Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

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Zweites Kapitel

1

Unlöslich vermengte sich in Etzels Geist die Erscheinung des Mannes mit der Kapitänsmütze, besonders das unerwartete und dabei planvoll wirkende Zusammentreffen mit dem Vater auf der Treppe und das Bild des Briefes mit dem Schweizer Poststempel und der vertraut zu ihm redenden Handschrift. In beiden Geschehnissen forderte ihn etwas auf oder heraus; der Unterschied lag nur darin, daß jenes ganz außen, dieses ganz innen blieb, so daß er sich zwischen ihnen wie ein schwingendes Pendel vorkam. Beides aber verwirrte ihn tief und zog seine Gedanken von der gewöhnlichen Beschäftigung und dem täglichen Pflichtendienst dermaßen ab, daß er eines Vormittags, statt mit dem mechanischen Gedächtnis der Beine den Weg zum Gymnasium einzuschlagen, in die entgegengesetzte Richtung ging, immer weiter, wie traumverloren, im Bockenheimer Bahnhof seinen Bücherpack deponierte und in den Taunus hinausfuhr. In Oberursel verließ er den Zug, wanderte gegen die Saalburg, kümmerte sich schließlich um Ziel und Straße nicht mehr und irrte im Wald umher, ohne auf den Sturm und die zeitweise niederprasselnden Regengüsse zu achten. Wenn es zu arg wurde, suchte er Schutz unter einem Baum oder in einer Holzfällerhütte. Wie traumverloren; aber eben nur »wie«. Wir haben es hier mit keinem Träumer zu tun, in keiner Weise, das muß vor allem festgestellt werden. Er hatte seine fünf Sinne ausgezeichnet beieinander. Er wußte, was er tat, er wurde mit den Dingen ohne viel Federlesens fertig, er schwindelte sich nichts vor, er hatte die Uhr im Kopf und die Zeit in den Fingerspitzen (Beweis dafür: um ein Uhr fünfzehn erschien er pünktlich wie immer, gewaschen und angezogen, am Mittagstisch). Mit einer Sache fertig werden, und zwar mit dem Verstand fertig werden, mit sich ins reine kommen, Ursache und Folge überblicken, Schluß machen können, das war sein Ehrgeiz, darin übte er sich bei jeder Gelegenheit. Das wollte er auch hier, das trieb ihn hinaus. Aber es mißlang in diesem Fall, die Verwirrung war zu groß.

Am nächsten Abend, bei dem obligaten Gespräch mit dem Vater, merkte er, daß dieser sich anders gab. Es war nicht recht zu ergründen, in welcher Art, auch nicht, was er beabsichtigte; seine Absichten und Zwecke konnten, wenn er sie verbergen wollte, höchstens von einem Hellseher durchschaut werden. Er war freundlicher als sonst, ja, er hatte etwas Zuvorkommendes in seinem Wesen; zum Beispiel reichte er Etzel die Käseplatte zweimal und erkundigte sich lächelnd, ob er sich nicht demnächst die Haare scheren lassen wollte. Sofort war es Etzel klar, daß er von dem Vormittagsausflug und dem Wegbleiben von der Schule wußte und daß es deswegen zu einer jener versteckten Auseinandersetzungen kommen würde, die ihm ein Schrecken waren. Mit Sicherheit konnte man es nicht erwarten, schlimmer noch, wenn es in Schweigen gehüllt als Drohung zwischen ihnen blieb. Das war dann sogenanntes Material. Herr von Andergast legte sichtlich alles darauf an, daß Etzel selbst davon zu sprechen begann; er lud ihn durch seine Milde gleichsam dazu ein; aber je mehr er sich bemühte, je unbehaglicher wurde dem Knaben zumut, er verstummte schließlich und schaute gespannt, fast ohne mit den Lidern zu zucken, in das imponierende, für ihn so unaufschließbare, stets das Gefühl der Unzulänglichkeit in ihm erregende Gesicht auf der andern Seite des Tisches. Es war ihm nicht möglich zu tun, was unter so starkem moralischem Druck, obschon wortlos, von ihm verlangt wurde; er hätte es ja dann gestern schon tun können. Warum er es nicht getan und es überhaupt nicht vermochte, wußte er nicht. Da half kein Mut, kein Argument. Indem er dem Vater in befremdlicher, diesen aber anscheinend gar nicht weiter störender Weise ins Gesicht starrte, zerbrach er sich nur den Kopf darüber, wie er von dem Ausflug so schnell erfahren haben konnte (vom Ordinarius sicherlich nicht; Dr. Camill Raff hatte nicht die Gewohnheit, bei jeder Kleinigkeit Lärm zu schlagen; außerdem schonte er Etzel gern; die Rie hatte sein Heimkommen überhaupt nicht bemerkt), ferner, weshalb er ihm das Geständnis auf lauter Umwegen zu entlocken trachtete, statt einfach zu fragen und ihn zur Rede zu stellen. Das war ihm freilich nicht neu. Einfach war nichts in ihrem gegenseitigen Verhältnis; wenn er darüber nachdachte, wurden sogar die Gedanken verzwickt.

Hier muß ich aber, damit in die Beziehung zwischen Vater und Sohn einiges Licht fällt, zuerst erklären, was unter dem »obligaten Gespräch« zu verstehen ist.

2

Sie sahen einander nur im Hause. Herr von Andergast, beruflich bis zur Überlastung beansprucht, unternahm weder Spaziergänge noch besuchte er Theater und Konzerte. Er zeigte sich ungern in der Öffentlichkeit; außer mit einigen engeren Amtskollegen, zum Beispiel dem Landgerichtspräsidenten Sydow und dessen Familie, pflog er fast keinen gesellschaftlichen Verkehr. Geselligkeit war ihm kein Bedürfnis. Offizielle Veranstaltungen, denen er sich nicht entziehen konnte, empfand er als Last. Einmal im Monat besuchte er seine alte Mutter, die Generalin, wie sie kurz genannt wurde, in ihrem Landhaus draußen in Eschersheim. Die Sonn- und Feiertagsnachmittage waren dem Studium aufgesammelter Akten gewidmet.

Mit Etzel täglich zwei Stunden zu verbringen, war jedoch eine Lebenseinrichtung, genau wie das Aktenstudium. Das Programmatische daran, zugleich erzieherische Maßregel, zu verwischen, gehörte zu den gestellten Aufgaben. Es kamen nur die Abendstunden in Betracht. Während des Mittagessens, das ohnehin wegen amtlicher Verhinderung häufig entfiel, waren sie einander geradezu fremd. Die Miene Herrn von Andergasts war verschlossen, hinter der bemerkenswert geistreichen und schön modellierten Stirn haderten noch die Meinungen, die veilchenblauen Augen, in deren Tiefe eine unbewegliche, düstere Glut lag, blickten abweisend. Dazu kam, daß am Mittagessen auch Frau Rie teilnahm, und sosehr Herr von Andergast ihre Nützlichkeit als Vorsteherin des Haushalts anerkannte, so sehr langweilte sie ihn durch ihre »außerdienstliche« Gegenwart. Etzel ging es nicht viel besser mit ihr; er hatte sie gern, unterhielt sich gern mit ihr, aber nur, wenn er mit ihr allein war, in Gegenwart des Vaters und namentlich bei Tisch machte sie ihn nervös bis zum Haß. Sie saß so selbstzufrieden auf ihrem Stuhl, als spende sie sich im stillen ununterbrochen Lobsprüche über die Güte und das Zustandekommen der Mahlzeit nach so vielen Schwierigkeiten, die sie rücksichtsvoll verschwieg. Auch der Appetit, mit dem sie aß, war wie eine stumme Selbstanpreisung; und was sie sagte, war so banal wie die Sätze in einem Lesebuch für Töchterschulen.

Abends blieb sie in ihrem Zimmer. Wenn dann der Tisch abgeräumt war, zündete Herr von Andergast die Zigarre an und entspannte sich durch einen merkbaren Willensakt. Haltung und Miene lockerten sich, niemals bis zum unbeachteten Sichgehenlassen freilich, weit davon; die veilchenblauen Augen hatten aber die verkrochene Glut nicht mehr und erinnerten dann auffallend an die Augen eines naiven jungen Mädchens.

Gewöhnlich begann er mit unverfänglichen Fragen, plänkelte eine Weile, griff ein Thema auf, reizte Etzel zum Widerspruch, fand Vergnügen am Widerspruch, parierte mit fechterischer Gewandtheit, schützte das Überkommene und Bewährte vor verwegenen Reformgelüsten, machte Kompromißvorschläge, war nach hitziger Fehde bereit, eine umstürzlerische Ansicht in der Theorie gelten zu lassen; aber dabei ging es Etzel, obwohl er sich mit Feuer ins Zeug legte, ähnlich wie bei der Vorstellung von der »spielenden« Hand des Vaters, alles war nur wie Spiel, sarkastisches Spiel eines Partners, der aus seiner unvergleichlich stärkeren Position keinen Vorteil ziehen will. Er ist verdammt gescheit, dachte Etzel wütend und voll Hochachtung, man kann ihm nicht beikommen. In seinem naiven Jungeneifer geriet er immer an die Grenze, wo es keine andere Rettung gab als das Paradox, und in dieses stürzte er sich dann tollkühn und unter dem jesuitischen Bedauern seines mit allen Wassern gewaschenen Gegners. »Du bist nicht nur ein Kampfhahn«, sagte Herr von Andergast schließlich und schaute auf seine goldene Deckeluhr, »du steckst auch voller Finten und Schliche, bei dir muß man aufpassen.« Da gaffte Etzel erstaunt und argwöhnisch; gerade dieses Kompliment nicht verdient zu haben, war er sicher.

So oder ähnlich endete die Unterhaltung meistens, unverbindlich und in ein quälendes Vakuum laufend. Punkt halb zehn erhob sich Herr von Andergast mit einer Miene, die nicht mehr die geringste Beziehung zum letztgesprochenen Wort hatte; worauf sich Etzel in etwas alberner Überstürzung zur Tür wandte, die Klinke packte und sich mit dem vagen Lächeln eines Menschen verbeugte, der auf abgefeimte Manier überlistet worden ist. Ja, er kam sich geprellt vor, er konnte nicht sagen, warum, und jedesmal, wenn er aus dem Zimmer ging, fühlte er sich »entlassen«, ungefähr wie nach einem Verweis beim Rektor.

Mußte Herr von Andergast am Abend ausgehen, so erschien er spätnachmittags in Etzels Stube, setzte sich an den Tisch, an dem der Knabe seine Schularbeiten machte, bat ihn, ruhig fortzufahren, und schaute zu. Nach einiger Zeit wurde Etzel befangen, verlor den Faden und stockte. »Was arbeitest du?« fragte Herr von Andergast. Wenn es etwa das mathematische Exerzitium oder der Geschichtsaufsatz war, zeigte sich Herr von Andergast interessiert. Mit seiner überlegenen Rednergabe jedes Wort »bringend«, wie die Schauspieler sagen, pries er eines Tages die geistige Sauberkeit, zu der die Mathematik erziehe, den Zauber der Figur, der reinen Figur nämlich, für den sie empfänglich mache. Sie gewähre, behauptete er, lebendige Anschauung der Naturgesetze, und wie die Krönung einer Kuppel das anscheinend Auseinanderstrebende vereinige, könne sie die höchsten menschlichen Fähigkeiten verbinden und die gegensätzlichsten. Etzel hörte aufmerksam zu, sah aber aus wie ein störrisches Hündchen, das nicht gelaunt ist zu apportieren. Doch bei einer andern Gelegenheit, als der Vater mit ebenso sanfter Eindringlichkeit das Studium der Geschichtswissenschaft empfahl, ereiferte er sich trotzig und bestritt vor allem, daß es sich um eine Wissenschaft dabei handle. Mit demselben Recht könne man Aktenschreiben und Zeitunglesen eine Wissenschaft heißen. Wo sei da Erkenntnis? wo Gesetz? wo trete man auf festen Boden? Gedächtnislast sei es, Willkür, Nomenklatur, Chronologie, im besten Fall Roman. »Ei«, sagte Herr von Andergast und machte eine Geste wie ein Dirigent, wenn die Pauke zu laut wird.

Es waren dialektische Übungen im Grunde, und das Gebiet, auf dem sie sich abspielten, war von Herrn von Andergast genau umgrenzt. Etzel wußte, daß er die Grenze nicht überschreiten durfte. Die Person, die mit so viel Freundlichkeit seinen geistigen Erlebnissen lauschte, ja sie ihm entlockte, seinen oft unreifen, meist sehr entschiedenen, manchmal sehr leidenschaftlichen Gedankengängen folgte, hätte sich unbedingt in eine frostige Masse verwandelt, wenn er sich hätte beifallen lassen, über äußere Geschehnisse zu reden, über Tagesereignisse, die Beziehung zu einem Freund, einem Lehrer, oder gar Fragen zu stellen, die den Beruf, die private Existenz, die Vergangenheit des Vaters berührten. Wenn er dergleichen auch nur in der Andeutung wagte, heimlich gestachelt und wohl wissend, daß er scharf zurückgewiesen werden würde, erhob sich Herr von Andergast, runzelte die Stirn und sagte mit schräg abgleitendem Blick: »Wir wollen das zu einer passenderen Zeit erörtern.« Etzel hatte Ursache zu vermuten, daß er die untersten Grade jener Frostigkeit noch gar nicht zu spüren bekommen hatte; das sofortige Sinken der Temperatur bei der geringsten Entgleisung jagte ihm ohnehin Angst genug ein. In Momenten, wo er sich nicht beobachtet glaubte (sie waren noch seltener, als er vermutete, denn Herrn von Andergasts ganze Wesenheit war Auge und Sammeldienst des Auges), sah er den Vater an wie einen Turm, der keinen Zugang hat, keine Türen, keine Fenster, der nur gewaltig ragt und von unten bis oben Geheimnisse birgt. Seine tiefe Bewunderung war einer ebenso tiefen Furcht verschwistert. Als einziger Sohn, mutterlos, stand er ihm unerhört allein gegenüber. Dieses Gegenüberstehen wurde ihm durchaus zum Bild, und schickte er sich an, im Bilde, ihm entgegenzutreten, so wich der Vater um ebenso viele Schritte zurück; trat andererseits dieser auf ihn zu, so erfaßte ihn die Furcht und zwang ihn zur Vorsicht. Der Ruf seiner Strenge, seiner Unerbittlichkeit, seiner stählernen Grundsätze war schon früh zu ihm gedrungen, hieß man ihn doch im Volk den blutigen Andergast, sehr mit Unrecht freilich, denn ihn erfüllte bis in die Poren, bis zur Steinwerdung beinahe das Bewußtsein hoher Pflicht und hohen Amtes. Aber solche Worte sind ambulant wie giftige Bakterien, und kam es Etzel auch nicht ausdrücklich zu Ohren, so fühlte er doch den Widerhall, und seine Träume (da er mit wachen Sinnen die Augen davor verschloß und die Phantasie nicht daran rühren ließ) produzierten Gestalten wie aus dem Danteschen Höllenkreis – alles ist ja von Uranfang da im Menschen, auch das Niegesehene, Niegewußte –; der Vater stand dann in einer feurigen Lohe und hielt Gericht über die Scharen der Verdammten.

3

Herr von Andergast saß im Halbschatten, er konnte das volle elektrische Licht nicht vertragen, seine Augen entzündeten sich leicht davon; mit den Augen waren alle Andergasts nicht in Ordnung, die alte Generalin litt schon seit Jahrzehnten an einer Störung des Sehnervs. Vielleicht hatte das eine tiefere Bedeutung: wer bloß mit den Augen lebt, leidet durch die Augen. Hatte doch auch die intensive Veilchenbläue der Augen des Herrn von Andergast etwas Abnormes. Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen, der Oberkörper war fast zwangvoll gereckt, ebenso der lang-ovale Kopf mit der kahlen, wie poliert glänzenden Schädelwölbung und der bis auf einen Millimeter kurzgeschorenen eisengrauen Randbehaarung. In seiner thronenden Haltung und Halbabgekehrtheit war etwas, wodurch er Etzels Blick zu sich her spann; als spule er Fäden auf ein Weberschiff, zog er die Blicke des Sohnes her, schien es aber weder zu wissen noch zu wollen. Dem Knaben war die Silhouette des halbabgekehrt, mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzenden Vaters wie ein täglich gesehenes starres Emblem vertraut. In der Tat hatte er Ähnlichkeit mit einer ägyptischen Tempelfigur, wenn man ihn im Halbschatten flüchtig betrachtete. Vertrautwerden des Starren, darin liegt viel Unheil, Vertrautsein, das kein Lösendes und Aufschließendes hat. Die Scheu und die empfundene Entfernung blieben immer gleich, auch die doppelte Gefaßtheit: erstens auf das mögliche Sinken der Kältegrade, sodann auf die Minute, wo man »entlassen« wurde. Stets sah er mit der nämlichen Spannung in den Halbschatten hinüber, so wie heute spürte er jeden Abend ein banges Erstaunen über die athletische Figur, die starke Stirn, die starke, gerade Nase, die starken Lippen, den starken Hals, der durch den kurzgeschnittenen, sorgfältig gepflegten und schon ergrauten Spitzbart nur zum Teil verdeckt wurde. Über seine Person war ein undefinierbarer Hauch von Melancholie gebreitet, eine verdunkelnde Unzufriedenheit, wie sie Menschen eigen ist, die nicht der von ihnen geglaubten Bestimmung leben können und, abgelenkt von dem Ziel, das sie sich einst vorgenommen haben, ein Einst, an welches sie sich nur wie an eine Phantasmagorie erinnern, ihre Enttäuschung hinter einem Panzer von Stolz und Unnahbarkeit vor den Blicken der Welt sichern. Was ihnen vor sich selber Wert verleiht und worin sie sich mit jeder Erfahrung, jeder Enttäuschung befestigen, ist das Gefühl der Isolierung. Indem sie sich schließlich darin verlieren, werden sie so fremd, so unerratbar, so abseitig, daß es scheint, als gebe es die Sprache nicht mehr, in der man sich mit ihnen verständigen kann. Das war Etzels vorherrschende Empfindung oft; es ist schrecklich weit bis zu ihm, dachte er, wenn man endlich da ist, macht einen die Müdigkeit vollkommen dumm. Eine etwas übersteigerte Sensitivität vermutlich, aber es war doch so viel Zusammenhang und Anziehung vorhanden, daß das Scheidende und Abstoßende zehnfach quälend wurde. So wie heute hatte er selten darunter gelitten. Ein paarmal war er nahe daran, aufzuspringen und unter dem Vorwand von Kopfschmerz das Zimmer zu verlassen.

Schwer zu sagen, was Herrn von Andergast bewog, sich so eingehend mit Etzels gestrigem Vormittagsabenteuer zu befassen. (Wirklich, er sprach von einem »Abenteuer«, so wenig die Bezeichnung auf die simple Schulschwänzerei und das planlose Herumirren im Regen paßte.) Ein Rechtsanwalt hatte Etzel auf der Station in Oberursel gesehen und hatte es Herrn von Andergast heute früh beiläufig erzählt, das war die platte Erklärung seiner rätselhaften Wissenschaft. Zufall, und den nützte er nun in seiner Weise aus. Ob ihn psychologische Neugier dazu trieb oder die Befürchtung, daß dies nur der Beginn einer Reihe von Eigenmächtigkeiten und Versäumnissen war, läßt sich bei seiner unendlich komplizierten Denkungsart nicht entscheiden. Selbständige Handlungen mußten so lange wie möglich unterbunden werden; aber wie und mit welchen Mitteln? Es war ja der Geist, der zu zähmen war, der gefährlichste Explosivstoff der Welt. Er erkannte allmählich, erstens, daß das kunstvolle System der Distanzierung fehlerhaft war, zweitens, daß es sich auch tückisch an ihm selber rächte, denn da nach so ausschließlicher Frequenz nur noch die Umwege gangbar waren, hätten die verrammelten direkten ein lächerliches Übermaß von Zeit gekostet. Gefangenenwärter haben ihren Berufsehrgeiz. Sie fühlen sich nicht bloß verantwortlich für den Häftling, sondern auch für das Haus, die Mauer, das Gitter, die Tür, das Schloß und die Schlüssel. Zuletzt hat der Hüter selber keine Freiheit mehr.

Seine sonore Stimme füllte den Raum. Sie hatte unter allen Umständen etwas Zwingendes. Die Langsamkeit des Wortfalls (Schrankensprache nannte es einer seiner Feinde) wurzelte in dem Bestreben, für jeden Gedanken die prägnanteste Form zu finden. Dies machte bisweilen den Eindruck der Selbstgefälligkeit, aber er war nicht selbstgefällig, es war nur ein bis in den Blutgang dringendes Überlegenheitsbewußtsein, das sich im Verkehr mit den Menschen als trockene Pedanterie oder konsequente Sachlichkeit äußerte. Hierin war er außerordentlich deutsch, will heißen nach dem modernsten Begriff davon. Fast alle begabten Redner haben die Neigung, ihre Zuhörer als Unmündige zu betrachten; aber niemals ist das weniger berechtigt als bei einem Unmündigen. Je mehr Mühe er aufwandte, je ärgerlicher spürte er, wie seine Worte zerstäubten. Keinen Widerstand zu erfahren, war der unbesiegbarste Widerstand. Was verfocht er eigentlich? Wogegen predigte er? Verschiedenes lag in der Luft, außer dem Taunus-»Abenteuer« noch die Briefgeschichte und die Begegnung mit dem idiotischen Alten auf der Treppe. Er spürte latente Fragen, die sich nicht herantrauten; wünschte aber keineswegs, daß sie gestellt würden. Am Abend vorher hatte Etzel gewagt, die Berechtigung eines Urteiles in einem politischen Prozeß anzuzweifeln, ungewöhnliche Kühnheit, Durchbruch des herrschenden Zeremoniells. Die Kameraden hatten sich über den Fall ereifert, Etzel berichtete es; soweit er die Sache überblicken konnte, schien es, daß Schuld und Strafe in einem krassen Mißverhältnis standen, die Schuld geringfügig, die Strafe unmenschlich. Auf dieses Gespräch, das er gestern brüsk abgebrochen, griff Herr von Andergast heute zurück. Es sei vom Übel, wenn ein Rechtsfall zum Redefutter der Straße gemacht werde. Es sei verhängnisvoll, Recht und Gefühl zu verquicken, und heiße, das Unbedingte ins Joch des Ungefährs spannen. Das Recht sei eine Idee, keine Angelegenheit des Herzens; das Gesetz kein beliebig zu modelndes Übereinkommen zwischen Parteien, sondern heilig-ewige Form. Wahr und unantastbar gültig, seit es Richter gibt, die Schuldige verdammen, und Gesetzbücher, die Verbrechen nach Paragraphen ordnen. Und doch, was flammt so leugnerisch, so unglaubend aus den Augen des Knaben herüber? Ewige Form das Gesetz? Er rückt unruhig auf seinem Stuhl und beißt verlegen auf den Fingerknöchel. Er hat etwas raunen hören, daß der Staat eine rechte und eine linke Hand habe und zweierlei Maß, eins für die eine, eins für die andere, und mehrerlei Waagen und für jede Waage mehrerlei Gewichte. Wie verhielt es sich damit? Das fragte er nicht laut, das fragten seine Augen. Im übrigen hatte er ja nicht am »Recht als Idee« gezweifelt, sondern an der Gerechtigkeit eines aktuellen Spruchs, und mit seinem Herzen hatte das schon gar nichts zu schaffen, sondern lediglich mit seinem Denkvermögen und seiner Urteilsfähigkeit. Hier bist du mal gründlich aufgesessen, lieber Vater, aber schweigen wir darüber, sagten seine Augen.

Vielleicht versteht Herr von Andergast die stumme Sprache, die aus dem Sechzehnjährigen nur echot und den leugnerischen, unglaubenden Geist seiner Generation vermittelt, einen Geist, krank von Krankem, entfesselt von Entfesseltem. Es war Anfall aufgesammelten Zorns, der ihn zu dem taktischen Mißgriff verleitet hatte. Umsonst Beweis, Beispiel, Erklärung. Finsternis wird nicht dadurch Licht, daß man Gründe gegen sie mobilisiert. Licht kann Blinde nicht überzeugen, Verblendete nicht treffen. Das Neue, von dem sie fabeln, auf das sie pochen, wo ist es? In ihnen selbst, sagen sie. Es gibt kein Neues, es gibt kein Altes. Der Mensch, sein Weg, seine Geburt, sein Tod, alles dasselbe seit sechstausend, seit sechzigtausend Jahren, Fabelei der Zeitbeschränkten, jedes Lustrum zur Epoche zu machen; je weniger sie selber sind, je mehr erwarten sie von der Zeit: der uralte Strom treibt auch ihre Klappermühlen, und sie bilden sich ein, sie hätten seinen Lauf verändert, weil in seinen Wassern auch ihr Rad sich dreht.

Er glaubte selbst hier noch überlegen zu sein und zu »spielen«, wo er mit seinem Despotismus im Begriffe war zu scheitern. Natürlich war er darauf gefaßt, in seinem Sohn eines Tages den anders geprägten Menschen gelten lassen zu müssen; vielleicht trat die andere Prägung deshalb so früh hervor, weil er in seiner gefrorenen Skepsis so gut und schon so lange darauf vorbereitet war; Furcht erzeugt das Gefürchtete. Aber es war nicht der Despotismus des Vaters, der eine Niederlage erlitt, es war der des Beamten. Herrn von Andergast war der Dienst Berufung, der Beruf Sendung. Er war der Beauftragte eines absoluten Herrn, dessen Interessen er vertrat, in dessen Namen er wirkte und dessen asiatische Machtvollkommenheiten durch Lockerung der Regierungsformen nicht beeinträchtigt werden konnten. Der Herr, verschwand er auch als wirkliche Person vom Schauplatz, als Symbol blieb er bestehen. Und Symbol war auch der Diener, als Diener hatte er keine Geschichte, kein Vorleben, kein Privatleben. Jede menschliche Bindung war der amtlichen gegenüber von untergeordneter Bedeutung. Unwandelbarkeit ist das Prinzip, das ihn trägt, seine Zeit ist alle Zeit, der religiöse Glaube an die Hierarchie, der er angehört, macht ihn zum Mönch, zum Asketen, unter Umständen zum Fanatiker. Es hieß von Herrn von Andergast, wenigstens rühmten es seine Kollegen an ihm, daß sein starker Tatsachensinn bei den schwierigsten und dunkelsten Rechtsfällen Triumphe gefeiert und ihm das autoritative Ansehen verschafft hatte, das durch keine Umwälzung, keine Neuerung in der Verwaltung erschüttert worden war. Begreiflich. Warum sollte jemand von außen erschüttert werden, der so unerschütterlich in sich selber ruht?

4

Es war halb zehn geworden. Herr von Andergast zog die goldene Deckeluhr. Etzel erhob sich. Er machte seine Verbeugung, sagte gute Nacht und wandte sich mit der gewohnten Fluchtgebärde zur Tür. Dort zögerte er. Er blickte gegen die Wand und fragte schnell und scheu: »Wer ist denn dieser Maurizius, Vater?«

Herr von Andergast blieb auf der Schwelle seines Arbeitszimmers stehen. »Wozu willst du das wissen;« fragte er zurück und maß den Sohn mit kaltem Blick.

»Nur so . . .«, erwiderte Etzel, »es ist, weil . . .« Er stockte.

Er hatte auch die Rie gefragt. Sie hatte nachgedacht und den Kopf geschüttelt. Er nahm sich in diesem Augenblick vor, noch andere Leute zu fragen, so viel Leute wie möglich, vor allem die Großmutter, bei der er, wie jeden Sonntag, übermorgen zu Mittag essen sollte. Er entsann sich, daß der Mann mit der Kapitänsmütze seinen Namen mit einer Art von Berühmtheitsbewußtsein genannt hatte, ungefähr, wie wenn einer sagen würde: ich heiße Bismarck, wennschon nicht triumphierend, sondern verbissen. Der Ton lag ihm noch im Ohr.

»Es ist keinesfalls ein Gegenstand, über den wir beide uns unterhalten können«, sagte Herr von Andergast und ragte als unzugänglicher Turm in der Wolke der Frostigkeit.

»Ich möchte ihr mal schreiben«, murmelte Etzel, als er in seiner Stube auf und ab ging. Er sah eine Wiese vor sich, darüber einen waldbedeckten Hügel, darüber die untergehende Sonne; die Erde war gebogen wie der Rücken eines Riesen. In seiner Kehle juckte es.

Er setzte sich hin und schrieb auf ein Blatt, das er aus einem der Schulhefte gerissen hatte: »Es geht vieles vor, ich denke viel über alles nach. Gräßlich, daß ich Dich nicht mal kenne. Wo bist Du eigentlich? Es kann sein, daß ich mich eines Tages auf die Eisenbahn setze und zu Dir hinfahre. In den Ferien vielleicht. Du lachst vielleicht über den Schulbubenplan. Natürlich, wenn ich von dem Vorsatz was verlauten ließe, wär's aus. Warum? frag ich. Es sind überhaupt eine Menge Fragen zu beantworten. Ein Mensch in meinem Alter ist wie an Händen und Füßen mit Stricken gebunden. Wer weiß, wenn die Stricke mal zerschnitten werden, ist man am Ende schon lahm und zahm! Das ist wohl der Zweck. Zahm soll man werden. Haben sie Dich auch zahm gemacht? Kannst Du mir nicht sagen, was ich tun soll, damit wir uns sehen können? Ich tue, was Du willst, nur muß es geheim bleiben. Du verstehst. Er erfährt immer alles. Dieser Brief muß unbedingt geheim bleiben. Ich werde ja älter mit der Zeit. Es ist aber zum Verzweifeln, wie langsam es geht. Es wird ihnen nicht gelingen, mit dem Zahmmachen. Weißt Du, wie ich den Brief im Vorzimmer sah, war's, als hätte der Blitz in mein Hirn eingeschlagen. Gern möcht ich wissen, was da los ist. Du verstehst mich schon. Ich habe das Gefühl, daß man Dir ein Unrecht zugefügt hat. Stimmt das? Ich muß Dir überhaupt sagen, was man so tagtäglich von Ungerechtigkeiten hört, ist ganz schauderhaft. Du mußt wissen, daß mir Ungerechtigkeit das Allerentsetzlichste auf der Welt ist. Ich kann Dir gar nicht schildern, wie mir zumut ist, wenn ich Ungerechtigkeit erlebe, an mir oder an andern, ganz gleich. Es geht mir durch und durch. Leib und Seele tun mir weh, es ist, als hätte man mir den Mund voll Sand geschüttet und ich müßte auf der Stelle ersticken . . .«

Er hielt inne. Mißbilligend nahm er wahr, daß er an sich selber schrieb oder an eine erdachte Person, nicht an eine wirkliche. Er konnte ja die Epistel nicht einmal abschicken. Er hatte keine Adresse. Er hatte versäumt, die Rückseite des Briefs, der aus Genf kam, anzuschauen. Ferner war zu befürchten, daß der Vater wie von allen seinen Handlungen auch davon Kenntnis erhielt. Als Kind hatte er sich eingebildet, daß der Vater im Mittelpunkt des Weltalls saß und sämtliche Sünden und Vergehungen aller Leute in der Stadt mit einem Marmorgriffel auf eine Marmortafel verzeichnete. Reste dieses Glaubens waren noch in ihm vorhanden, noch jetzt formten sich bisweilen innere Szenen, imaginäre Gespräche daraus. Gebietend stand der Vater im Zimmer. Als Zauberer hatte er die Macht, durch geschlossene Türen zu gehen. In seiner Eigenschaft als Zauberer hatte ihm Etzel den Namen Trismegistos gegeben. Immer, wenn er sich den Vater in einer strafenden Aktion dachte, hieß er ihn so. Der Dialog vollzog sich ungefähr, wie folgt: Trismegistos: Wo bist du, Etzel; – Hier bin ich. – Warum verbirgst du dich vor mir; – Ich verberge mich nicht, ich habe nur die Maske vom Gesicht genommen. – Wie, du erdreistest dich, ohne Maske vor mir zu erscheinen? – Wenn einer allein ist, Vater, braucht er doch keine Maske. – Aber ich sehe in dich hinein, ich bin überrascht, ich bin sehr überrascht, ich wünschte, ich hätte dich nicht ohne Maske erblickt.

Er faltete den Brief zusammen, steckte ihn in einen Umschlag, schrieb darauf: »An meine Mutter, ich weiß nicht wo«, und schob ihn in ein Geheimfach, das er sich in der Schublade seines Arbeitstisches selbst angefertigt hatte und worin noch andere Papiere lagen, Notizen, Aufzeichnungen, Gedichte und als besondere Kostbarkeit zwei Briefe, die er von Melchior Ghisels erhalten hatte. Dann saß er, das Kinn auf beide Hände, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Er hätte längst zu Bett gehen sollen, doch in seiner Brust war eine nicht zu beschwichtigende Unruhe. Von der Straße herauf tönte ein langer, schriller Pfiff. Der Regen rauschte auf die Bäume. Er sprang auf, ging herum, blieb dann vor dem Bücherregal stehen. Jedes einzelne Buch war ein Freund. Er hatte sie nach und nach von seinem Taschengeld gekauft oder sie sich von der Großmutter schenken lassen, manche hatte ihm auch der Vater geschenkt. Den ersten Platz nahmen die Schriften seines geliebten Melchior Ghisels ein, vier schöngebundene Bände mit eigenhändiger Widmung des Autors. Dieser war ihm wie ein Gott und jeder Satz in den Büchern eine Offenbarung. So kann nur ein Sechzehnjähriger einen Schriftsteller verehren. So reine Glut hegt nur der unentfachte Geist. Die Bewunderung, mit der Etzel an dem Mann und seinem Werk hing, war zugleich voll Zärtlichkeit. Ghisels, ein Autor von Kierkegaardscher Tiefe, war ihm Prophet und Führer. Oft las er vor dem Einschlafen eine halbe Seite, ganz langsam, mit atemloser Andacht, ein schon zehnmal gelesenes Kapitel, dann verlöschte er schnell das Licht und lächelte in den Schlummer hinein. Er kannte Ghisels persönlich nicht. Er hatte ihm einmal geschrieben, als er ihn um die Inschrift bat, und ein zweites Mal, sehr schüchtern, um ihn über den Sinn einer schwierigen Stelle in einem schönen Aufsatz über die Lebensalter zu befragen. Der Buchhändler Thielemann, Roberts Vater, hatte ihm die Adresse gegeben; seit er wußte, daß Ghisels in Berlin lebte, war Berlin ein heiliges Lhasa für ihn. Er war eifersüchtig auf Melchior Ghisels, wie man auf einen Juwelenschatz eifersüchtig sein kann, und es erfüllte ihn mit Genugtuung, daß seine Schriften nur von wenigen gekannt waren. Lärmender Ruhm, den zu erringen die Werke freilich wenig Eignung besaßen, hätte ihn vielleicht ernüchtert. Camill Raff hatte ihm dieses Reich hoher Gedanken als erster erschlossen; im vorigen Sommer, als er krank gewesen, hatte ihn Dr. Raff besucht und ein Buch von Ghisels mitgebracht, aus dem er ihm einen ganzen Nachmittag lang vorlas.

Er nahm eines von Ghisels' Büchern vom Ständer, legte sich damit bäuchlings auf die Erde, schlug das Buch auf und begann zu lesen. Nur so, bäuchlings auf dem Boden, war er fähig, sich ganz beim Lesen zu sammeln. Allein nach einer Weile hörte die Hand auf, die Blätter umzuschlagen, die Stirn sank auf den Oberarm, die Beine streckten sich, er schlief. Erst um zwei Uhr nachts erwachte er wieder, sah sich verstört um, sprang in die Höhe, streifte hastig die Kleider vom Leib, drehte den Lichtschalter ab und schlüpfte geräuschlos ins Bett. Den Kopf schon in die Kissen gegraben, murmelte er etwas Bestürztes und Entschuldigendes vor sich hin und streckte wie ein zehnjähriger Fratz in verschlafener Beschämung gegen sich selber die Zunge heraus.

5

Die Generalin Andergast gehörte zu der aussterbenden Gattung weiblicher Originale. Sie war eine Frau von dreiundsiebzig Jahren, der man aber ihr Alter nicht ansah. Sie war von kleiner Gestalt, äußerst beweglich, sogar ein bißchen fahrig, hatte lebhafte Züge, geschwinde, neugierig glänzende Augen, über denen sie, wenn sie allein war, ihres Gebrechens wegen einen grünen Papierschirm trug, und die helle, frische Stimme eines jungen Mädchens. Sie war schon seit zwanzig Jahren Witwe, nach dem Tode ihres Mannes, der ein böser Tyrann und Hypochonder gewesen war, hatte sie begonnen zu leben und hatte große Reisen gemacht, war in Syrien und in Indien gewesen und mehrere Monate bei einer verheirateten Kusine in Südamerika. Sie hatte Weltverstand und versprengte künstlerische Neigungen, ihre Lieblingsbeschäftigung war die Malerei; trotz ihrer leidenden Augen verbrachte sie jeden Tag eine Stunde in ihrem Atelier und malte mit hingebender Geduld Bilder im Stil der französischen Impressionisten, geschmackvoll und bescheiden. Wenn jemand von ihren Bildern sprach oder sie zu sehen verlangte, errötete sie wie ein Backfisch und lenkte die Unterhaltung schnell auf ein anderes Thema. Mit ihrem Sohn, dem Oberstaatsanwalt, vertrug sie sich nicht gut. Er war ihr zu herrschsüchtig und erinnerte sie dadurch unangenehm an ihren verstorbenen Gatten; da er ihre Ungezwungenheit im Verkehr, ihre nachlässige Geldwirtschaft und ihren völligen Verzicht auf matronenhafte Würde sichtlich, wenn auch stumm, mißbilligte, hatte sie immer Angst vor ihm und atmete erleichtert auf, wenn er sich mit zeremoniösem Handkuß verabschiedet hatte. »Ich kann nicht alle Tage vor der sittlichen Weltordnung erscheinen und Rechenschaft ablegen, dazu bin ich ein zu fehlerhaftes und furchtsames Wesen«, seufzte sie, wenn er ihr ehrerbietig mit seiner sanftesten Stimme eine Übereilung, einen gesellschaftlichen Verstoß zum Vorwurf machte. Seit der Scheidung von seiner Frau war sie ihm übrigens in tieferem Sinne gram als wegen seiner Förmlichkeit und freudlosen Grundsätze. Es war niemals zwischen ihnen zur Aussprache gekommen, aber Herr von Andergast täuschte sich nicht darüber und notierte es zensorhaft, wenn man sich mit ihm und seinem Tun nicht schrankenlos einverstanden erklärte. Die Generalin verzieh ihm die Härte nicht, mit der er die Frau, die Mutter seines Kindes, zum seelischen Tod verurteilt hatte. Die Nachrichten, die man über sie erhielt, sprachen von einem langsamen Hinsiechen, dem sie in der Fremde verfallen war. Alle Macht war in seiner Hand; er hatte sich der Macht bis zum Äußersten bedient, natürlich unter gewissenhafter Beobachtung des Gesetzes, das auf seiner Seite war. Ob die Generalin für Sophia von Andergast vor der Scheidung irgendwelche Sympathie gehegt, steht dahin, nachher jedenfalls und als sie schon längst die Stadt verlassen hatte, sprach sie mit unverhohlenem Mitgefühl von ihr, ja, eines Tages ging sie so weit, sich im Salon einer ihrer Bekannten über die Grausamkeit zu entrüsten, die darin lag, eine Mutter von jeglicher Verbindung mit ihrem Kind abzuschneiden und eine so erbarmungslose Maßregel unabänderlich, unappellabel zu machen. Die Anwesenden wußten nicht, wohin sie schauen sollten, es war ein kleiner Skandal, hervorgerufen allerdings durch die taktlose Bemerkung eines jungen Referendars, der, entweder aus schäbigem Servilismus oder weil er ein geborener Strammsteher war, die »Schneidigkeit« des Herrn von Andergast nicht genug rühmen konnte. Natürlich war von der Affäre manches in die Öffentlichkeit gedrungen und hatte zu dem üblichen Geklatsch Anlaß gegeben. Besonders über den Ausdruck »Schneidigkeit« geriet die Generalin vor Zorn fast außer sich; nachdem sie in aufrechter Haltung und mit blitzenden Augen ihre Meinung gesagt, raffte sie ihren Schal und ihr Täschchen zusammen und verließ eilig die verdutzte Versammlung, die sich lange Zeit nicht schlüssig werden konnte, ob man die alte Dame wegen ihres moralischen Mutes beloben oder wegen ihrer Verschrobenheit belächeln sollte. Zwei Tage später machte Herr von Andergast seiner Mutter einen Besuch. Ohne daß von dieser Szene oder von einer sonstigen Äußerung oder von der Scheidung oder von Sophia die Rede war, erhielt er von der Generalin nach kurzer Auseinandersetzung das feierliche Versprechen, daß sie vor ihrem Enkel Etzel niemals den Namen seiner Mutter erwähnen und über deren Existenz unbedingtes Schweigen bewahren werde. Es war ein Triumph seiner Taktik. Er hatte sie bei dieser Gelegenheit dermaßen eingeschüchtert, daß sie das Versprechen bis zum heutigen Tage nicht gebrochen hatte, so schwer es ihr auch manchmal gefallen war, wenn der bezaubernde Junge zu ihren Füßen saß und vertrauensvoll plauderte und fragte.

Etzel als Sonntagsgast bedeutete: schöngedeckter Tisch in wohldurchheiztem Zimmer. Für sich allein machte die Generalin keine Umstände; manchmal vergaß sie überhaupt zu essen, gegen Abend verspürte sie dann Hunger und schickte das Mädchen, das sie statt zum Kochen dazu verwendet hatte, von der Leinwand ihrer alten Bilder die Farbe abzukratzen, über die Straße nach ein paar belegten Brötchen, die sie im unermüdlichen Herumtrippeln unter leisen Monologen und Geträller verzehrte. Für Etzel war die Großmutter eine reizvolle Erscheinung. Sie hatte nach seiner Ansicht mehr »Geheimnis« in sich als die Mehrzahl der Menschen, mit denen er in Berührung kam. Was er Geheimnis nannte, war ihm ein Wertmesser für Menschen. Jeder, auch der Geringste, der Langweiligste, hatte etwas Verborgenes und schlechthin Unerforschliches, das im selben Augenblick zu wirken begann, wo er aus Etzels Gesichtskreis entschwand. Er grübelte dann darüber nach: was tut er jetzt, seinem »Geheimnis« überlassen! Besonders gab ihm das Alleinsein der Menschen zu denken. Wie benahm sich der oder der, wenn er allein war, wie sah er aus? Man konnte es nie erfahren, schon das Auge, das ihn sah, hob den rätselhaften Zustand auf, indem es ihn sah. Von Trismegistos zum Beispiel machte sich Etzel das Bild, daß er mit einem Zirkel große Kreise auf einem Zeichenblatt zog; und die Kreisflächen mit Ziffern bedeckte. Von der Großmutter konnte er sich vorstellen, daß sie, die Gesetze der Schwere und der Statik verspottend, auf dem Plafond herumging, mit den Füßen nach oben, oder, wenn sie im Freien und natürlich von keinem Auge beobachtet war, wie ein Luftballon zierlich emporschwebte. Das war eben ihr »Geheimnis«, das Unerforschliche an ihr.

6

Gegen Ende der Mahlzeit rückte Etzel mit der Frage heraus, die er an die Großmutter stellen wollte. Er hatte den Mann mit der Kapitänsmütze seither nicht wiedergesehen, aber seine Gedanken beschäftigten sich deshalb nicht weniger häufig mit ihm. Es war nur nicht anzunehmen, daß gerade Großmutter den Namen kannte. Verwechselte sie doch die meisten Namen, sogar die von Familien, bei denen sie verkehrte, wodurch sie schon viel Verwirrung angerichtet hatte. Weit entfernt, es als eine schädliche Schwäche zu betrachten, lachte sie sich halbtot, wenn es ihr passierte, wenn sie Geschlechter, Standespersonen und Berühmtheiten verschiedener Kategorien durcheinanderbrachte. Das Mädchen, das seit vierzehn Jahren bei ihr bedienstet war und das Nanny hieß, rief sie jeden Tag anders, Bertha, Elise, Babett, wie es ihr in den Sinn schoß, denn sie war immer das Geschöpf der Sekunde und band sich in liebenswürdiger Felonie an kein Abkommen. Trotzdem richtete Etzel die Frage an sie, und um sich den Anschein der Gleichgültigkeit der Erkundigung, den Anschein der Unwichtigkeit zu geben, musterte er mit erheuchelter Neugier das silberne Salzfaß, als wäre es ein Schiff, dem er sich für eine weite Reise anvertrauen wollte.

Maurizius – der Name klang der Generalin nicht unbekannt. Sie legte das Dessertmesser hin, stemmte die Arme auf die Hüften und blickte mit emporgezogener Stirn, was ihrem Gesicht einen etwas törichten Ausdruck gab, ebenfalls auf das Salzfaß. Es war ein Name, aus dem Dunkelheit emporstieg. Wenn man ihn nannte oder hörte, wehte einem eine modrige Kälte entgegen, wie wenn eine Kellertür geöffnet wird. Unheil wurde in die Erinnerung gerufen, versunkene Gesichte gewannen wieder Umrisse und erweckten automatisch das Grauen, mit dem sie einst über der Stadt, der Provinz, ja über dem ganzen Land gelastet hatten. Es war, wie wenn ein versickerter Sumpf durch einen unvorsichtigen Spatenstich seine giftig schillernden Wässer wieder an die Oberfläche quirlen läßt. »Was geht dich das an, Junge?« fragte sie unwillig, »was hast du damit zu schaffen? Wie kommst du auf den Namen? Die Geschichte ist schon nicht mehr wahr, so lang ist es her. Viele Jahre sind darüber weggegangen. Wie kommst du darauf?« Etzel sah, welchen Eindruck der Name auf die Generalin gemacht hatte. »Was ist es denn?« flüsterte er und rieb mechanisch die Flächen seiner zwischen die Knie gesteckten Hände gegeneinander. »Erzähl mir doch, Großmama, was das war, ich erzähl dir dann auch, warum ich's wissen will.« – »Unmöglich, es zu erzählen«, versicherte die Generalin. Sie hat ihm ja gesagt, es ist viele Jahre her. »Wart mal, laß mich nachrechnen. Dein Großvater war bereits tot. Es muß im Trauerjahr gewesen sein, vielleicht etwas später. Nicht sehr viel später, denn anderthalb Jahre nach seinem Tode bin ich in den Orient gefahren. Also achtzehn Jahre, zwei Jahre, eh du auf die Welt kamst. Wie soll ich dir da heute noch davon erzählen können, nach mehr als achtzehn Jahren? Was interessiert dich denn so an der Sache?« Statt zu antworten fragte Etzel nach einer Weile mit noch leiserer Stimme: »War der Vater dabei im Spiel? Im Spiel ist natürlich ein dummer Ausdruck, Großmama, du weißt schon, was ich meine.« Ängstlich heftete sich sein Blick auf das in einen Ozeandampfer verwandelte Salzfaß, das sich indessen gleichsam dem Molo genähert hatte, bereit, die Passagiere aufzunehmen. »Dein Vater? Ja . . . ich denke . . .«, war die zögernde Erwiderung, die einen kleinen boshaften Unterton hatte; »ich denke doch; er war damals noch Staatsanwalt, und mir kommt vor, die Geschichte hat ihn erst so richtig hochgebracht. Da irr ich mich wohl kaum, das ist ziemlich sicher, er hat sich damals gewaltig ausgezeichnet, ohne ihn wär der Maurizius am Ende gar noch straflos davongekommen.« Sie schwieg, nestelte an ihrer Ärmelkrause und lachte ein bißchen verlegen; sie sah in diesem Augenblick dem um siebenundfünfzig Jahre jüngeren Enkel außerordentlich ähnlich.

Aber Etzel drängte und drängte. Mit einer sublimierten Schlauheit gab er sich die Miene, wie wenn die glühende Wißbegier, die sein ganzes Wesen durchflutete, entfacht von einer Erscheinung, zustrebend einem bang geahnten Ziel, wie wenn die bloß eine gewöhnliche Bubenneugier wäre. Er rückte seinen Stuhl näher zur Generalin, ergriff ihre Hand und legte sie an seine Wange. Dabei bettelte er mit Mund und Auge. Die Generalin schüttelte verwundert den Kopf. »Hör mal, Junge, du bist ja total verdreht«, zankte sie, »mir scheint, du warst in der letzten Zeit heimlich im Kino und hast dich mit den Scheußlichkeiten dort um den Verstand gebracht. Es soll ja Jungens geben, die davon ganz wild werden. Übrigens, unter uns, ich geh auch manchmal hin, verrat mich aber nicht. Na, schau mich nicht so verzweifelt an, ich überlege eben, was ich noch von der Sache weiß. Beim besten Willen kann ich mich nicht mehr auf alles besinnen. So ein altes Gehirn ist ein Sieb mit großen Löchern. Ich will nicht nachforschen, woher dein Interesse stammt; es könnte mich am Ende nicht freuen. Also schön, es war eine schreckliche Affäre. Die Leute redeten wochenlang von nichts anderem. Um das Für und Wider erhitzten sie sich in allen Wirtshäusern und Klubs. Es gab Volksaufläufe; an dem Tag, wo das Todesurteil verkündet wurde, mußte Militär ausrücken. Ich war zu der Zeit in Homburg drüben, ich erinnere mich noch, der Arzt verbot mir, die Zeitungen zu lesen. Auch nachdem der Prozeß längst beendigt und Maurizius, wie hieß er denn nur mit Vornamen?, hab's vergessen, und Maurizius zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt war, kam die Geschichte nicht zur Ruhe. Viele glaubten steif und fest an seine Unschuld. Vielleicht bloß, weil er selber bis zum letzten Atemzug seine Unschuld beteuert hatte. Dazu kam, daß er kein gemeiner Verbrecher war. Nein, das war er nicht. Ein Mann der Wissenschaft, manche behaupteten, eine Kapazität in seinem Fach. Manche wieder sagten, ein Windbeutel. Immerhin hatte er es trotz seiner Jugend, ich glaube, er war noch nicht sechsundzwanzig, als Kunsthistoriker schon zu Stellung und Ansehen gebracht. Ich hab sogar ein kleines Buch gehabt, das er verfaßt hatte. Ich muß es mal heraussuchen, es liegt sicher in einer von den Kisten auf dem Dachboden. Jetzt erinner ich mich auch an den Titel: Über den Einfluß der Religion auf die bildende Kunst des neunzehnten Jahrhunderts. Hat mich interessiert damals; Religion, Kunst, darüber wurde doch in allen Salons gequatscht. Wer sollte solch einen Mann für einen Meuchelmörder halten! Ich konnt es nie recht glauben, daß er dazu fähig war. Die eigene Frau aus dem Hinterhalt in den Rücken schießen. Und unter was für Umständen! Eine verworrene Geschichte. Eine gottverlassene, jammervolle Geschichte, von der ich natürlich keinen Dau mehr behalten habe. Ich weiß nur, daß alles gegen ihn war, Menschen und Sachen. Alles zeugte gegen ihn, Menschen, Sachen, Raum und Zeit. Ein lückenloser Indizienbeweis, wie die Juristen es nennen. Das Zustandekommen dieses Beweises war das eigentliche Verdienst deines Vaters, dessen entsinn ich mich noch gut. Er war sehr stolz auf sein Werk, jung und ehrgeizig, wie er war. Ein Glockengießer kann nicht stolzer sein, wenn ihm ein schwieriger Guß gelungen ist. Er hatte gewiß alle Ursache dazu; ich stell mir vor, daß so was noch heikler ist als Glockengießen. Der alte Geheimrat Demme, der eben kein Esel war, sagte mir mal: ›Ein sauberer Indizienbeweis ist für den Kriminalisten, was die richtige Berechnung einer Kometenbahn für den Astronomen ist.‹ Das begreif ich. Bis man so weit gelangt, daß eine Tat wahrer redet als der Mensch, der sie getan hat, das ist nichts Kleines . . .«

Etzel saß da und schaute. Der Mann mit der Kapitänsmütze wurde immer rätselhafter. Da er unmöglich der Maurizius sein konnte, der verurteilt war, sein Leben hinter Kerkermauern zu verbringen, so handelte es sich darum, zu erfahren, in welchem Zusammenhang er mit diesem stand. Was wollte er von ihm, was stellte er sich ihm in den Weg, musterte ihn mit bösen Schielaugen? Hatte er einen Auftrag? Eine Botschaft? Was für eine Botschaft? Wollte er ihn vielleicht als Mittler gewinnen beim Trismegistos? Zum Spion machen gegen Trismegistos? Schaurige Sache. Wenn irgendwo, da war Geheimnis. Man mußte aufpassen. Man mußte bereit sein. Jedes kleinste Zeichen war von Wichtigkeit. Während er so saß und sann, überzogen sich seine Wangen mit einer Blässe, die sie schimmernd machten wie Perlmutter. Es erzitterte etwas in der Tiefe seines Wesens, und er duckte die Schultern wie unter einem drohenden Schlag.

»Was ist mit dir, Junge?« forschte die Generalin strengen Tons. »Du gefällst mir seit einiger Zeit nicht mehr.« Sie erhob sich elastisch, gab Etzel einen Klaps auf die Backe, und als er aufstand, schob sie ihren Arm unter seinen und ging mit ihm ins Wohnzimmer. Dort zündete sie sich eine Zigarette an, reichte auch Etzel eine, und zwar so selbstverständlich, als sei er ihr Hausfreund und teile alle ihre Gewohnheiten, dann hakte sie sich abermals in ihn ein und wanderte in dem riesigen Raum mit ihm auf und ab. »Jetzt beichte mal«, fing sie an; »was ist los? Warum siehst du aus, wie wenn dir die Hühner das Brot weggeschnappt hätten? Hapert's in der Schule? Vorigen Herbst hast du ja noch Aussicht auf den Primus gehabt. Ehrlich gesagt, darauf leg ich wenig Wert. Aus Musterschülern werden keine Mustermenschen, Sitzfleisch macht nicht Genie. Genie ist Fleiß, sagen die Deutschen. Das könnte ihnen so passen. Ich halte was von dir, du bist mein einziger Enkel, ich bin deine einzige Ahnin; hättest du ein halbes Dutzend Geschwister, so würd ich mir vielleicht einen andern unter euch aussuchen als gerade dich, denn du bist mir ein wenig zu verschlagen und ein wenig zu verdöst. Man muß viel da drinnen haben (sie deutete auf ihre Brust), wenn man so viel dahinten hat (sie zwickte ihn am Ohrläppchen). Na, ganz egal, ich hab dich trotzdem lieb, nur wird mir manchmal angst und bang, wenn ich dich anseh.«

Sie ist eine herrliche Frau, dachte Etzel. Er lächelte zu ihr hinüber (sie waren beide fast gleich groß), blieb mit einem Ruck stehen und fragte, noch mit einem Rest jenes Lächelns, um die Bedeutung der Frage abzuschwächen: »Du, Großmama, sag mir: Wo ist meine Mutter und warum weiß ich nichts von ihr?«

Es wäre vergebliche Mühe, die komplizierte Gedankenreihe aufdecken zu wollen, die ihn zu solch gewalttätigem Einbruch in den Seelenfrieden der Generalin veranlaßte. Vielleicht ging sie von dem Mann mit der Kapitänsmütze aus und dem Bezirk, an dessen Peripherie er sich seit der Erzählung der Generalin bewegte; vielleicht war es ein natürlicher Vorgang, und es zeigte sich, auf natürliche Weise, einer von den Pfeilern, über die seine Schicksalsbrücke lief. Jedenfalls war die Generalin erstarrt vor Schrecken und fand ihn wieder einmal außerordentlich frech. Dann wurde ihre Miene höchst ärgerlich. Entschieden mißbrauchte er ihre Langmut. Nur um sie zu peinigen, hat er einen ganzen Zettelkasten mit Fragen vorbereitet. Nichts ist ihr so verhaßt, als wenn man ihr fortwährend Fragen ins Gesicht knallt. Heute das, morgen das, übermorgen ein drittes, ihretwegen; aber auf einmal das ganze Bombardement, das geht über die Hutschnur. Abgesehen davon, sie hat zu kopiös gegessen, sie muß der Ruhe pflegen, sie darf nach Tisch nicht so viel schwatzen, sie hat dann Beklemmungen und kann nachts nicht schlafen. Etzelein ist ein netter Junge und geht jetzt nach Hause. Schönen Gruß an den Vater. Empfehlungen an die Rie. Adieu. Damit schob sie ihn, überbeweglich, überberedt, ins Vorzimmer, nahm seinen Kopf zwischen ihre feinen, kühlen Hände, küßte ihn mit komisch gespitzten Lippen auf die Stirn und auf die Augen und schlug die Tür schallend hinter ihm zu.


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