zu tun hatten. Alles, was über ihn ausgesagt wurde, war genau so richtig wie das Gegenteil davon. Niemand kannte sich aus. Eine Zeitlang sprach die ganze Stadt nur von ihm, besonders am Anfang, im Winter 1904 auf 1905; da war es wirklich, als ob der Hecht in den Karpfenteich gefahren wäre und das Wasser zu Schaum schlüge. Spieler, Salonlöwe, Weiberheld, nun, das kennt man, der Typus ist nicht aufregend; zugleich aber Philolog, Philosoph, Dichter, Politiker, und in welchem Format! Kein hergeschneiter Dilettant, kein Gedächtnisakrobat, sondern ein produktiver Geist, etwas wie ein Teufelskerl, ein Universalgenie. Er arbeitet an einer neuen und, wie es heißt, grandiosen Übersetzung des ganzen Plato, aus der er seinen Freunden bisweilen Bruchstücke zum besten gibt, und hält Privatvorlesungen über Hegel und den Hegelianismus, der ja eben im Begriff ist, wieder in Blüte zu treten. Er veröffentlicht einen Band Deutsche Oden von Hölderlinschem Klang und führt in einer Zeitschrift für Altertumskunde den profunden Nachweis, daß die Parsifalsage durchaus nicht rein französischen Ursprungs sei, sondern in altgermanischer Mythe wurzele. Wie man hört, war er persona grata beim Fürstbischof von Breslau und ist durch diesen an den rheinischen hohen Klerus warm empfohlen worden. Als überzeugter Katholik besucht er die Messe, lebt aber dabei geschieden von seiner Frau. Er hat weder Vermögen noch regelmäßiges Einkommen, weigert sich aber, ein Lehramt oder eine dotierte Stellung anzunehmen. Ist es, weil er seine Unabhängigkeit bewahren will (wenn er es beteuert, glaubt man ihm unbedingt), oder fließt ihm Geld aus irgendwelchen dunklen Quellen zu? Auch das könnte man glauben. Seine stärkste Wirksamkeit ist die philosophisch-politische. Mit aller Leidenschaft, die ihm innewohnt, verkündet er die deutsche Weltmission und erklärt, Deutschland müsse in seiner Enge ersticken, an den zerstörenden Elementen im eigenen Haus zugrunde gehen, wenn es sich nicht durch einen Krieg Luft mache. Dieser Krieg ist ihm religiöse Angelegenheit, er nennt ihn heilig, er fühlt sich als seinen Peter von Amiens. Indem er sich auf die historische Überlieferung stützt, die am Ausgang eines gesegneten Mittelalters durch die lateinisch-keltische Flut unterbrochen worden ist, errichtet er im Geist ein römisch-deutsches Imperium, das von Sizilien bis Livland und von Rotterdam bis an den Bosporus reicht. Alles muß dieser Konstruktion dienen, Kunst und Dichtung, Gotik und Barock, Renaissance und Antike, Christus und die Kirchenväter. Entweder ist es wirklich die Idee, die ihn zum Fanatiker macht (falls er einer ist), oder Fanatismus (falls er ihn hat) ist ein Bestandteil seines Wesens und treibt die Idee aus sich heraus, weil die Zeit dafür reif ist. An Anhängern fehlt es nicht; Bewunderer, können sie auch seiner hungrigen Eitelkeit nie genügen, umschwärmen ihn gelehrig, und die Vermutung einiger kühler Beobachter mag nicht aus der Luft gegriffen sein, daß ihm mächtigere Leute den Rücken decken als eroberungslustige Professoren, verabschiedete Generale und eine Schar entflammbarer Studenten, Leute, die sehr genau wußten, was sie wollten und denen die ganze Kaiserherrlichkeit des Mittelalters gestohlen werden konnte, sofern sie nicht mit solch berauschendem Traum auch ihr Geschäft machen konnten. Dazu war ein Geisteskoloß wie dieser Waremme fraglos von hohem Nutzen, ob er nun selbst bis zum Grunde seines Herzens überzeugt war oder nicht; deshalb auch urteilte man nachsichtig über seine Frauengeschichten, seine ewigen Geldkalamitäten, seine persönliche Unverläßlichkeit und die Dunkelheit seiner Herkunft, über die er sich, vergeßlich wie einer, der schlecht lügt, weil er zuviel lügt, in ständig veränderten Erzählungen erging.

Es stellt sich heraus, daß er ein Freund Anna Jahns ist, oder doch ein guter Bekannter von ihr. Er hat sie im vorigen Jahr in Köln kennengelernt und ihr beim Karneval für eine Liebhaberaufführung die Rolle eines Pierrot so vollendet einstudiert, daß sie ungeteilten Beifall damit erntete. So sagt man; was an der Sache wahr ist, läßt sich schwer erforschen; Anna selbst hat nie darüber gesprochen, Anna spricht überhaupt nicht von ihren Erlebnissen. Auffallend ist nur, daß sie seitdem nicht mehr ins Theater geht und alles, was mit dem Theater zusammenhängt, geradezu verabscheut. Auch über die Person Waremmes schweigt sie sich aus, wenigstens gegen Elli erwähnt sie seiner nie, die Bekanntschaft mit Leonhart hat keineswegs sie vermittelt. Es scheint, der Antrieb ist von Waremme ausgegangen, wie wenn er in diesem jungen Menschen die für ihn geeignete Beute von weit her gewittert hätte. Bald sind die beiden unzertrennlich, schon am Vormittag geht Leonhart in Waremmes Wohnung, nachmittags reitet er mit ihm aus, nicht selten ist Anna mit von der Partie, das Trio erregt natürlich sattsam Aufsehen in den Straßen, schließlich führt ihn Leonhart in sein Haus ein. Ein Rest von Instinkt hat ihn lange zögern lassen, es zu tun; das erste Zusammensein mit Elli verläuft auch peinlich genug. Ihre Abneigung gegen den Mann ist elementar, ihr wird unwohl, wenn sie sein fahles Gesicht mit dem Unterkiefer eines Negerboxers nur sieht, die wasserblassen Augen mit dem schamlos glitzernden Blick, den fetten Hals, die fetten Hände mit den vielen Ringen: alles, alles ist ihr unbeschreiblich verhaßt, die spöttisch akzentuierte Höflichkeit, die sofort einen ausdrücklichen Unterschied macht zwischen einer Frau und einem Mann, wie die souveräne Leichtigkeit seiner Konversation. Es ist wahr, im Vergleich mit ihm ist Leonhart, was ein Lakai im Vorzimmer eines Fürsten ist; aber das ist nicht Ursache für sie, ihn erniedrigt zu sehen, Rangordnung machen nicht die Menschen, die ist von Gott, so oder so; nur was er an sich selber tut, darf sie bekümmern. Sie fleht ihn an, von dem Menschen zu lassen. Er gebärdet sich, als habe sie was Ehrenrühriges von ihm verlangt. Du scheinst keine Ahnung zu haben, wer Gregor Waremme ist. O doch, sie hat die Ahnung, wie der Mann auf sie zuschritt, hat sie das herzlähmende Gefühl von unabwendbarem Schicksal gehabt; das aber hütet sie sich zu sagen. Und überdies, fährt er fort, ist er der einzige Mensch, der sich Annas wirklich annimmt. Was soll sie darauf erwidern? Sie steht da, und ihr schwindelt. Für denselben Abend war verabredet, daß er mit ihr zu einem Tee bei Geheimrat Eichhorn geht; er hat versprochen, sie abzuholen. Er kommt nicht, es wird neun, zehn, elf, sie hört auf zu warten. Am andern Morgen redet er sich aus, er sei nicht dort gewesen, Waremme habe eine eben vollendete Abhandlung vorgelesen. Zwei Stunden später ruft die Geheimrätin an. Weshalb sind Sie nicht gekommen, Elli? Es war ein so reizender Abend, man hat sogar getanzt, und das schönste Paar sind Dr. Maurizius und Anna gewesen, unstreitig. Elli stottert hilflos in den Apparat, sie spürt, wie ihr das Blut im Herzen bitter wird. So nichtig ist sie ihm schon, daß er sie nicht einmal einer gut erfundenen, einer dauerhafteren Lüge für wert hält? Sie mag ihn nicht zur Rede stellen, es ist schon zu weit gediehen, so weit wie ein Brand, der des Wasserstrahls spottet; mit Stricken gefesselt sieht sie zu, wie er vor ihren angstvoll aufgerissenen Augen sinkt und sinkt, noch kann sie nicht glauben, daß alles vorbei sein soll, noch hofft sie und wartet und denkt, es ist eine flüchtige Trübung nur, er kann unmöglich vergessen haben, was er ihr zugelobt und worauf sie ihr Leben gebaut hat. Doch während sie sich noch solcher Täuschung hingibt, sammeln sich bereits die dämonischen Kräfte in ihr, mit denen sie um ihn und seinen Besitz kämpft und ihn und sich vernichtet.


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