Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

1

Langes Schweigen. Warschauer schien mit sich zu Rate zu gehn. Vermutlich machte ihn die Kühnheit des Knaben betroffen. Was sollte er dahinter suchen? Seinem erfahrenen Blick konnte die eigentümliche Unschuld nicht verborgen bleiben, mit der der Junge nun schon zum zweitenmal jenen Namen ausgesprochen hatte. Ahnungslos im Grunde, bei aller vorgeblichen Sachkenntnis und kuriosen Trockenheit. Wie man sich auf eine interessante Figur in einem Theaterstück bezieht, deren Berühmtheit vorausgesetzt werden darf. Oder wie ein Detektiv zuerst durch allerlei Ablenkungen die Aufmerksamkeit seines Opfers irreführt, um ihm dann mit einstudierter Kälte das schlagendste Indiz ins Gesicht zu schleudern. Putzig und ridikül. Als ob er, Warschauer, etwas zu fürchten hätte. Er hatte nicht das geringste zu fürchten. Daß er sich in Berlin niedergelassen, um eine Existenz von beinahe schattenhafter Verborgenheit zu führen, beruhte auf seinem freien Entschluß, er stand nicht unter Verfolgung, er hatte keinen Grund, Nachforschungen zu scheuen, es lag nichts gegen ihn vor. Das Recht, seinen ursprünglichen Namen wieder anzunehmen, hatte er »drüben« erworben, was ihn dazu bestimmt hatte, hing aufs engste mit der Katastrophe zusammen, die er als seinen »europäischen Bankrott« bezeichnete (der aber nur das Vorspiel zu einem viel größeren Bankrott gewesen sei). Er könne, setzte er lebhaft auseinander, sein bisheriges Leben in dieser Hinsicht geradezu in vier deutlich voneinander geschiedene Perioden einteilen: die jüdische, die christlich-deutsche, die überseeisch-internationale und die gegenwärtige, für die er einen passenden Titel noch nicht habe. Vielleicht falle seinem liebenswürdigen Freund Mohl einer ein. Die Umkehr etwa. Die regenerative Umkehr. Es sei außerordentlich merkwürdig. Er empfehle sich diversen modernen Schriftstellern als Modell für einen Proteus. Er sei sogar in der Lage, ihnen Aufschlüsse über die heutige Weltverfassung zu geben, mit denen sie ihr Glück machen könnten. Er selbst habe in dem Punkt resigniert. Es lohne nicht. Nicht einmal zu einer der üblichen Autobiographien könne er sich entschließen. Fünfundzwanzigtausend Druckschriften erschienen jährlich in Deutschland, es sei verdammt lächerlich, Nummer fünfundzwanzigtausendeins hinzuzufügen. Außerdem würde man ihn als ein Monstrum in Acht und Bann tun, als einen Phantasten, der die Apokalypse um ihre Schrecken bringen wolle.

In der Art faselte er noch eine Weile, während Etzel ungeduldig von einem Bein aufs andere trat, nahm die Kleiderbürste vom Nagel und fing an, mit beflissener Umständlichkeit seinen Rock abzubürsten. Dabei schielte er über die Ränder der schwarzen Brillengläser boshaft zu dem Knaben hinüber, wechselte plötzlich das Thema und erging sich in Sticheleien über die Anspielung auf Anna Jahn. »Das war schlechterdings ein Schuß in den Rücken, zum Glück aus einem ungeladenen Revolver, mein Junge«, spottete er, »taktlos, indiskret. Ist es anständig, so mit der Tür ins Haus zu fallen?« – »Na ja, ich dachte eben, weil in dem Fall nicht Sie der Benachteiligte waren«, warf Etzel unerschrocken ein, »in dem Fall haben doch Sie auf der ganzen Linie gesiegt.« Warschauer, etwas geduckt stehend, machte ein Gesicht wie ein wiederkäuender Stier, bedächtig und störrisch. »Woraus schließen Sie das?« fragte er. – »Aus Verschiedenem.« – »Zum Beispiel?« – »Zum Beispiel daraus, daß die Fräulein Jahn noch zwei Jahre nachher oder ich weiß nicht wie lang bei Ihnen . . . oder mit Ihnen gewesen ist . . .« – Warschauer zog die Brauen zusammen, als rechne er nach. »Zwei Jahre? Nein. Sie irren. Es war nicht einmal ein einziges. Warten Sie . . . von Anfang neunzehnhundertsieben bis zum November.« Die Berichtigung geschah in einem Ton von Freundlichkeit, der Etzel auf der Hut zu sein mahnte. Doch er achtete keiner Gefahr mehr, wie in einem Rausch ließ er sich von einer Verwegenheit zur andern fortreißen. Jetzt ist schon alles egal, dachte er und antwortete frech: »Ja, aber von dort, wo sie mit Ihnen war, ist sie meines Wissens erst viel später zurückgekommen, und von dem ganzen Geld, das sie von ihrer Schwester geerbt hatte, war nichts mehr übrig. Bettelarm war sie. Das weiß ich zufällig genau«, log er unverschämt, »denn die Dame, die sie in ihrem entsetzlichen Zustand aufgenommen hat, die kenn ich. Also hab ich doch recht, wenn ich behaupte, daß Sie in dem Fall den Leonhart Maurizius gründlich untergekriegt haben. Er hat gar nichts erreicht, und Sie haben sich mit der Beute aus dem Staub gemacht.«

Die Wirkung dieser frechen Attacke auf Warschauer war sehr sonderbar. Erst schien es, als wolle er auffahren, die Lehmfarbe seines Gesichts zeigte blaugraue Tinten, in der Mitte der Stirn trat ein rötlicher Fleck hervor, und das Eigentümlichste war, daß die Spitzen der Ohren zitterten (die Ohren waren nämlich oben nicht rund, sondern ein wenig zugespitzt wie bei antiken Faunsköpfen). Zum zweiten Mal, seit ihn Etzel kannte, nahm er die Brille ab, zum zweiten Mal sah dieser die wasserblassen lichtlosen Augen. Ein tiefer Atemzug hob seine Brust (Etzel dachte gespannt: Was wird er jetzt tun, der Alte, für ihn war Warschauer mit seinen sieben- oder achtundvierzig Jahren ein Greis, doch nie zuvor hatte er den Eindruck von »Altsein« so stark gehabt wie in diesen furchtbaren zehn bis zwölf Sekunden), der Mund öffnete sich, klappte wieder zu, er ließ die wasserblassen Augen rundherum schweifen, fast so, als suche er einen Gegenstand, mit dem er zuschlagen konnte, dann wurden, ganz unerwarteterweise, die Züge schlaff. Er ging ein paar Schritte auf Etzel zu, blieb stehen, schüttelte gleichsam fassungslos den Kopf, ließ sich auf seinen Schreibstuhl fallen und versank in tiefes Sinnen. So verflossen ungefähr fünf Minuten. »Kommen Sie mal her, Mohl«, sagte er plötzlich leise. Etzel gehorchte stumm. Warschauer setzte die Brille wieder auf, griff nach den beiden Händen des Knaben und hielt sie fest. »Als ich noch Student war«, begann er mit lugubrem Lächeln, »hatte ich einen jungen Grafen Rochow zum Abiturium vorzubereiten. Eines Tages forderte ich ihn auf, mir zu erzählen, was ihm von der griechischen Helena bekannt sei. Er sagte, ich entsinne mich fast noch jedes Wortes, weil es so ein beispielloser Mischmasch von allen möglichen, zusammengelesenen Varianten war: Helena, die Tochter der Nemesis und des Zeus, hatte zuerst ein Liebesabenteuer mit einem Schwan, heiratete den Menelaos, wurde von Paris geraubt, ging nach der Eroberung von Troja mit ihm nach Ägypten, wo sich herausstellte, daß sie die falsche Helena war, die echte war bei Achilles geblieben, sie wurde von Orest und Pylades überfallen, aber von Apollon gerettet. Was sagen Sie zu diesem gräflich Rochowschen Salat? Ich habe selten so gelacht. So geht's mit allem ad-hoc-Wissen, junger Freund, es kommt eine Helena zum Vorschein, daß Gott erbarm, Tochter der Nemesis und Leda zugleich. Menschengeschichte, mein Kind, wenn man sich da verlassen will, das ist, wie wenn man in einem glühenden Krater nach Fischen angelt. Wer sich ernsthaft damit beschäftigt, wird höchstens etwas von der Natur des Feuers und der Lava erfahren, Fische wird er nicht fangen. Zuvörderst lernen Sie eins: Es ist immer alles anders. Es ist dem noch mysteriös, der's lebt, wie dürfte der sich anmaßen und sagen: Es war so oder so, der nur davon weiß. Aber ich will nicht zu scharf mit dir ins Gericht gehen, Jungchen, du tust mir leid.« Er ließ Etzels Hände fahren und stand auf, ohne die etwas bestürzte Miene des Knaben zu beachten.

2

Er ging zum Fenster, öffnete es, murmelte: »Der Himmel ist noch immer rot da drüben«, schloß das Fenster wieder und fuhr fort: »Was denken Sie denn eigentlich dabei, wenn Sie von Anna Jahn reden, kleiner Mohl? Ist Ihnen nicht ein bißchen bange in der Fülle Ihrer Ignoranz? Es kommt mir vor, wie wenn ein Säugling über den Andromeda-Nebel schwadroniert. Sie entschuldigen, aber da sind Dimensionen und Verhältnisse, die sich Ihrer Beurteilung entziehen. Ich glaube auch nicht, daß ich Ihnen in dieser Hinsicht behilflich sein kann. Ich möchte es gern, weshalb sollte man einem so begabten Jüngling nicht einige Winke über psychologische Labyrinthe geben, Winke, die ihm einmal nützlich werden können? Aber bei all Ihrer Reife, Mohl, es ist ja erstaunlich, mit was für Problemen Sie sich ungeniert befassen . . . Ärgern Sie sich nicht, ich sehe, Sie ärgern sich schon wieder über mich, ich meine es vollkommen ernst, und nicht nur das, Ihre Arglosigkeit rührt mich, ich wünschte, ich wäre imstand, Ihre etwas gar zu . . . na, sagen wir rührenden Vorstellungen mit der Wirklichkeit zu befreunden, nämlich um meinetwillen. Wie steh ich denn da, Bösewicht und Lotterbube, Wurm aus Kabale und Liebe, aber ich weiß nicht, ich weiß nicht, man müßte ein Tolstoi sein, um mit Worten . . . Vielleicht interessiert es Sie, zu erfahren, daß ich der Anna Jahn schon begegnet bin, als sie ihren künftigen Schwager noch gar nicht kannte . . . das wissen Sie sowieso? Ah, bravo. Sie war das erste weibliche Wesen, das . . . nun, wie soll man es ausdrücken, eine Erscheinung, vor der man haltmachen mußte. Ich erinnere mich noch gut des Abends, an dem ich sie zum erstenmal sah, es war eine kleine Gesellschaft bei einer Frau von Hardenberg, sie stand neben einer anderthalb Meter hohen chinesischer Vase und hatte den Kopf leicht auf den Arm gestützt, siebzehn Jahre alt, aber die Natur hatte nichts mehr an ihr zu vollenden. Es war alles schon wunderbar fertig, unheimlich fertig, mein Eindruck war: Die Person ist so stolz, daß sie unter Umständen an ihrem Stolz verbluten wird. Nun, was für eine Eigenschaft war das bei ihr: Stolz? Man spricht so ein Wort aus und vergißt, daß es tausend Bedeutungen hat, von der plattesten bis zur tiefsten. Ich habe nur einen einzigen Menschen getroffen, dem Stolz zum Schicksal wurde, das war sie. Ich war jedenfalls in höchstem Maß . . . gefesselt, und es hatte seine Folgen. In den Lehren der indischen Sikhs heißt es: Wenn ein Mann getrennt ist von seiner Seele und dem Verlangen seiner Seele, bleibt er nicht auf der Straße stehn, um zu spielen, sondern beschleunigt seine Wanderung. Ich denke, Sie verstehen. Es war ein Fatum. Bei den Menschen scheint es umgekehrt zu sein wie in der Chemie, wo die zusammengesetzten Elemente reaktionsfähiger sind als die einfachen. In ihr war die Welt inkarniert, in die ich mich bis in die Nervenfasern erst hatte hineinverwandeln müssen. Erst durch ihre Existenz begriff ich den Sinn der meinen. So war das. Wir verstanden uns sehr gut. Das heißt, sie hörte mir sehr gut zu. Ich habe niemals, in meinem ganzen Leben nicht, selbst bei Ihnen nicht, kleiner Mohl, ein so aufmerksames, so atemlos aufmerksames Antlitz mir zugewandt gesehen. In meinen jungen Jahren konnte ich die Menschen im Gespräch mit fortreißen, ich konnte sie maßlos entflammen, ich konnte, ah, was konnt ich nicht? ihnen das eigene Ich neu schenken. Da war kein Unterschied zwischen Männern und Frauen. Kein Widerstand mehr, sie sahen mit meinen Augen, sie fühlten, was ich sie fühlen machte. Sie bekamen ein mutiges Herz, sie fingen an, die Gleichnisrede zu verstehen, denn die höhere Welt wird nur durch das Gleichnis erschlossen. Mir war Mitteilung die andere Natur, die eigentliche Natur, wie der Pulsschlag, wo ich mich mitteilen konnte, identifizierte ich mich schon, es war die sublimste Form der Liebe, Männern wie Frauen gegenüber, unermüdliches Werben, den andern aus sich herauszutreiben, aus allen Grenzen und Reserven, ich selber hatte ja keine, weder Grenzen noch Reserven, das war es eben, das müssen Sie nach allem jetzt begreifen. Was die Frauen betrifft, ich konnte sie nicht entbehren. Sie hatten es leicht mit mir. Ich war Zunder. Ich wog nie ab, was für mich auf dem Spiel stand. Ich war nicht sparsam mit meiner Person, ich kann sogar ruhig sagen, daß ich eine Verschwendung damit betrieben habe wie einer, der fünfzig Leben hat. Einige Freunde machten sich über mich lustig, sie behaupteten, ich sähe Helena in jedem Weibe. Unsinn. Man muß vor vielen Altären gekniet haben, um zu wissen, wie unerreichbar Gott oder Göttin sind, gerade wenn man vergeblich geopfert hat. Als die richtige Helena kam, zeigte sich's freilich, oh, mein prophetischer Rochow, daß sie diesmal wirklich die Tochter der Nemesis war.«

Er wanderte eine Weile schweigend auf und ab, Etzels Blicke waren auf drei Schaben geheftet, die hintereinander schwarz und ekel über die Dielen spazierten. Doch er gewahrte sie nicht, er lauschte nur. »Was sich zwischen uns ereignete«, fuhr Warschauer fort, »ist nicht weiter von Belang. In diesem Zusammenhang nicht. Das Pragmatische spielt keine Rolle. Man verliert dabei nur den großen Gesichtspunkt und erniedrigt das Erlebnis zum Roman (faule Ausrede, dachte Etzel, jetzt verschweigt er das Wichtige, und in der Tat geriet Warschauer einige Minuten lang in unsicheres Stottern). Entscheidend war das: Ich kämpfte um sie, jedoch sie . . . sie kämpfte um . . . ja, um was . . . um ein erdenfernes Bild von sich. Wenn sie noch um sich selber gekämpft hätte, ja dann . . . aber der Ruf, und was man seiner Ehre schuldig war, und daß man sich aufbewahren müsse . . . gottlos, gottlos, Moral der feinen Kreise, Konserven-Moral, gottlos. Ich warf ihr meine Zeit zu Füßen, verschwenderisch wie ein Narr, ein Weib versteht nicht, was das ist, die Zeit eines Mannes. Sie schluckt sie wie Limonade, soviel man ihr davon gibt, verschlingt sie, und wenn sie einen Hut probieren geht, hat sie ihrerseits keine übrig. Sie hatte Talente, es hätte was aus ihr werden können, aber sie hatte keine Ehrfurcht und keinen Glauben, außer daß sie jeden Sonntag zur Beichte ging, aber Menschensendung war ihr nichts. Man hätte sie auseinanderreißen müssen . . . sie war zugeschlossen wie eine junge Nuß. Ich . . . nun ja . . . ich war kein Toggenburg, kein Adorant . . . was sollt ich tun? (er schlug sich herumgehend mit der flachen Hand dröhnend auf die Brust), was sollt ich tun? Ich wußte wohl, daß die zerschlagene Schale mir die Seele noch nicht öffnete, aber es ist da eine Rachsucht . . . Ich rang sie nieder und war der Geschlagene. Ich war vielleicht verrückt. Ich beging die größten Dummheiten. Ich log ihr vor, ich sei der Sohn eines regierenden Fürsten. Dabei verzehnfachte ich meine Kraft und arbeitete wie ein Kuli. Aber diese Art Leidenschaft war ihr unheimlich. Schließlich war sie ein deutsches Mädchen, verstehen Sie. Es war zuviel für sie, sie steckte in Konventionen wie in einem eisernen Korsett. Ich war ihr nicht geheuer. Sie spürte das fremde Blut . . . ihr graute, sie war behext, und es graute ihr ein wenig. Je mehr Licht ich über sie ausgoß, je dunkler wurde ihr Gemüt. Enträtseln Sie das. Nicht hingerissen werden wollen, um Gottes willen nicht, sich beugen schließlich, dulden ja . . . sie wußte nicht, daß sie mich binden konnte, wenn sie sich losließ, daß ich Wurzel schlagen würde, wenn sie mir den Boden bereitete, aber das faßte sie nicht, die deutsche Helena, das ging über ihren Horizont. Es kam zum Bruch. Sie irrte von Stadt zu Stadt bis sie von der Schwester gerufen wurde. Und was geschah? Dort harrte ihrer eine Mission nach ihrem Sinn. Ein mutterloses Kind war zu versorgen, ein lyrischer Schwächling war zu bölzen, der keine geöffnete Seele verlangte, denn seine war ja von jeher offen wie eine Wirtshaustür, er brauchte ein bißchen Märtyrer-Nimbus, ein bißchen tantenhaften Zuspruch, ein bißchen Bewunderung, man konnte die Gouvernante spielen, die Unnahbare, die Mittlerin, die Rolle war einem auf den Leib geschrieben, man wurde angebetet, man riskierte nichts dabei. Ohne Frage hätten sie ein sanftes und anständiges Glück beieinander gefunden, hätten in einer jener Ehen gelebt, wo der Mann ein beamteter Lakai und die Frau, Gott mag wissen, wie es zugeht, mit vierzig Jahren noch Jungfrau ist, auch wenn sie ein halbes Dutzend Kinder geboren hat, ohne Frage wär es so gekommen, wenn Maurizius noch frei gewesen wäre. So ging's unaufhaltsam in die bürgerliche Stickluft-Tragik hinunter, wo die Hemmungen, Verdrängungen und Komplexe wie ansteckende Hautausschläge gedeihen, Kampf zwischen Liebe und Pflicht, Rücksicht auf geheiligte Bande, Furcht vor Klatsch und Verleumdung, feiges Spiel mit dem Feuer, Rivalität zwischen Schwestern und heimlicher Briefwechsel, verbotene Wege und schlechtes Gewissen. Das ganze Phrasengewitter ausgelaugter Konflikte tobte sich aus, und das jämmerliche Ende kam wie ein geschwungener Hammer, ob ich nun eingriff oder nicht. Und hätte ich etwa nicht eingreifen sollen? Sie waren so armselig alle drei. In ihrer augenlosen Verwirrung flatterten sie herum wie Vögel ums zerstörte Nest, die triste Komödie schrie geradezu nach dem Gott aus der Maschine, sie konnten gar nicht mehr zurechtfinden ohne mich, sie hatten keinen Willen mehr, nur noch Trieb, nur noch Angst. Meine Galathee, meine Helena, von einem Narren geraubt! Wenn's wenigstens ein Paris gewesen wäre, aber nein, nicht der blasse Schimmer. Besudelt fand ich sie wieder, in den Morast geschleift, ihr ganzes Wesen flehte um Rettung, was war sie denn ohne mich, aber sie wollt es nicht wahrhaben, und als ich sie aus dem Pfuhl herausfischte, war sie eine Leiche. Will sagen, sie hatte keine Seele mehr. Sie ging allerdings auf der Erde herum, aß und trank zur Not, kaufte sich Toiletten und las Bücher und besuchte Museen und . . . war eine Leiche. Ich bin kein Christus, konnte nicht Jairi Töchterlein neuen Odem einblasen. Im Gegenteil, ein kaputter Mann war ich um diese Zeit, kaltgestellt wie auf Kommando. Kein Hund wollte mehr einen Bissen Brot von mir nehmen, meine eifrigsten Förderer kannten mich nicht mehr, man war nicht mehr für mich zu Hause, man erinnerte sich nicht, mit mir Ideen ausgetauscht und Pläne geheckt zu haben, Briefe kamen uneröffnet zurück, die Geldquellen versiegten, es blieb mir nichts übrig, als meine Zelte abzubrechen und mit meiner entseelten Halbleiche wie die wahnsinnige Johanna mit dem Kadaver ihres Gemahls außer Landes zu gehn. Nach Westen. Weiter nach Westen.«

Er trat ans Fenster und trommelte derart heftig und andauernd an die Scheibe, daß Etzel in seiner quälenden Nervenanspannung unwillkürlich die Hände an die Ohren preßte. Nach einer Weile traute er sich hin und zupfte ihn am Rock. »Herrje, hören Sie doch auf«, bat er leise. Warschauer ließ den Arm sinken, drehte sich aber nicht um. »Und wie war das mit dem Gott aus der Maschine?« fragte Etzel flüsternd, »das ist doch das Allerinteressanteste . . .« Warschauer machte eine wegwerfende Geste. »Mag sein, mich interessiert es momentan nicht«, gab er schroff zur Antwort. »Sehen Sie die Gestalt da drüben am Fenster? Richtig, so weit können Sie nicht sehn, Sie armer Salamander. Eine nackte Frau. Sie badet ihre Füße. Eigentlich schön. Friedlich und schön. Vielleicht ist sie jung und hübsch, ich kann's nicht ausnehmen, sie sitzt im Schatten, aber wenn sie jung und hübsch ist, wollen wir ihr für ihre Sorglosigkeit einen dankbaren Gedanken widmen. Das Leben geht doch nicht ganz über einen hinweg. Aber ich fürchte, es ist eine Illusion, sie wird eine alte Vettel sein.« – »Du liebe Zeit, was für ekelhafte Sachen Sie manchmal reden«, sagte Etzel, »was kümmert uns das fremde Weibsbild.« – »Jaja, was kümmert uns das fremde Weibsbild«, wiederholte Warschauer in seltsam schwermütigem Ton. Etzel blickte überrascht auf und schlug dann beschämt die Augen nieder. Da lachte Warschauer klapprig, es klang, als wäre die Stimme zerbrochen. »So stand ich auch einmal am Fenster«, begann er ohne Übergang zu erzählen, die Stirn an die Glasscheibe gelehnt, »in der Nacht, in einer kleinen französischen Stadt, in einem kleinen, leeren Gasthof, spät im Herbst, stand am Fenster und schaute hinaus, und in einem Fenster gegenüber sah ich ein geigenspielendes Mädchen. Man hörte nichts, man sah bloß, wie sie mit innigem Gefühl den Bogen führte, auf und ab, ihre zarte Figur schimmerte nur durch die weißen Gardinen. Und hinter mir, so wie jetzt Sie hinter mir stehen, kleiner Mohl, hinter mir stand . . . Anna. Die Koffer waren gepackt, am andern Morgen sollten wir reisen, sie nach Paris, ich nach Cherbourg. Wir waren am Ende.«

Er sprach, nach einer Pause, von den letzten zehntausend Francs, die er im Bakkarat verspielt. Viertausend blieben dann noch übrig, der Rest von Annas Vermögen, die teilten sie, und der weibliche Schatten, der ihn bis zu diesem Absturz begleitet hatte, vielleicht nur deswegen, weil er nirgends auf der Welt seines Bleibens hatte, löste sich von ihm los, mit derselben Lethargie, mit der er neben ihm hergegangen. Paris? Gut, Paris. Und dann? Sie wußte es nicht. Welkes Blatt im Wind. Ein Jahr lang hatte er, damals noch Gregor Waremme und von verloschenem Ruhm umwittert, aufgehört, eine geistige Existenz zu führen. Er hatte sich seine verzweifelte Enttäuschung nicht zugestehen wollen, er spielte einfach seine Rolle weiter, Schauspieler ohne Publikum, vor leeren Bänken. Aber der Schauspieler wurde zum Glücksspieler, es war nur ein Wechsel der Masken. Er sagte, der Spieler sei ein Bastard der Phantasie, nur wer den Besitz verachte, könne um großen Einsatz spielen. Er hatte das fürchterliche Debakel seines Lebens im Innern noch nicht verwirklicht, er träumte von Reichtümern, hielt das Exil für vorübergehend, die Aufhebung der Ächtung für eine Frage der Zeit, sein Ziel war, aus den hunderttausend Francs von Annas Erbschaft sechs- bis siebenmalhunderttausend zu machen, das schien ihm ein leichtes, mit dieser Summe ließ sich dann eine goldne Brücke zur Rückkehr bauen. Und nun war sein Geschäft, das Glück zu zwingen, Tag für Tag, Nacht für Nacht, verbohrt und verbissen. Als alles vertan war, kam die Ernüchterung. »Ich begriff, wie einer, der aus einer Opiumhöhle in den eiskalten Morgen tritt, daß ich in Europa keinen Boden mehr hatte. Aber auch der Gedanke, über den Ozean zu gehen, war zuerst nur Träumerei. Auch da träumte ich zuerst nur von einem Zufallsglück und davon, daß die Heimat mir das zugefügte Unrecht abbitten und mich wieder mit offenen Armen empfangen würde. So tief war die Verblendung. Aber in jener erwähnten Nacht hatte ich ein Wahrbild meines vergangenen Lebens, es stierte mich an wie eine Larve aus der Unterwelt. Endlich wußte ich, es gab keine Umkehr. Es gab entweder die Kugel in den Kopf oder . . . die Schiffe hinter mir verbrennen, nicht mehr zurückschauen, sich im Unbekannten unbekannt verlieren. So geschah es. Aber, mein guter Mohl, es kamen Jahre . . . ich fürchte, es geht über meine Kraft, Ihnen davon eine Vorstellung zu geben . . .« Er schritt ins Zimmer zurück, bis zur gegenüberliegenden Wand, und kauerte sich auf einen niedrigen Bücherstoß, die Stirn weit nach vorn gesenkt. Die weißen Borsten auf seinem Schädel glitzerten wie Eis. Etzel machte sich ganz klein und war ganz, ganz still. Am liebsten hätte er sich in den Ofen verkrochen, um nur zu lauschen und von Warschauer nicht mehr gesehen zu werden.

3

Es handelte sich nicht um einen bestimmten Vorgang. Es gab da keine Geschichte mit spannenden Wendungen. Nicht einmal einen rechten Anfang hatte der Bericht, keinen Einschnitt, keine Steigerungen. Nur Bilder flammten von Zeit zu Zeit auf, die an Blinkfeuer über trübem und eintönigem Wassergewoge erinnerten. (Etzel kannte die Blinkfeuer von der Nordsee her, wo er vor drei Jahren mit dem Vater ein paar Ferienwochen bei Sydows verbracht hatte.) Ja, wie trübes und eintöniges Wassergewoge berührte ihn nun die Sprechweise Warschauers, das Aufbrausende, leidenschaftlich Überbreitende seiner Rede hatte sich verloren, alles wirkte wahrer. Es war ein Unterschied wie zwischen einem Erzähler, der fortwährend schreit und Grimassen schneidet, so daß man nicht ordentlich aufpassen kann auf das, was er sagt, und einem, der dasitzt, ohne sich zu rühren, kaum zu sehen ist und nur spricht, nur spricht . . . Was Etzel vernahm, zog ihn wie eine Schraube hinunter (er hatte sogar ein körperliches Gefühl von Hinabgezogenwerden), in allem war eine ungeheure, eine herzlähmende Logik zu spüren. Scheinbar bestand kein unmittelbarer Zusammenhang mit seiner Sache, aber das beunruhigte ihn nicht weiter, er würde den Zusammenhang schon wieder herstellen, dünkte ihn doch, als ob alles nur wie Abwandlung des Einen sei, der einen »Sache«, die irgendwann, zu irgendeiner Stunde zum Austrag kommen mußte.

Waremme verließ also damals Europa mit dem vollen Bewußtsein der Endgültigkeit. Auswanderer im kahlsten Sinne des Wortes, für den es eine Heimat nicht mehr gibt. Er hatte sich damals abgefunden. Er mußte vergessen, er mußte von vorn anfangen. Jedoch über die wesentliche Schwierigkeit seiner Lage war er sich am Beginn dieses Schrittes noch immer nicht klar. Europa den Rücken kehren heißt noch nicht, ohne Europa existieren können. Er fing an zu verstehen, was Europa für einen Menschen wie ihn eigentlich war. Nicht bloß seine persönliche Vergangenheit, sondern die Vergangenheit von dreihundert Millionen Menschen. Zugleich das, was er davon wußte, was er davon im Blute hatte. Nicht bloß die Landschaft, die ihn hervorgebracht, sondern Bild und Form aller Landschaft zwischen Nordsee und Mittelmeer, ihre Atmosphäre, ihre Geschichte, ihre Verwandlung. Nicht nur die und die Stadt, in der er selbst gelebt, sondern Hunderte von Städten, und in den Städten die Dome, die Paläste, die Burgen, die Kunstwerke, die Bibliotheken, die Spuren großer Männer. Gab es denn eine Begebenheit seines eigenen Lebens, der sich nicht geschlechteralte Erinnerungen gesellten, die mit ihm geboren waren? Europa war nicht bloß die Summe der Bindungen in seiner individuellen Existenz, Freundschaft und Liebe, Haß und Unglück, Gelingen und Enttäuschung, es war, ehrwürdig und unfaßbar, die Existenz eines Ganzen seit zweitausend Jahren, Perikles und Nostradamus, Theoderich und Voltaire, Ovid und Erasmus, Archimedes und Gauß, Calderon und Dürer, Phidias und Mozart, Petrarka und Napoleon, Galilei und Nietzsche, ein unabsehbares Heer lichter Genien, ein ebenso unabsehbares von Dämonen, alles Helle ins Dunkle getrieben und aus ihm wieder hervorleuchtend, aus trüber Schlacke goldenes Gefäß zeugend, die Katastrophen, die Erleuchtungen, Revolutionen und Verfinsterungen, Sitte und Mode, all das Gemeinsame, Strömende, Gekettete und Gestufte: der Geist. Das war Europa, sein Europa. Wie konnte er dies Europa von sich abtun? Es war in ihm. Er trug es mit hinüber. Es wirkte in ihm schon dadurch, daß er atmete. Er hatte demnach, so schien es ihm, eine Aufgabe. Wie ein Missionar zu den Heiden geht, um ihnen den wahren Gott zu bringen, so ging er »hinüber«, schien es ihm, um den Geist Europas zu verkündigen.

»Es läßt sich denken, Mohl, wie großartig ich mir in dieser Einbildung vorkam. Kolumbus der Zweite. Ein heiliger Paulus der Bildung und Kultur, nicht wahr? Mit solchen Rosinen im Kopfe konnt ich mich doch einigermaßen installieren. Was man aus Büchern über Land und Volk erfahren kann, das wußte ich, ich hielt die theoretischen Kenntnisse für einen nützlichen Fundus, zudem beherrschte ich die Sprache wie meine eigene, Engländer von Rang hatten mir oft ihr Erstaunen darüber ausgedrückt. Nun, ich war ja immer eine Art Mezzofanti. Ich hatte aber keine Verbindungen. Ich kannte keinen Menschen. Ich besaß keinerlei Empfehlung. Ich brachte nicht einmal einen Titel mit. Ich wollte mich bei den Universitäten einführen, es war jedoch aus gewissen Gründen unmöglich, auf meine frühere Wirksamkeit zu verweisen, ich mußte Erkundigungen fürchten, ich hatte keinen akademischen Grad, die Verachtung, die ich für die Herdenauszeichnungen gehabt, rächte sich jetzt, die Versuche scheiterten. Zu meinem Glück, denn bei der Lage der Dinge hätte ich auf jedem ihrer Katheder eine bedauernswerte Figur abgegeben, etwas wie den Lehrer in einer indianischen Dorfschule. Nach einigen Wochen war ich von allen Mitteln entblößt. Das schierte mich nicht groß. Verhungern kann dort niemand. Das ganze Land ist sozusagen eine Versicherungsanstalt gegen den Hungertod. Die öffentliche Wohltätigkeit ist so gigantisch, daß Bettler fast so selten sind wie Könige. Und sie haben ja die Demokratie. Was allerdings zwischen Leben und Nichtverhungern liegt, ist ein anderes Kapitel. Stellen Sie sich ein riesiges Hospital vor, ausgestattet mit allem Komfort der Neuzeit, vollgestopft mit lauter unheilbar Kranken, von denen niemals einer stirbt, so haben Sie, was »dazwischen« ist. Das Sterben könnte dem Renommee des Instituts schaden. Nun, Sie haben sich hoffentlich in der Zeit unserer Bekanntschaft davon überzeugt, daß ich ein Mensch ohne materielle Bedürfnisse bin. Während ich noch im höchsten gesellschaftlichen Glanz lebte, brauchte ich für meine Person, außer wenn ich bestimmte Zwecke erreichen wollte, nicht viel mehr als ein armer Student. Das ist eine der Eigenschaften, durch die man unter Umständen stärker wirkt als durch Genialität. Der Völler und Genüßling glaubt nur an den Enthaltsamen. Es gelang mir leicht, durch Sprachunterricht mein Brot zu verdienen. Ich blieb damit aber auf die untersten Klassen beschränkt. Es hatte äußere Gründe. Ich hatte das Geld nicht, mich anständig oder gar elegant zu kleiden, ich hatte auch nicht die Neigung dazu. Nach und nach kam ein Trotz über mich, als wäre mein ärmliches Aussehen ein Selbstschutz, Sie werden bald verstehen, warum mich nach diesem Selbstschutz verlangte. Die inneren Gründe waren bedeutsamer. Kleine Leute vertrugen mich grade noch. Kleine Leute fordern nicht die Umgangsschablone, sie sehen noch im andern Menschen etwas Schwebendes, da sie ja auch noch schweben, über der Tiefe nämlich. Den kleinen Leuten dort haftet noch ein Fetzen Europa an, ein verlorenes Flitterchen Europa, ein Reminiszenzchen. Die Gesicherten, so wie sie nur anfangen, der Sicherung teilhaftig zu werden, beargwöhnten mich. Ich sagte Worte, die bei ihnen nicht vorkamen. Ich machte Anspielungen auf Dinge, von denen sie nie gehört hatten. Die Sätze, in denen ich zu ihnen redete, hatten eine Konstruktion, mit Hauptsatz und Nebensatz. Nie kam das Wort Dollar über meine Lippen. Dagegen liebte ich, mich in Gleichnissen verständlich zu machen. Und das war Geist, etwas rasend Verdächtiges, etwas Ekrasantes, und je höher man sozial stieg, je verdächtiger und ekrasanter. Natürlich wurde ich immer vorsichtiger, immer bescheidener. Aber die wohlbedachte, sorgfältig geplante Vermeidung und Ausschaltung von Geist, deren ich mich befliß, war immer noch Geist. Was sollte ich dagegen tun? Ich hatte eben noch nichts von dem Land begriffen. Ich sah bloß das eine, wenn ein Mensch, sei es, wer es sei, einen Funken Geist zeigte, ging man ihm in weitem Bogen aus dem Weg, und er konnte seinen Fauxpas nur vergessen machen, wenn er gelegentlich etwa ein Kind aus den Fluten des Mississippi zog. Nein, sie lieben nicht den Geist, sie lieben das Ding, die Sache, die Verrichtung, die Anpreisung, die Tat, der Geist ist ihnen über alle Maßen unheimlich. Sie haben was anderes an seiner Statt, das Lächeln. Ich mußte lernen zu lächeln. In San Franzisko gab es einen Friseurladen, der Besitzer hatte nach dem großen Erdbeben, das die Stadt in Trümmer stürzte, den sublimen Einfall, ein Plakat an seine Ladentür zu nageln: Wer hier lächelnd eintritt, wird umsonst rasiert. Als man mir das erzählte, fing ich langsam an zu begreifen. Kinderland. Ich lernte also lächeln. Daraus erkennen Sie, guter Mohl, daß mir ein vollständig neues Problem der Anpassung gestellt war, mir, dem Meister der Mimikry, ein viel schwierigeres als je vorher. Vorher hatte ich alles im Geist und durch den Geist bewirken müssen, jetzt konnte ich mich nur halten, wenn ich den Geist bis auf den letzten Stumpf aus mir heraustrieb, wenn ich sozusagen täglich gegen den Geist purgierte. Aber das sind Aperçus, Nachgeburten der Erfahrung, mit denen kann ich so wenig das Wesen begreiflich machen, als wenn ich versichere, die Suppe von gestern war zu stark gesalzen. Ich blieb nicht lange in New York. Da hängt man noch quasi am Rand von Europa, die Versuchung ist zu stark. Die Irrfahrten dann, darüber ist nicht viel zu sagen. Ich ging mit der Familie eines Predigers nach Kansas-City, von dort in den Süden, von dort nach Mittelwest. Man muß sich aufs Wandern einrichten, wenn man sich nicht aufs Klimmen versteht, auf dem Fleck bleiben, heißt untersinken, Jack wirft dich dem John zu und John dem Bill, und wenn Bill findet, daß du nicht mehr taugst, läßt er dich auf dem Kehricht verrecken, in aller Freundlichkeit natürlich. Keep smiling. Als ich nach Chikago kam, wo ich dann zehneinhalb Jahre blieb, wurde ich krank, acht Monate lag ich im Spital. Während meiner Genesung freundete ich mich mit einem jungen Neger an. Joshua Cooper, einem Athleten, einer Unschuldsseele. Wenn er einen anlachte, hatte man immer das Gefühl, es ist Weihnachten. Er war Beamter an einer Negerbank, durch ihn lernte ich andere Neger kennen, ich unterrichtete sie oder ihre Söhne. Damit war ich bei der weißen Gesellschaft erledigt. Die Wege wurden dunkler, ich ließ mich treiben, ich verlor die Oberfläche und geriet auf den Grund. Ich hatte viele Begegnungen mit Chinesen, Begegnungen, mehr nicht, man kommt nicht an sie heran. Dort nicht, wo sie entwurzelt sind. Sie leben wie Würmer im Holz, dort. Die Mehrzahl unter ihnen führt das geheimnisvollste Dasein, das unter menschlichen Geschöpfen möglich ist. Selten ist einer wirklich, was er scheint, der Koch kein Koch, der Lastträger kein Lastträger. Viele stehen im Dienst einer Organisation von einer Macht und Strenge, mit der verglichen der Jesuitenorden die Harmlosigkeit einer höheren Töchterschule hat. Ich war oft mit einem Teehändler namens Sun Chwong Chu zusammen. Als ich ihn eines Tages besuchte, ich hatte einen Auftrag an ihn, führte mich der gelbe Boy in den Keller, wo vier von seinen Freunden schweigend um seine Leiche standen. Eine Stunde vorher war er lautlos umgesunken, sein Gesicht war aufgedunsen wie ein Schwamm. Mord ohne Mörder, auf achttausend Meilen Entfernung diktiert. Sie denken sich wahrscheinlich: blöder Kitsch, was, guter Mohl? Aber man muß das erlebt haben, das Schauerliche ist da noch nicht von den Gänsefüßchen der Kultur geschwächt. Diese Stadt . . . wenn ich bisweilen den Atlas aufschlage und ich sehe sie unter einem gewissen Längen- und Breitengrad geographisch fixiert, am Südufer eines gewissen, ungeheuern Sees, ungeheuer wie alles in dem Land, das Wasser weißlich wie verdünnte Milch, wenn ich sie da sehe, als Zeichen bloß, ergreift mich ein grauendes Staunen. Sie existiert also wirklich, sag ich mir, als ich dort lebte, war mir die Wirklichkeit nicht so unumstößlich. Könnte die menschliche Seele, was in sie eindringt, so schnell aufnehmen, wie das Auge blickt und der Verstand faßt, niemand könnte das Jahr, in dem es geschieht, zu Ende leben, auch der Härteste nicht, und ich bin bei Gott hart genug. Es geht mir mancherlei durch den Sinn; wenn ich's festhalten will, hat es nicht mehr Stoff als Fieberträume, da sind ein paar Vorkommnisse, von denen muß ich reden, weil . . . nun, wie heißt's im Shakespeare: Des Himmels Antlitz glüht, ja, dieser Weltbau zeigt mit Trauermienen wie vor dem Jüngsten Tag Trübsinn bei solchem Werk . . . Trübsinn? Na, ich weiß nicht. Man wird um- und umgestülpt. Es ist furchtbar interessant. Ein Bilderbuch, so rar wie nervenzerrüttend. Doch da ist vorerst was Hübsches. Präludium. Ich geh eines Morgens durch die Gassen der Lagerhäuser, die Ohren zerhämmert vom Lärm, Maschinen und Menschen toben, kreischen, rasen, da vernehm ich sonderbare Laute. Vogelgesang? denk ich erstaunt, in der Schmutz- und Eisenhölle Vogelgesang? woher die Vögel? wieso kann ich sie hören? Ich trete in eine Art Verschlag, frag einen Schwarzen, er weist mich grinsend weiter, vor mir eine Mauer von Käfigen, dreißigtausend Kanarienvögel, eben ausgeladen, singen aus dreißigtausend winzigen Kehlen, ein Orchester, ein Monsterkonzert, das Krane, Autos, Lokomotiven, Menschengeschrei unsinnig-lieblich übertönt. Ich stehe da und weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll, es ist so verrückt, so heilig, so märchenhaft. Well, blättern wir um. Ein Sommernachmittag; lungenausdörrende Hitze; die Wandelgänge der Stockyards. Der Himmel eigentümlich gelbrot, die Luft klebrig, zum Schneiden dick. Die kilometerlangen Gänge, hölzerne Tunnels, Labyrinthe von Tunnels laufen über die Straße hin, die Todesbrücken für das Schlachtvieh. Dumpfes Gedröhn, Ochsen und Kälber in unendlichen Zügen, ruhiges, schicksalsvolles Stampfen. An einer bestimmten Stelle wuchtet der Hammer auf sie herunter, in einer Minute sterben hundert und stürzen in den Schacht. Bedrängte Gegenwart, so dicht beim Sterben zahlloser Kreatur, ich seh sie schreiten, schiebend geschoben, die Hälse der hinteren auf die Flanken der vorderen gelegt, vom Morgen bis zum Abend, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mit großen, braunen, ahnungsvoll-verwunderten Augen, das klagende Gemuh erschüttert die Atmosphäre, vielleicht erbeben die unsichtbaren Sterne davon, die Pfeiler zittern von den starken Körpern, aus den riesigen Hallen und Speichern schwelt der süßliche Blutdunst auf, ständiges Blutgewölk brütet über der ganzen Stadt, die Kleider der Menschen riechen nach Blut, ihre Betten, ihre Kirchen, ihre Stuben, nach Blut schmecken ihre Speisen, ihre Weine, ihre Küsse. Es ist alles so massenhaft, so unerträglich hunderttausendfach, der einzelne hat fast keinen Namen mehr, das einzelne nichts Unterscheidendes. Numerierte Straßen, warum nicht numerierte Menschen, etwa nach der Zahl der Dollar, die sie verdienen, mit Blut von Vieh, mit der Seele der Welt. Ein anderes Blatt. Herbstnacht, toller Sturm und Regen. Da ist eine Straße, die Halstedstraße, in deren Nähe wohnte ich, dreißig Meilen lang, trostlos lang, so lang wie das Elend und der Jammer, die sie beherbergt, sie nennen sie die längste Straße der Welt, und das ist sie, der neue Weg nach Golgatha. Da gibt es Häuser, die nur aus Unrat zu bestehen scheinen – man muß den Unrat vor den Türen verbrennen, damit man nicht drin erstickt – da gibt es düster-schmierige Winkel mit ruinenhaften Baracken, in denen acht Dutzend Familien in einem Dutzend Löcher hausen, so daß das gepferchte Leben zu den Fenstern herausquillt und Weiber und Männer und Säuglinge in heißen Nächten auf den eisernen Balkonen wie die Heringe übereinanderliegen; da sind Basare, worin aller Schund verkauft wird, den dieser verknotete Menschenheerwurm für seinen Schrecktraum von Dasein zu brauchen sich einbildet; da ist ein Gewimmel zementfahler Kinder mit gierigen Verbrecheraugen; und Ruß und Staub und Rauch und Berge von Papierfetzen und krüppelhafte Autos und Firmentafeln in allen Idiomen der Welt und Benzingestank und Schweißgestank und Blutdunst. Nun zur Sache. In besagter Nacht ging ich aus, neben mir waren neue Mieter eingezogen, fünfköpfige irische Familie, denen war am Bahnhof all ihr erspartes Geld gestohlen worden. Ihre Verzweiflung machte das ganze Haus mobil, das Jammern und Schluchzen enervierte mich, ich hatte für Mitternacht eine Verabredung mit Joshua Cooper, der für einige Monate nach Louisiana wollte, er hatte mich in eine Bar an der Zweiundzwanzigsten Straße bestellt, auch eine süße Gegend. Von weitem schon hört ich wüstes Geschrei, zuerst dachte ich, es sei der Regen, der auf die Wellblechdächer peitscht, dann seh ich eine Horde von Kerlen daherstürmen und vor ihnen, in einem Abstand von zwanzig Schritten, einen kolossalen Neger. Kein Zweifel, es ist mein Joshua. Er ist beinahe nackt, sie haben ihm die Kleider vom Leib gerissen, er fliegt förmlich, sein gutes, schwarzes Gesicht ist von einer Todesangst verzerrt, wie ich sie nie, weder vorher noch nachher, an einem menschlichen Wesen gesehen habe. Er rast daher, die Beine weitausschwingend, die Arme vorwärtsgestreckt, auf seiner Stirn, genau in der Mitte, klafft eine kleine Wunde, von der rinnt ein dünner Blutfaden über Nase, Mund und Kinn. Die Sekunde seines Vorüberrasens belehrt mich darüber, was seiner harrt, es ist aus mit ihm. Schon kommen die Verfolger. Zwölf bis fünfzehn Burschen. Johlend, mit tierischem Gebrüll, irrsinnig vor Wut. Es nagelt mich an den Boden fest. Der Sturm reißt mir den Schirm weg, ich merk es nicht, den Hut weg, ich stand gerade an einer Hausecke, ich merk es nicht. Ich sagte schon, ich bin ein harter Teufel, aber damals . . . lauf, guter Freund, lauf, mein Joshua, stammel ich vor mich hin, diese zwölf oder fünfzehn Kerle . . . von der Menschheit hatten sie nichts mehr an sich. Bestien? Jede Bestie hat ein Quäkergemüt dagegen. Es waren Leute, denen Raub und Mord Geschäft ist, die einen Menschen durch einen Schlag ins Gesicht stumm machen und sich weniger dabei aufhalten als andere, wenn sie eine Fensterscheibe zerschlagen, acherontische Gestalten, das zweibeinige Aas der Vorstädte, dergleichen gibt es hierzulande nicht, der Verkommenste hier erinnert einen noch, daß ihn eine Mutter geboren hat. Ihre infamste Tücke besteht darin, Verbrechen anzuzetteln, die sie den Negern in die Schuhe schieben, das geht natürlich von einer Zentrale aus, wie seinerzeit in Rußland, als sie die Juden massakrierten, das heißt dann Lynchjustiz. Nein, und wenn ich Methusalems Alter erreiche, nie werd ich meinen Joshua vergessen, wie er vor der johlenden Brut mit Geistergeschwindigkeit enteilte, den Blutfaden über dem guten, schwarzen Gesicht, die Arme vor sich hingestreckt. Ich habe ihn nicht mehr gesehen, ich habe nie mehr von ihm gehört, Gott weiß, wo seine Leiche fault . . .«


 << zurück weiter >>