Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

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6

Herr von Andergast stand auf und ging zum Fenster. Indem er die Zigarette auf dem Sims zerdrückte, überlegte er sein ferneres Verhalten. Er fühlte sich verwirrt und bis zu einem gewissen Grad sogar hilflos. Mit gutgespielter Bekümmertheit sagte er: »So kommen wir nicht weiter. Sie haben sich festgelegt, was natürlich zu erwarten war. Ich beabsichtige nicht, den Herren Pastoren den Rang abzulaufen. Es wäre ein verkehrtes Beginnen, wie die Dinge liegen. Da mein Besuch, wie schon bemerkt, inoffiziell ist, erlaube ich mir auch nicht, Ihre Äußerungen anzuzweifeln. Ich könnte sonst antworten: Eine Fiktion, mit der man sich entschlossen hat zu leben, ist ein Tyrann, der verlernt hat zu sehen und zu hören. Aber lassen wir das. Ich dachte an Verständigung.« Er schwieg einige Sekunden, um den Eindruck seiner Worte zu prüfen, jedoch Maurizius rührte sich nicht und erwiderte nichts. Deshalb fuhr er fort, und seiner Stimme war anzuhören, daß er stark irritiert war: »Bezüglich unserer Rechtshandhabung befinden Sie sich übrigens im Irrtum. Wie die meisten Laien. Daß der Schuldbeweis vom Richter erbracht wird, ist im Gesetz ausdrücklich vorgeschrieben. Jeder gilt so lange für unschuldig, als seine Schuld nicht einwandfrei festgestellt ist. Das ist einer unserer fundamentalen Rechtsgrundsätze, es gibt kein Gericht, das ihn außer acht ließe.«

Maurizius hob ein wenig den Kopf. Haltung und Miene waren voll stummer Ironie. Er lächelte. Vielleicht über die juristisch gewundene Form der Belehrung mit »bezüglich« und »Handhabung«, vielleicht über den dozierenden Ton, mit dem eine Anstalt in Schutz genommen wurde, die ihr blutloses Scheinleben außer in verstaubten Pandekten nur noch in den Köpfen von Männern führte, die aus Buchstaben Begriffe zusammenleimten, mit denen sie dann eine gespenstische Symbiose eingingen. Er sagte achselzuckend: »Geschrieben steht es. Nicht zu leugnen. Manches steht geschrieben. Wollen Sie aber behaupten, daß es auch geschieht? Wo? wann? von wem? an wem? Hoffentlich glauben Sie nicht, daß ich nur von mir aus, von meinem Schicksal aus schließe. Ich komme da gar nicht in Betracht. Meine Fiktion, na ja. Halten Sie die wirklich für einen Erblindungs- und Ertaubungsprozeß? Es muß ein Trost für Sie sein, sich zu sagen, daß mich die sogenannte Fiktion achtzehneinhalb Jahre verhindert hat, mir darüber klarzuwerden, was rings um mich vorging und vorgeht. In dieser Welt da. In einer solchen Welt.« Er hatte völlig leidenschaftslos gesprochen, eher mit erschöpfter Kälte als heftig, doch hatte er sich erhoben und war einen Schritt vorgetreten. In einer solchen Welt; es klang wie aus dem Erdinnern, aus totaler Finsternis, gleichwohl ohne Anstrengung, weil dem Ruf infolge millionenfacher Wiederholung keine Hoffnung auf Gehörtwerden mehr innewohnte. Während er beide Mittelfinger ineinanderhakte wie Kettenglieder, eine Bewegung, die habituell zu sein schien und aus einsamen Grübeleien stammte, starrten seine kaffeebraunen Augen ununterbrochen auf das Kinn des Herrn von Andergast, nicht höher als auf das Kinn, was Herrn von Andergast außerordentlich unbehaglich war, so ungefähr, als ob ein zu niedriges Maß an ihn angelegt werde. »Wie gesagt, ich sehe ab von meinen persönlichen Umständen«, begann Maurizius wieder. »Für mich selbstverständlich ist mein Schicksal genau so wichtig wie das ganze Sonnensystem, als Erfahrung ist es trotzdem nur vereinzelt. Aber ich habe nicht bloß die eigene Erfahrung gehabt, ich habe tausend gehabt. Von tausend Richtern hab ich gehört, tausend hab ich vor mir gesehn, von Tausenden das Werk betrachten können, und es ist immer ein und derselbe. Von vornherein der Feind. Die Tat nimmt er für vollgetan, den Menschen in seinem Mindesten. Der Ankläger ist sein Gott, der Angeklagte sein Opfer, die Strafe sein Ziel. Ist es so weit mit einem gekommen, daß er vor dem Richter steht, so ist er erledigt. Warum? Weil der Richter mit Acht und Bann vorgreift. Mit Unglauben, mit Hohn, mit Verachtung, mit Besudelung. Ist sein Opfer nicht willfährig, so setzt er es unter einen moralischen Druck, der mit Brandmarkung endet. Das Urteil ist dann nur das Tüpfelchen aufs i. Es ist ein Geschäft. Es ist ein Virtuosenstück. Das Gesetz fordert von ihm die balancierte Waage, jawohl, er aber wirft alle seine Gewichte in die Schale, wo die Tat liegt, ohne zu zaudern. Wer hat ihn ermächtigt, den Täter mit der Tat in eins zu verkörpern, und was befugt ihn, den Täter nicht bloß zu verdammen, gut, mag er verdammen, es ist sein Amt, vielleicht; vielleicht ist es sein Amt, aber sich an ihm zu rächen? Richter! Das hatte einmal einen hohen Sinn. Den höchsten in der menschlichen Gemeinschaft. Ich habe Leute gekannt, die mir erzählten, daß sie bei jedem Verhör dasselbe schreckliche Gefühl in den Hoden hatten, das man verspürt, wenn man plötzlich vor einem tiefen Abgrund steht. Jedes Inquisitorium beruht auf einer Ausnützung von taktischen Vorteilen, die man sich meistens auf ebenso unredliche Weise verschafft hat, wie die Ausflüchte des in die Enge getriebenen Opfers unredlich sind. Doch Richter und Staatsanwalt erheben dabei den Anspruch auf Allwissenheit, und ihre Allwissenheit in Abrede stellen heißt ihre Rachsucht bis zur Hoffnungslosigkeit entfesseln, so daß nur der Heuchler, der Zyniker und der vollkommen Zerbrochene noch Gnade vor ihnen finden. Wo ist also der gerechte Ausgleich? Wo der Schutz, den Ihr Gesetz verlangt? Das Gesetz ist ja nur noch ein Vorwand für die grausamen Einrichtungen, die in seinem Namen geschaffen werden, und wie soll man sich einem Richter beugen, der aus dem schuldigen Menschen ein mißhandeltes Tier macht? Das Tier heult, es rast und beißt, denen draußen schaudert, und sie sagen: Gott sei Dank, daß wir von ihm erlöst sind. Es ist eine furchtbare Sache, die Art, wie sie erlöst werden, das sehen sie ein, manche wenigstens, doch es läßt sich nicht ändern, behaupten sie. Es läuft eben darauf hinaus, daß die, die im Himmel leben, nichts von der Hölle ahnen, und wenn man ihnen tagelang davon erzählt. Da versagt alle Phantasie. Nur der kann sie begreifen, der drinnen ist.«

»Sie gehen scharf ins Zeug«, sagte Herr von Andergast mit leisem Überdruß im Ton. »Die Folgen, die ein Verbrechen in der Seele des Verbrechers nach sich zieht, können für die Gesamtheit keinen Vorwurf bilden. Die Gerechtigkeit einer Strafe ermißt sich weder nach ihrer subjektiven Ertragbarkeit noch nach dem Verhalten der Organe, die sie diktieren. Schließlich wird jede menschliche Institution durch ihre Träger aus der Sphäre der Idee in die der unvollkommenen Übung herabgezogen, wir haben möglichste Annäherung zu suchen, das ist alles. Das dazwischenliegende Leiden, auch das erbarmungswürdigste, rechtfertigt vielleicht die Auflehnung, kann aber den Bau nicht erschüttern. Da Sie nicht erwarten können, daß ich mich auf Ihre Seite schlage, verlieren Sie Ihre Zeit mit solchen Entladungen. Vielmehr, Sie verlieren meine Zeit, und das ist in diesem Fall bedauerlicher.« Maurizius verzog spöttisch die Lippen. Seine Miene drückte aus: Ich weiß, daß Worte vergeblich sind, wozu das alles? Gleichwohl war etwas Erregendes um den Mann am Fenster. Er mußte immerfort hinschauen, nicht eine Sekunde wagte er den Blick in eine andre Richtung zu lenken. Die Stimme, die von dorther kam, klang wie durch ein Megaphon, was natürlich auf einer Täuschung seiner krankhaft gereizten, krankhaft zum Lauschen erzogenen Sinne beruhte, denn Herr von Andergast sprach verhalten und auf den engen Raum Bedacht nehmend, wenn auch mit einer Kühle, die durch die Bemühung, wohlwollend zu erscheinen, nur spürbarer wurde. »Was wollen Sie also?« fragte Maurizius rauh und senkte den Kopf auf die Brust, wie fast alle Sträflinge tun, wenn sie einen Beschluß ihrer Vorgesetzten entgegennehmen wollen. Herr von Andergast erwiderte lebhaft, als sei er förmlich befreit durch die Frage: »Ich will es Ihnen sagen. Sowenig mich Ihre theoretischen Erörterungen interessieren, so sehr interessiert mich alles Ihre Person Betreffende. Um offen zu sein: Ich habe mich in den letzten Wochen ziemlich ausgiebig mit Ihrem Fall beschäftigt. Ich hatte natürlich ein ganz bestimmtes Bild von Ihnen. Ich hatte damals Gelegenheit genug, Sie zu beobachten und meine Wahrnehmungen zu fixieren. Das neuerliche Studium der Akten hat das Bild in keinem wesentlichen Zug verändert. Nun, ich komme hierher und sehe einen Mann, der nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem Maurizius von neunzehnhundertfünf und -sechs hat. Die Ursache wollen wir nicht untersuchen. Die verflossene Zeit dürfte ich als Faktor erst in Rechnung stellen, wenn ich wüßte, was sich an mir selbst verändert hat. Nehmen Sie also an, daß auch ich mit dem Staatsanwalt Andergast von damals wenig Ähnlichkeit mehr habe. Wissen möchte ich nur, ob Sie Ihr eigenes Bild in der Erinnerung bewahrt haben und wie sich das Bild in Ihnen zur Wirklichkeit verhält. Ich möchte auch wissen, wie sich etwa der fünfzehnjährige, der sechzehnjährige Leonhart Maurizius im heutigen spiegelt oder was zwischen denen zweien der fünfundzwanzigjährige für den sechzehnjährigen fühlt. Ja, das würde ich gern erfahren. Daraus ließe sich meines Erachtens manches Dienliche folgern. Es wäre eine entwicklungsgeschichtliche Aufklärung.«

Maurizius horchte auf. Warum sagt er »manches Dienliche«? fuhr es ihm zunächst durch den Kopf; wie rückhältig, wie undeutbar er sich ausdrückt. Der Mann am Fenster wurde ihm immer unheimlicher. Plötzlich schaute er mitten in ihn hinein. Er gewahrte eine Mischung von Selbstgefühl und Unsicherheit, von Autokratismus und Schwäche, von Uneinnehmbarkeit und widerwilligem, dumpfem Entgegenstreben, die ihn äußerst betroffen machte. Menschen wie er besitzen eine Sensibilität von ganz anderer Schärfe als die durch beständigen Umgang abgeschliffenen, die Atmosphäre allein vermittelt ihnen die verstecktesten Geheimnisse. Er dachte eine Weile nach. »Es gab damals einen berühmten, französischen Roman, Peints par eux-mêmes«, sagte er dann, »Waremme brachte ihn uns. Wir lasen ihn. Wir, das heißt ich und . . . aber das tut nichts zur Sache. Ich erinnere mich, es war sehr hübsch geschildert, wie sich die Figuren in Briefen kreuzweis selbst decouvrierten. Ohne es eigentlich zu wollen, alles Geschehen fügt sich dann wie gezahnte Räder, ein Laster greift in eine Tugend, Ränkesucht treibt Feigheit vorwärts. Es ist gewöhnlich so. Der beste Spiegel ist, wo einer sich selbst verrät, während er einen andern ins Netz lockt. Entschuldigen Sie mein Gerede, ich muß immer an so vieles zugleich denken. Wenn ich anfange zu sprechen, schießen nach allen Himmelsrichtungen die Gedanken auseinander wie aufgejagte Tauben. Was Sie verlangen, ist wirklich überraschend für mich. Sie haben so umwegige Hilfsmittel zur Kenntnis meiner Person doch nicht nötig. Damals zum mindesten holten Sie alles Wissenswerte über mich aus dem Leben heraus, aus den Tatsachen, das übrige war wundervolle Kombination. Mich selber konnten Sie dabei leicht entbehren, im Gegenteil, ich hätte Sie bloß gestört bei der Arbeit.« Der ätzende Sarkasmus in diesen Worten veranlaßte Herrn von Andergast zu einem hochmütigen Aufwerfen des Kopfes. Doch da Maurizius noch mit gesenkter Stirn vor ihm stand, blieb das Warnungssignal unbeachtet, und jener fuhr fort: »Es gibt ein Porträt von mir mit sechsundzwanzig Jahren, das ich Ihnen genau nachzeichnen kann und das Sie bestimmt wiedererkennen werden, denn es stammt von Ihnen selbst. Es wurde am einundzwanzigsten August neunzehnhundertsechs im Gerichtssaal . . . soll ich sagen aufgestellt? ausgestellt? Doch es waren ja Worte. Wollen Sie hören? Hören Sie: Ein Mann von hoher geistiger Spannkraft und vollendeter Bildung, mit dem denkbar geringsten Widerstand ausgeliefert den Verführungen einer Epoche der Fäulnis und des drohenden moralischen Zusammenbruchs. Achten wir auf die Zeichen, meine Herren Geschworenen. Das Individuum täusche uns nicht über das Symptom, das singuläre Verbrechen nicht über die weit gefährlichere Strömung, die es trägt und der Sie einen wirksamen Damm entgegenzusetzen haben. Selten gibt sich die Gelegenheit so günstig, in einem charakteristischen Repräsentanten das ganze Verhängnis einer Zeit, die Krankheit einer Nation, ja eines Erdteils zu treffen und durch eine entschlossene Operation, wenn auch nicht zu heilen, so doch ihre Ausbreitung vorsorglich zu verhindern . . . Bin ich genau? Ich glaube, ich bin's. Es fehlt gewissermaßen kein Komma. Aber das war nur der Rahmen. Furchtbarer das eigentliche Gesicht. Sie wundern sich wahrscheinlich über mein tadellos funktionierendes Gedächtnis. Es wird wenige geben, sagen Sie sich wahrscheinlich, die imstande sind, eine gesprochene Hinrichtung nach so langer Zeit Silbe für Silbe zu wiederholen. Nach so langer Zeit. Ja. Wenn mir jemand versicherte, es seien achtzehn Jahrhunderte statt achtzehn Jahre, ich würde um des Unterschieds willen kaum mit ihm streiten. Das sind verloschene Vorstellungen: Monate . . ., Jahre . . ., es spielt keine Rolle. Nun, früher, als man mir alle Bücher vorenthielt und ich, besonders in Winternächten, wo um sechs Uhr abends finster gemacht wird, bis zwei, drei, vier in der Nacht dalag und in der Vergangenheit herumgrub wie in einem eingestürzten Haus, gab ich mir Mühe, die Rede nicht zu vergessen, hätt ich doch jedes Wort niederschreiben können, als sie gehalten war, auf mein Gedächtnis könnt ich mich mehr verlassen als auf irgend etwas. Wenn ich aufgesagt hatte, was ich aus dem Shakespeare und aus Goethe auswendig wußte, dann kam die Rede. Also weiter: Wir müssen klarsehen. Der Zweck fordert von uns die stärkste Anstrengung unseres inneren Auges. Es darf über die menschliche Erscheinung des Angeklagten nicht der geringste psychologische Zweifel in uns bleiben, und ohne Anmaßung, lediglich im Gefühl meiner unabweisbaren Pflicht behaupte ich, daß ich jeden derartigen Zweifel in Ihnen zu lösen vermag, denn den Schlüssel zu dem Bezirk, der möglicherweise noch nicht vollkommen erhellt vor Ihnen liegt, habe ich von dem Wesen, der Gesinnung, dem sittlichen Werdegang des Schuldigen selbst empfangen. Treulosigkeit und Unverantwortlichkeit, das sind die Hebel seiner Handlungen. Jene stürzt ihn in den Irrgarten seiner Wollüste, und es wird wohl auch ein Garten der Qualen gewesen sein, nehme ich zur Ehre der menschlichen Natur an, diese hebt ihn aus allen Bindungen der Gesellschaft, der Familie, der gültigen Ordnung. Genuß ist die Fanfare, die ihn bezaubert und betäubt, den Genuß bezahlt er mit allem, was er erarbeitet, was er erworben hat, mit allem, was er geworden ist, mit seinem Herzen, seiner Vernunft, mit den Herzen derer, die ihn liebten, mit seinen Idealen, mit seiner Zukunft, und als er endlich zahlungsunfähig dasteht, wird er zum Mörder. Wir wollen nicht die ehrlich Ringenden in diesem Land beleidigen und entmutigen, so billig, so bereitwillig geuden nur die mit dem Hochgut des Geistes, die als Abenteurer in sein Gebiet eingebrochen sind und ihre Eitelkeiten zum Tausch setzen gegen den bewährten Schatz, den arglose Hüter ihnen preisgegeben. Jede Bestrebung zum Edlen ist ihm eine Sprosse auf der Leiter seines Ehrgeizes, unter seinen frivolen Händen wird das Heiligste zur Münze, mit der er sich falschen Anwert kauft. Die Wissenschaft ist ihm nur ein Karneval, auf dem er sich in einer vertrauenerweckenden Maske tummelt, nichts wird ihm zum Ernst, nichts zum tieferen Sinn, und als er die Ehe mit der sittlich unendlich hoch über ihm stehenden Frau schließt, zerschellt er an dem reinen Metall ihres Charakters wie ein poröser Stein. Dies ist ihm im Wege, die Scham vor ihr ist ihm im Wege, der latente Vorwurf, den sie für ihn bildet, zermürbt sein Selbstgefühl, der Anblick ihres Schmerzes, als sie erkennen muß, daß ihr Werk um ihn vergebens ist, der Kampf um seine Seele mit ihrer Niederlage endet, vergiftet sein Blut. Die bösen Schwächlinge, die mit einem glänzenden Firnis in der Welt auftreten, wollen nicht durchschaut werden, sie wollen als die geheimnisvollen, die verführerischen Komödianten genommen werden, die sie in ihren eigenen selbstverliebten Augen sind, so kam es, wie es eben kam. Es war dem unglücklichen Weib bestimmt, von ihm vernichtet zu werden, es lag in der Konstellation, physisch und sozial, und er hätte sich ihrer entledigt, auch wenn ihn seine trostlosen, materiellen Umstände nicht zu dem schauerlichen, letzten Mittel hätten greifen lassen, auch wenn ihm die wahnwitzige, die aussichtslose Leidenschaft für die Schwester nicht den Rest von Besinnung und Ehre geraubt hätte . . .« Maurizius schöpfte Atem. Seine Schläfen waren mit kleinen Schweißperlen bedeckt. »Ich zitiere doch recht?« fragte er mit einer Art süßlicher Höflichkeit und schief zur Seite gekehrtem Gesicht. »Es war eine kühne Wendung, ein meisterhafter Griff, die Antriebe dort bloßzulegen, wo sie für die Männer aus dem Volk am unzulänglichsten waren. Daß Sie ihnen einen so hohen Standpunkt anboten, schmeichelte ihnen, machte sie willfährig. Bis dahin hatten sie geglaubt, diese . . . diese Leidenschaft sei das alleinige Motiv gewesen. Jetzt sahen sie etwas viel Teuflischeres, den vom Schicksal auserwählten Mörder sahen sie jetzt. Eine fertige Sache, man brauchte gar nicht darüber nachzudenken. Sie kamen dann noch auf Gott zu sprechen, nicht wahr? Sie hatten das Bedürfnis, die einzelnen Teile des Scheusals noch einmal zusammenzufassen, die Desorganisation der Seele, so nannten Sie es, philosophisch nachzuweisen. Wohin steuern wir mit solcher Mannschaft an Bord, riefen Sie aus, und mit Beziehung auf einen gewissen Aberglauben der Seeleute prophezeiten Sie dem Schiff den Zorn des Himmels, wenn das faule Glied nicht ausgeschieden würde. Gott hat ihn verworfen, sagten Sie, warum sollen wir ihn schonen? Sehr gewagt, so was zu behaupten. Sie konnten doch unmöglich mit Sicherheit wissen, ob ich wirklich von Gott verworfen war. Aber unter dem Eindruck Ihrer herrlichen Rednerkunst ging es wie bei den Kindern in der Schule, wenn eines unter ihnen gezüchtigt wird, sie machen so brave und folgsame Gesichter, als ob sie lauter makellose Engel wären. Förmlich erleichtert sind sie von dem Strafgericht.«

Maurizius ließ sich wieder auf dem Eisenbett nieder, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf derart in die Hände, daß Stirn und Augen verdeckt waren. So verkrochen und verbogen blieb er sitzen. Herr von Andergast, gegen das Fensterkreuz gelehnt, die Arme verschränkt, betrachtete ihn mit karger Neugier, hinter der sich ein furchtähnliches Gefühl verbarg. Die fast wortgetreue Wiedergabe einer vor einem halben Menschenalter gehaltenen Rede flößte ihm Erstaunen ein, doch das Seltsame dabei war, daß nichts an der Rede ihm, dem Autor, vertraut oder nur bekannt vorkam, obwohl er mit ziemlicher Sicherheit beurteilen konnte, daß Maurizius sie nicht verzerrt und entstellt hatte, sondern daß sie ihn wie etwas Fremdes, etwas unsympathisch, ja widerwärtig Fremdes berührte, übertrieben, voll phrasenhafter Rhetorik und spielerisch in den Antithesen. Während er auf den zusammengebückten Sträfling niederschaute, wuchs die Abneigung gegen die eigene, eben aus anderm Mund vernommene Suada bis zu körperlichem Ekel, so daß er schließlich sogar mit einem Brechreiz zu kämpfen hatte und die Zähne konvulsivisch aufeinanderbiß. Es war, als kröchen die Worte wie Würmer an der Mauer entlang, schleimig, farblos, lemurisch häßlich. Wenn alle Leistung so vergänglich und im Vergänglichen so fragwürdig war, wie sollte man da bestehn? Wenn eine Wahrheit, für die man einstmals vor Gott und Menschen eingestanden, nach irgendwelcher Zeit zur Fratze werden konnte, wie sah es dann überhaupt mit der »Wahrheit« aus? Oder war nur in ihm selbst etwas morsch, das Gefüge seines Ich geborsten? Wie bedrohlich, wie verdächtig, wie zweideutig dann dies Hiersein, das ganze Gespräch. Es war wie ein hinterlistiger Versuch, sich selber in den Rücken zu fallen. Er zog die Uhr, ließ den Deckel springen: fünf Minuten nach vier. Doch der Gedanke, seinen Hut zu nehmen, sich mit beamtenhafter Würde zu verabschieden und unverrichteterdinge nach Hause zurückzukehren, erschien ihm vollkommen unsinnig.

Er stand da, mit verschränkten Armen, und wartete.

7

»Sie haben ganz recht«, sagte Maurizius endlich, unter seinen aufgestellten Armen hervor, von denen die Ärmel der Drillichjacke herabgeglitten waren, »es war ein feiner Einfall von Ihnen, mich daran zu erinnern, daß ich auch einmal sechzehn Jahre alt war. Daran hab ich schon lange nicht mehr gedacht. Auch damit haben Sie zweifellos recht, daß man das Produkt seiner Generation ist, das wird mir erst klar, wenn ich mir einen Leonhart Maurizius vorstelle, wie er mit sechzehn beschaffen war. Alles, wodurch man sich von ihm zu unterscheiden glaubt, ist so gering, wie ein Baumblatt-Individuum vom andern unterschieden ist. Jede Generation ist eine Gattung für sich, gehört einem andern Baum an. Ich möchte wissen, wie die Sechzehnjährigen von heute sind. Kennen Sie welche? Nun, Sie werden mir wohl kaum was darüber mitteilen wollen. Es ist ein tragisches Alter. Die große Wasserscheide des Lebens. Da hängt oft von einem einzigen Erlebnis die ganze Zukunft ab. Es vergehen Jahre, man hat es vergessen, plötzlich taucht es auf, und man sieht, daß man dadurch in eine bestimmte Bahn gelenkt worden ist. In der Sekunda des Gymnasiums beredeten mich mal ein paar Kameraden, mit ihnen ins Bordell zu gehen. Ich war bis dahin unberührt gewesen, wußte kaum, was ein Weib ist, während die andern bereits ihre Erfahrungen hatten, manche sprachen von der Liebe und von Frauen wie abgetakelte Lebemänner. Ich ging mit, weil ich mich genierte, meine Unschuld zu gestehen, infolgedessen tat ich besonders frech und unternehmend. In dem Haus führte mich ein Mädchen auf ihre Kammer, ich folgte ihr wie ein Opferlamm; als wir allein waren, fiel ich vor ihr auf die Knie und bat sie, mir nichts zuleide zu tun; erst lachte sie sich halbtot, dann schien sie sich zu erbarmen, zog mich auf ihren Schoß, war sehr zärtlich und fing an zu weinen. Das schnitt mir ins Herz, ich fragte sie, wie sie in das Haus gekommen sei; sie erzählte mir ihre Geschichte, einen von den sentimentalen Romanen, wie sie fast alle Prostituierten allen Neulingen und gelegentlich auch andern vertrauensseligen Kunden auftischen und die offenbar dutzendweise erfunden und verbreitet werden, weil sich die Wirkung so oft bewährt. Ich glaubte natürlich jedes Wort, war heiß vor Mitleid und Empörung, und sie redete sich in ihre Dichtung so hinein, daß sie förmlich in Rührung zerschmolz. Nicht bloß gab ich ihr alles Geld, das ich bei mir hatte, ich schwor auch, sie aus diesem Jammer zu befreien und ihr eine menschenwürdige Existenz zu verschaffen. Es gelang mir, von meinem Vater eine größere Summe zu erhalten, hundertzwanzig oder hundertdreißig Mark, wenn ich mich recht erinnere, damit kaufte ich das Mädchen los, mietete ein Zimmer in der Vorstadt und brachte sie hin. Ich besuchte sie jeden Tag, jede freie Stunde widmete ich ihr, mein ganzes Taschengeld stellte ich ihr zur Verfügung, wählte passende Bücher für sie aus, meist hoch-literarische, las ihr vor, unterhielt mich mit ihr über das, was sie selber gelesen hatte, und bildete mir in meiner Torheit ein, ich könne sie erziehen, veredeln, der menschlichen Gesellschaft geläutert zurückgeben. Sie war übrigens ein nettes Ding, ziemlich hübsch, sehr jung noch und sicher nicht schlecht. Es herrschte keinerlei sinnliche Beziehung zwischen uns, ich war darin so streng, daß ich es vermied, ihre Hand zu berühren, nicht etwa weil sie mir gleichgültig war, o nein, ich war sicher, sie zu lieben, und ich wollte sie überzeugen, daß es eine ›reine Liebe‹ war. Immer wieder sprach ich ihr von der ›reinen Liebe‹, sie hörte mir geduldig zu, ich dachte, es sei eine Offenbarung für sie, indessen, das braucht ja kaum erwähnt zu werden, machte sie sich über den dummen Buben lustig und langweilte sich zum Sterben. Ich sehe noch jetzt die finstere Souterrainstube, vor den Fenstern erblickte man die Beine der Vorübergehenden, nebenan war eine Schreinerwerkstatt, und man hörte das Kreischen des Hobels. Sie saß im Sofawinkel und schaute mich mit leerem Staunen an, dessen Sinn ich nicht begriff, oder sie lächelte schlau, und ich wußte das Lächeln nicht zu deuten, ich war von nichts erfüllt als von meiner schwärmerischen Illusion. Na, um zu Ende zu kommen, eines Tages erfuhr ich, daß sie ihr altes Gewerbe ganz unbekümmert weiterbetrieb und, während ich an meinen Seelenrettungsträumen spann, Nacht für Nacht Männerbesuche empfing. Es dauerte lange, bis ich mich von dem Schlag erholt hatte. In Wahrheit erholt man sich von so was vielleicht nie. Schön, das war der Sechzehnjährige. Der Romantiker Maurizius. Noch nicht der Satan, den Sie zehn Jahre später gemalt haben. Romantiker pur sang, ohne Bruch. Ernsthaft und schmerzlich. Doch es ist das: Über meine Jugend war ein Theaterhimmel ausgespannt. Die um achtzehnhundertachtzig Geborenen waren als junge Menschen in einer üblen Lage. Vom Haus und von der Schule bekam man alles mit, was man für das bürgerliche und für das sogenannte höhere Leben brauchte, die Grundsätze und die Ideale, die Monatsrente, wer die nicht hatte, zählte erst gar nicht mit, und die Bildung. Aber es war alles löcherig und fadenscheinig, nur die Rente, die war was Festes, das übrige war Talmi und billige Imitation, von den Weihnachts- und Hochzeitsgeschenken bis zur Begeisterung für Antike und Renaissance, vom studentischen Komment und den patriotischen Feiern bis zu ›Thron und Altar‹. Ich spürte das nicht so, ich war kein Rebell, ich hatte zuviel Freude am Leben, ich gab mir übers Allgemeine keine Rechenschaft, aber auf irgendeine Weise spürt man's doch, da man ja ein zugehöriger Teil ist, nur war in jenen Jahren alles selbstisch vereinzelt, und wer nicht entschlossen mit seiner Umgebung und dem Herkommen brach, solche waren ja auch da, der wurde langsam eingesponnen und zugedeckt, er mußte nur sehen, daß er sich dann mit seinen finstern Stunden abfand. Da war dann freilich das Leben entsetzlich abgewelkt, eine dunkle Spannung beherrschte einen, es war, als hätte man sich die Seele vermauern lassen und hätte nichts zum Entgelt dafür bekommen als das bißchen schäbige Karriere und die paar Freunde, an die man sich mit allen Herzenskräften klammerte. Das Edelkorn war in die eigene Natur so zufällig hineingesprengt, ohne Zusammenhang, das war dann ›romantisch‹, eine Kategorie für sich, eine Religion beinahe, und man konnte ›romantisch‹ sein und dabei recht wenig Gewissen haben. Ich weiß noch, daß ich mit neunzehn Jahren von einer Tristanaufführung als seliger neuer Mensch nach Hause ging und zu Hause meinem Vater zwanzig Mark aus der Kommode stahl. Beides war möglich. Immer war beides möglich. Daß man einem Mädchen heilig schwor, sie zu heiraten, um sie kurz darauf niederträchtig ihrem Schicksal zu überlassen, und daß man in feierlicher Stimmung Buddhas Leben und Worte in sich aufnahm. Daß man einen armen Schneidermeister um seinen Lohn prellte und vor einer Raffaelschen Madonna in Verzückung stand. Daß man sich im Theater von Hauptmanns Webern erschüttern ließ und mit Genugtuung in der Zeitung las, daß auf die Streikenden im Ruhrgebiet geschossen wurde. Beides. Immer war beides möglich. Romantik. Romantik ohne Boden und ohne Ziel. Da haben Sie noch ein Porträt. Selbstporträt. Finden Sie, daß es schmeichelhafter ist als Ihres; Es hat nur das Versöhnliche, daß es in jedem Fall wie gesagt zwei Möglichkeiten zuläßt. Ihres ist grausam unverrückbar, es läßt nur eine zu.«

Angesichts dieses leidenschaftlich bohrenden Bekenntnisdrangs, der einen ganzen Lebensinhalt zum Strömen brachte, wie wenn ein Stauwehr bricht und das Wasser über die Ufer spült, überkam Herrn von Andergast auf einmal eine Regung feiger Scheu, die Angst vor einer Wahrheit, die zu suchen man sich eingeredet hat und die nicht zu finden dabei die stille Hoffnung ist. Derlei Geistesverfassungen sind nicht allzu selten. Sie sind das Miniaturbild der Epochen, in denen »beides möglich ist«, wie der Sträfling Maurizius es formuliert hatte, nur ging er vermutlich darin irre, daß er sie ausschließlich für die Epoche seiner Generation in Anspruch nahm. Oder war es nur Ausfluß des hintergründigen Sarkasmus, den Herr von Andergast bereits mit soviel Unbehagen verspürt hatte? Kaum. Da kauerte ein zerfleischter Mensch, lechzend nach Mitteilung, mit fiebriger Gier nach Gehör verlangend, willig sich auszuschütten, sich hinzudehnen, zu zeugen, zu wissen, zu sagen, aus dem Formlosen seiner zermalmenden Einsamkeit wieder in die Kontur zu gerinnen. Herr von Andergast sagte ausweichend, aufs Geratewohl in eine neue Stille hinein: »Ganz richtig. Es war mir auch nur eine einzige Möglichkeit gelassen.« Maurizius hob den Kopf und starrte ihn an, mit einem wüsten Ausdruck im Gesicht. »Und wenn Ihre Voraussetzung falsch wäre?« fragte er von unten herauf, lauernd. Herr von Andergast versetzte schroff: »Das ist undenkbar.« – »Undenkbar? Köstlich. Ich frage ja nur: wenn –? Auch das Wenn können Sie sich nicht denken? Wenn sie aber doch falsch wäre?« – »Scheint es denn Ihnen denkbar?« – »Vielleicht.« – »Warum haben Sie dann geschwiegen? Während der Voruntersuchung, bei der Verhandlung, im Strafhaus geschwiegen, achtzehneinhalb Jahre?« – »Soll ich Ihnen sagen, warum?« (Wieder das düstere Lauern, von unten herauf.) – »Ich bitte.« – »Weil ich nicht einen Mord begehen wollte.« – »Wie . . .? Wie das? Weil Sie . . . ich verstehe nicht.« – »Gott verhüte, daß Sie es verstehen.« (Leises, spöttisches Lachen.)

Herr von Andergast, ziemlich ratlos, zog mechanisch die Uhr, ließ mechanisch den Deckel springen. Zwei Minuten vor fünf.

8

Plötzlich sprang Maurizius auf. »Unsinn«, stieß er hervor, »was quatsch ich denn da? Vergessen Sie das verdammte Geschwätz. Ich wollte Sie nur aushorchen. Es ist ein Gedanke, mit dem ich manchmal gespielt habe. Ich darf nicht laut denken. Hoffentlich halten Sie es nicht für ernst.« Er stand mit eingedrückten Schultern da. Herr von Andergast, als wolle er den Aufgeregten beschwichtigen, bemerkte ruhig, es handle sich ja nicht um Protokollaufnahme, er wisse zwischen Geständnis, auch dem Schatten von einem Geständnis, und dem üblichen Versuch, alles auf ein totes Geleise zu schieben, wohl zu unterscheiden. Es ist eine überlegte Beleidigung, darauf berechnet, den Getroffenen zu reizen und zur Abwehr zu veranlassen. Aber Maurizius atmet erleichtert auf. »Geschwiegen«, spricht er vor sich hin und ballt die Fäuste an den schlaff hängenden Armen, »was bleibt einem schließlich übrig als zu schweigen. Das ganze Verfahren hat ja keine andere Absicht, als die Menschenwürde zu zertreten. Man kann sich nur durch Schweigen helfen. Der Trotz verhärtet einen, erstickt einen, aus Trotz verstummt man, das einzige, womit man noch ein trauriges bißchen Menschenstolz retten kann, ist der Trotz.« Sein Blick wird starr und geht in eine entlegene Vergangenheit zurück, es scheint, daß in seinem Geist eine beständige, stückweise, rasch fliehende Gegenwart von zeitlich weit auseinanderliegenden Ereignissen herrscht, die unvermittelt ein Bild, ein Wort, einen Traum von gestern neben solche von vor zwanzig Jahren rücken. Herr von Andergast wirft ein, abermals sehr ruhig, er habe noch keinen gesehen, der sich auf die Dauer in seine Trotzigkeit verbeiße, wenn es um den Kopf gehe, um Leben und Seligkeit; das sei eben der Sinn des von Maurizius so verächtlich kritisierten Verfahrens, daß es den Beschuldigten von seiner Eitelkeit entblöße, damit er gleichsam nackt dastehe, nackt vor der Tat, nackt vor dem Richter. Maurizius lacht hämisch durch die Nase. »Wundervoll«, ruft er heiser, »wundervoll getüftelt! Nackt vor dem Justizwachmann, nackt vor dem Polizeikommissar, nackt vor dem Schließer im Untersuchungsgefängnis, nackt vor jedem Schreiber. Aber das ist es gar nicht, das Nacktsein, weit gefehlt, das ist es gar nicht.« Er stellt sich in den Winkel der Mauer und agiert mit fahrigen Gesten. (Das Fahrige allein erinnert manchmal noch an seine Vorsträflingszeit.) Ein Öffnen und Wiederverkrampfen der Hände ballt gleichsam zusammen, was er, vom Moment der Verhaftung bis zu dem der Verurteilung, an unvergeßlicher Erniedrigung aushalten mußte. Der rohe Kasernenton untergeordneter Organe oder, schlimmer noch, ihre augenzwinkernde Vertraulichkeit. In ihren Machtbereich geraten heißt jeden Anspruchs auf Respekt verlustig gehen. Verfeinerung fordert ihren Hohn heraus, geistige Überlegenheit ihren Haß. Leistung, Verdienste gelten nichts mehr, was du bis gestern gewesen bist, ist ausgetilgt. Endlich können sie selber einen von denen kujonieren, die sonst das Privileg besitzen, sie zu kujonieren; und sie tun es mit boshafter Lust. Er leugnet seine Schuld? Kniffliges Manöver. Verdacht ist Verdacht. Verdacht ist so gut wie Beweis. Hierin überbieten sie womöglich noch die Vorgesetzten, da ja nach unten hin die Verantwortungen sich mindern. Bei ihnen kommt das Klassen-Ressentiment hinzu, sie sind überzeugt, daß die Reichen und die Gebildeten wider die Armen und Unwissenden trotz aller verkündeten Gleichheit vor dem Gesetz heimlich verschworen sind, und so wollen sie ihr Mütchen kühlen, gedeckt von demselben Gesetz. Als man ihn in dem Hamburger Hotel verhaftete, befahl ihm der Polizeibeamte, vom Bett aufzustehen, erlaubte ihm nicht, sich anzukleiden, er mußte, im Hemd, warten, bis alle Kleider durchsucht, alle Briefschaften und Papiere geprüft waren. Lange Jahre gehörte das Bulldoggengesicht dieses Mannes zu den Schreckbildern, mit denen ihn seine Phantasie peinigte, die verächtliche Miene, mit der er die feine Wäsche durchwühlte, das Nicken verdrängten Neides und befriedigter Rache, dies eine ganze Welt beleuchtende Kleinbürgernicken, als er die goldene Zigarettendose und die Toilettengegenstände musterte. Dann die erste Gefängnisnacht, zusammen mit einem alten Kuppler und einem syphilitischen Dieb, das Essen, die mürrisch hingeschobene Schüssel breiiger Rüben, der Gestank, der Schmutz, die jähe Degradation zur Hefe, der grüne Transportwagen, die Fahrt auf der Eisenbahn mit den zwei Gendarmen, die schon in Fangfragen dilettierten, die Untersuchungshaft, der Untersuchungsrichter, der alles bereits wußte, die Tat samt Umständen und Motiven, gegen jeden Einwand gewappnet war, die plausibelste Erklärung belastender Aussagen mit dem Lächeln des besser Informierten entgegennahm, Verhör auf Verhör anordnete, morgens, abends, nachts, die Fragenfolter so weit trieb, daß das Gehirn wie ein wunder Klumpen im Kopf glühte, unerlaubte Fallstricke legte, durch Strenge zu erschrecken, durch übertriebene Milde den Widerstand zu ermatten suchte, bald drohte, bald versprach, Mithäftlinge als Spione und Aushorcher dang, den ganzen Apparat der unterirdischen Justiz sich dienstbar machte, die Zeugen einschüchterte und unermüdlich an einem Gespinst webte, dessen Muster ihm vorgezeichnet war und das er fertigstellen mußte, weil er eben hierzu beauftragt und beamtet war. Da sehnt man sich nach der endlichen Erlösung, sogar die Hochnotpein im Gerichtssaal ersehnt man mit erschöpftem Herzen, man sieht, man hört, man spürt nichts mehr, man will nicht mehr kämpfen, man hat verzichtet, man schweigt. Alles ist gleichgültig geworden. Darum ist das Zuchthaus, in dem man dann verschwindet, wie das tröstliche Ruhen in einem Grab, wenigstens in den ersten Wochen. Keine Fragen mehr, keine rätselhaft feindseligen Zeugen mehr, kein Zureden des Advokaten mehr, keine Gerüchte, keine Ängste, keine Eidesformeln, keine Unterschriften unter ein abgefoltertes Protokoll, – balsamischer Frieden.

»Es ist vielleicht das erstaunlichste Pyramidensystem zweckbewußter menschlicher Energien, das ersonnen werden kann«, sagte Maurizius still, fast traurig vor sich hin. »Das geb ich gern zu. Ja, das geb ich zu. Enorm geistreich. Wenn man die Spitze erreicht hat, ist der Delinquent unten zerquetscht. Ich will nicht in Abrede stellen, daß es nicht auch wohlwollende, mitleidige, anständig fühlende Leute in dieser Armee von Jägern und Jagdgehilfen gibt. Es wäre undankbar, wenn ich's täte, vor allem hier in dem Haus waren einige, an deren Güte und Freundlichkeit ich mich ordentlich aufrichten konnte, da war zum Beispiel ein gewisser Mathisson, er ist vor sechs Jahren vom Dienst enthoben worden, weil er einem todkranken Sträfling einen Brief seiner Braut zugesteckt hat, der tröstete mich immer und sagte: Nur Geduld, Herr Doktor, er nannte mich stets Herr Doktor, nur die Zuversicht nicht verlieren, für Sie kommt schon noch der Tag der Gerechtigkeit. Das hat mir wirklich geholfen, wennschon ich seinen Glauben nicht teilte. Nein, dazu lag kein Grund vor. Na, und dann vor allem einer . . . über den will ich nicht reden. Nein, über den kann ich nicht reden . . . Und wie selten sind solche, wie müssen sie sich fürchten, wie sorgfältig ihre menschlichen Anwandlungen verheimlichen, Liebe zu erzeigen oder bloß Erbarmen ist ja Verstoß gegen die Disziplin, und da eine derartige Neigung bald ruchbar wird, paßt man natürlich scharf auf. Hält man sich vor Augen, daß alle diese Leute, und nicht nur die, das geht hoch hinauf, ich mag nicht sagen wie hoch, wenn man sich vorstellt, daß diese Leute einen büßen lassen für alles, was sie heimlich erbittert, für alles, was sie nicht erreicht haben, für ihre häusliche Misere, für ihre schlechte Bezahlung, für ihre soziale Gedrücktheit, für ihre ganze gescheiterte Existenz unter Umständen, wenn man überlegt, daß die Subalternen unter ihnen fast lauter Menschen sind, denen es Wollust ist, zu peinigen und leiden zu machen, und dafür können sie nichts, es ist der Machtrausch, der sie tröstet, denn ihr Leben ist ebenso finster wie der Kerker, den sie bewachen, oder wie die Schicksale, die sie regieren. Wenn man sich das vorstellt, muß man doch fragen, ob Menschen geeignet sind, Menschen zu verurteilen, Menschen zu strafen. Was bedeutet das denn, so wie es ist: strafen? Wer darf es? Wem steht es zu? Einer spricht es aus, gibt es weiter, die Maschine packt einen, man kommt unter die Räder: Strafe. Eine ungeheuerliche Heuchelei. Eine Pest von Heuchelei.« Er atmet hoch, wie ein Kind nach dem Schluchzen. »Aber ich falle Ihnen lästig«, fährt er in unzufriedenem Ton fort, als ärgere er sich über seine Redseligkeit, »es trifft sich nur so selten, daß man direkt zu einer Spitze sprechen kann. Die Spitze steht im Licht, was unten ist, davon weiß sie nichts.« Ein fahl aufleuchtender Blick, in welchem Angriff, Sichanklammern und wilder Trotz ist, trifft Herrn von Andergast. Merkwürdig genug, daß dieser das form- und titellose Sie, mit dem sich der Sträfling beständig an ihn wendet, ohne eine Miene der Mißbilligung hinnimmt. Es ist ihm vielleicht nicht wichtig, auf der Ehrerweisung zu bestehen. Fast scheint es, als habe er sein Amt, seine distanzierende Würde vergessen. Unwillig beengt lauscht er den Worten des andern. In manchen Augenblicken empfindet er sein Hiersein, das Gegenübersein, das Gegnerische (wie Maurizius) als einen Austrag lang gesammelter und explosionsbereiter Spannungen. Er hat dann das Gefühl der Selbstbezweiflung, als könne es kommen, daß er nicht standzuhalten vermöchte. Maurizius kontra Andergast. Eine Abrechnung am Ende? Nun, man wird sehen.

Er schreitet durch die Zelle. Zur Tür hin und wieder zurück. An Maurizius dicht vorbei. Er sagt: »Das alles ist freilich übel. Aber Sie verallgemeinern denn doch zu stark. Die Mißstände zugegeben, sie wachsen aus der Welt. Die Welt ist, wie sie ist, starr und nicht gut. Ich will nichts beschönigen. Gehen wir endlich auf des Pudels Kern. Für so dumm werden Sie mich nicht halten, daß ich die angeführten Gründe eines achtzehnjährigen konsequenten Schweigens glauben soll. Oder? Sie wollen von der Sache wegreden. Sie haben sich jedoch verraten. Also, weil Sie keinen Mord begehen wollten. Deshalb. Erstaunliches Argument im Mund eines verurteilten Mörders. Nun gut. Das nur am Rande. Auf welche Person zielte die Bemerkung? Das Rätsel scheint mir lösbar. Also die Anna Jahn sollte geschont werden. In welcher Hinsicht geschont? Warum geschont? Nehmen Sie es nicht zurück, tun Sie es nicht, Gott selbst hat es vielleicht aus Ihnen herausgerufen. Ja, Gott selbst. Fürchten Sie sich nicht. Sprechen Sie sich aus . . .« Herr von Andergast kann nicht umhin, sich in dem Pathos seines Appells ein wenig unbehaglich zu fühlen. Maurizius hat sich an dem Auf- und Abgehen des Mannes mit der langsamen Kopfbewegung eines Hundes beteiligt, der seinen Herrn keine Sekunde aus dem Auge verlieren will. Er lauscht, öffnet ein wenig den Mund, die kleinen Zähne ragen hervor, er lauscht den Worten nach, senkt die Lider. »Jetzt meinen Sie wohl, Sie haben mich erwischt«, murmelt er gehässig; gleich danach, mit veränderter Stimme, leise, demütig: »Ist es sehr unbescheiden, wenn ich noch um eine Zigarette bitte?« Herr von Andergast beeilt sich, ihm das offene Etui hinzureichen, gibt ihm auch Feuer. Maurizius zieht den Rauch tief in die Lungen und stößt ihn durch die Nase wieder aus. Herr von Andergast setzt sich an den Tisch und kreuzt die Beine. Er sieht genau aus wie bei den obligaten Abendgesprächen mit Etzel, wohlwollender Freund, der bereit ist, über interessante Probleme zu diskutieren. Allein sein Blick flattert unmerklich, seine Stirn ist gerötet. Abermals schauen sie einander schweigend an. Ob Sophia wohl schon da ist? denkt Herr von Andergast mitten in dem Schweigen. Es quält ihn, sich auszumalen, mit welcher Miene sie vor ihn hintreten wird, um den Sohn von ihm zu fordern. Er würde das Schwerste auf der Welt tun, wenn er dem entfliehen könnte. Glücklicherweise ist die Aufgabe hier hinlänglich schwer.

9

»Haben Sie niemals Aufzeichnungen gemacht?« fängt er an zu fragen. Seine geduldige Gelassenheit, Ergebnis konzentrierter Selbstbeherrschung, wirkt nach und nach wie ein lösendes Medikament auf Maurizius. »Es hat mich nie gereizt«, entgegnet er; »wozu? für wen? als man mir schriftliche Arbeiten erlaubte, gegen Ende des Jahres elf, habe ich vorgezogen, mich meinen Fachstudien zuzuwenden, aber da es mir an Material fehlte, mußt ich notgedrungen ins Allgemeine gehen. Zu lang hatt ich in mich selber hineingestiert, war schon ganz blind davon geworden. Das müßt ich mal einem Menschen begreiflich machen . . . man kann es aber nicht. Man kann es nicht. Der Leib wird zur Schraube und hineingebohrt in etwas Gräßliches. Was ich sagen wollte . . . ja: Viele Monate hindurch hab ich an einer Sache geschrieben, Geschichte des Madonnenkultus auf Grund bildnerischer Darstellungen. Ich kam zu eigentümlichen Resultaten dabei, auch in bezug auf mein Leben. Während ich schrieb, übersetzte ich es gleich ins Italienische und Spanische, an beiden Sprachen hatt ich von jeher viel Freude. Eine Weile spielt ich sogar mit dem Gedanken an Publikation, hielt so was für möglich, glaubte, es könne mir helfen. Aber nur eine Weile. Innerlich war ich längst fertig mit dieser Art Zeitvertreib, da kam ein neuer Direktor, Oberst Gutkind, nomen non est omen. Er verbot mir das Schreiben, konfiszierte meine Bücher, auch die Manuskripte sollt ich abliefern. Er wollte mir nicht wohl, der Herr Oberst, ich war ihm geradezu ein Dorn im Auge, warum, hab ich nie ergründen können. Ich habe nicht erst gebettelt und gehandelt, sondern die Schriften vernichtet. Seitdem ist mir die Lust zu dergleichen vergangen.« – »Von dem Vorgang ist mir nichts bekannt geworden«, sagte Herr von Andergast mit zusammengezogener Stirn. – »Glaub ich gern. Was wird denn bekannt? Sogar ein Mann wie Sie würde ziemlich entsetzt sein, wenn er wüßte, was alles nicht bekannt wird. Dem Herrn Oberst wär's beinahe gelungen, mir mit seinen talentvollen Quälereien den Garaus zu machen, wer hätt ihn daran verhindern sollen, wenn ihn nicht vorher noch der Schlag gerührt hätte. Sonst konnte ihn ohnehin nichts auf der Welt rühren. Es stand eben nicht in den Sternen, daß ich sein Opfer werden sollte. Na, schön, dann hab ich wieder Seegras gezupft, Schachteln geklebt, Baststricke gedreht, Matten geflochten und, das ganze Jahr sechzehn, Knöpfe an Militärmäntel genäht.« – »Ich würde großen Wert darauf legen, wenn Sie sich entschließen könnten, eine Art Selbstbiographie abzufassen. Ich verspreche mir viel davon. Es käme unter Umständen der Absicht zustatten, die ich zu Beginn unseres Gesprächs angedeutet habe. Ich würde dem Vorsteher entsprechende Befehle geben, Sie könnten auf alle Erleichterungen rechnen . . .« Maurizius macht ein Gesicht, als suche er die Falle hinter dem Anerbieten. Er schüttelt den Kopf. »Mein Leben ist ein ausgebrannter Stamm«, erwidert er; »was hat es für einen Zweck, am Aschenstumpf die Jahresringe zu zählen oder wehleidige Betrachtungen darüber anzustellen, wie hoch mal die blühende Krone geragt hat? Nein.« – »Mißverstehen Sie mich nicht, ich will keinerlei Pression ausüben«, versichert Herr von Andergast mit einem Ernst, der gewissermaßen eine neue Auffassung der Lage signalisiert, über die er sich gedanklich erst Rechenschaft geben muß, »nicht einmal mehr um Geständnisse ist es mir zu tun, wie ich zu den Dingen momentan stehe . . .« – »Sondern?« – Herr von Andergast, den Kopf zwischen die Schultern ziehend, macht eine Bewegung mit den Armen, als wolle er, ohne Rücksicht auf die Folgen, die Unsicherheit enthüllen, in die er geraten ist. Nichts könnte nachhaltigeren Eindruck auf Maurizius üben als diese stumme Verzichterklärung. Wenn es nicht wirklich eine Sorte von Kapitulation gewesen wäre, unvorgesehen, vom Augenblick erzwungen, dem hoffnungslosen Herumirren im Kreis, wäre es ein genialer Schachzug gewesen.

Maurizius' Gesicht wird noch fahler, als es für gewöhnlich schon ist. Es hat den Anschein, als könne er über etwas, das ihn maßlos quält oder etwas, was er tun und sagen möchte und nicht tun und sagen kann, nicht mit sich einig werden. Seit Jahr und Tag ist dies der erste Besuch von »draußen« in seiner Zelle, seit Jahr und Tag der erste Mensch, der in seiner Sprache mit ihm spricht. Millionenfach sich kreuzende Empfindungen stürmen in wenigen Sekunden auf ihn ein. Unmöglich, eine einzelne festzuhalten, jede Regung wird von einer stärkeren, dunkleren, bangeren, wilderen fortgeschwemmt. Wie einer, der auf eine wüste Felseninsel deportiert seit ungemessener Zeit sich nach einem Menschenauge sehnt und nach Mitteilung schmachtet, zu vergessen fähig ist, daß der, der ihm endlich als seinesgleichen entgegentritt, derselbe ist, der ihn verdammt und ausgesetzt hat, so zittert, so fiebert er bloß nach der physischen Nähe, nach Wort und Botschaft. Botschaft geben, Botschaft haben, es ist beinahe eines, im Austausch ringt er sich vielleicht wieder empor aus der schauerlichen Geisteskrankheit, zu der ihm das Nur-mit-sich-selbst-Sein geworden ist. Setzen Sie sich doch, hört er sagen, und er setzt sich, gehorsam, eilig, wie hingeschmissen. Seine Augen, voll unsinniger Traurigkeit, haben die Phosphoreszenz, die den seelischen Verwesungsprozeß anzeigt. Noch drei, vier Monate, und der letzte innere Funke ist erloschen, die beispiellose Energie, mit der er bis zur Stunde dagegen angekämpft hat, verbraucht. Der Mensch, der als Mensch zu ihm redet, gibt ihm wieder den Menschenbegriff, spannt ihn noch einmal in einen Rahmen von Dasein. Es reicht dann wieder für ein Jahr, er muß sich an ihn klammern, muß ihn verstricken, ihm eine Tür zu sich öffnen, und was er hierzu an armseliger List aufwendet, verhüllt nur schlecht sein irres Verlangen. Da fällt der Name Anna Jahn. Es sei Maurizius zweifellos bekannt, daß Anna Jahn geheiratet habe? Antwortet er? Er hat bereits geantwortet, als er sich noch zu besinnen scheint. Vor acht Jahren hat er es erfahren. Auf die Frage, ob ihm die Nachricht unerwartet gewesen sei, an seinen Gefühlen etwas verändert habe, lacht er. Oder war es kein Lachen, nur ein verunglückter Versuch, Vergessenhaben vorzutäuschen? Jedenfalls war der Name in dem Raum noch nie vernommen worden, die Zelle wird doppelt so groß, der Tisch doppelt so hoch, der Kopf schwillt an, es ist, als bekäme man eines der Gase eingepumpt, die alle Dimensionen übertreiben. Was weiß man denn von diesen . . . diesen Gefühlen, wie? Ach so, man dürfe dem Frager einigen Scharfsinn zutrauen. –Scharfsinn, pah! Kein Scharfsinn kann da hin. – Worte, das seien Worte, der Mensch gibt sich kund, ob er will oder nicht. Es folgt Frage auf Frage und Antwort auf Antwort. Er hat die Nachricht von seinem Vater. Sie stand in einem Brief. Anderes, in demselben Brief Befindliches hatte die Zensur nicht durchgelassen. Wahrscheinlich ebenfalls Anna Jahn Betreffendes. Da er jenes zuerst für Lüge gehalten, verspürte er auch kein Verlangen, das Fehlende zu wissen. Erst nach und nach hat er sich an den Gedanken gewöhnt, die Möglichkeit bei sich selber zugegeben. Warum nicht? Warum sollte sie nicht heiraten? Welche Verpflichtung bestand für sie, ledig zu bleiben? Hätte sie Nonne werden sollen? Nun, vielleicht, vielleicht wäre das Kloster das Richtige gewesen. Der Vater freilich, in seinem bodenlosen Haß, klaubte alle Verleumdungen eifrig auf, die über sie umliefen, vor langer Zeit einmal, vierzehn, fünfzehn Jahre mag es her sein, deutete er bei einem seiner Besuche etwas niederträchtig Gemeines an, nämlich sie und Waremme sollten . . . doch das will er gar nicht wiederholen, der Alte hat sich auch wohl gehütet, je wieder davon zu reden, abgesehen davon, daß die Bewachung der Privatgespräche bald darauf sehr streng wurde, aber wenn er von da an seinen Halbjahrsbesuch machte, wußte er kaum was zu sagen, stand nur da in seiner jämmerlichen Betrübtheit und starrte den Sohn hilflos an. Er hatte den Mut nicht mehr, seine Wahnidee aufs Tapet zu bringen. Dem Vernehmen nach sei die Duvernonsche Ehe recht glücklich geworden, schaltet Herr von Andergast trocken ein. – »Duvernon? Ah so, das ist der Mann. Möglich.« – »Es sollen auch Kinder dasein. Zwei Mädchen.« Die ans Kinn geschmiegte Hand von Maurizius zitterte. »Kinder? wirklich Kinder? Kann das sein? Kinder? Sie sagte einmal, sie wolle niemals Kinder haben.« – »Da war sie selber noch ein halbes Kind.« – »Sie hatte in dem Sinn kein Alter. Sie sagte nie etwas, was nicht in ihrer Natur war.« – »Doch hat gerade sie sich Ihrer unehelichen Tochter mit aller Gewissenhaftigkeit angenommen . . .« Maurizius drückt die Zeigefinger in die Augen. Seine Lippen werden vollständig weiß. »Hildegard . . . ja . . .« flüstert er. – »Besteht die Beziehung nicht mehr? Ich meine: zwischen Anna und Ihrer Tochter?« – »Das weiß ich nicht.« – »Wie . . . Sie wissen es nicht . . . hat man Ihnen denn . . .?« – »Nein«, schreit Maurizius auf, »nichts. Nichts hat man. Ich weiß nichts von meinem Kind.« Herr von Andergast zeigt weder Bestürzung noch Ungehaltenheit über den verzweifelten Ausbruch, der jäh wieder erlischt. Er fragt teilnehmend nach den näheren Umständen und erfährt, Maurizius habe Anna Jahn durch Dr. Volland, den sie zum Mittelsmann gewählt, das Versprechen geben müssen, sich um Hildegard nie mehr zu kümmern, er müsse für das Kind gestorben sein, unter dieser Bedingung wolle Anna die fernere Erziehung mit aller Sorgfalt leiten. Herr von Andergast findet die Selbstüberwindung lobenswert, die den geistigen Frieden des jungen Wesens gewährleistet, und meint, es bestehe kein Zweifel, daß Anna Duvernon sich an die übernommene Verpflichtung genau so gebunden erachten werde wie Anna Jahn. Maurizius dreht den Hals wie gewürgt. Ja. Ja. Mag sein. Aber er weiß es nicht. Er müßte wissen. Ein Zeichen müßte er haben. Weiß er denn, ob das Mädchen noch lebt? Was ist da draußen nicht alles verdorben und gestorben inzwischen. Herr von Andergast wundert sich über die leidenschaftliche Anhänglichkeit des lebenslänglich verurteilten Zuchthäuslers an ein Geschöpf, das er seit dessen Säuglingsalter nicht gesehen hat, und es ist unentschieden, ob er es überhaupt gesehen hat. Es scheint ein Fall von Phantasievergötterung zu sein, ein Anker, ins Ewige hinaus geworfen. In unbefangenem Ton, wie man mit einem guten Bekannten beim schwarzen Kaffee plaudert, wirft er die Bemerkung hin, Anna Jahn müsse in ihrer Jugend, aus ihrem späteren Leben sei ja wenig bekannt, ein schwer faßlicher Frauencharakter gewesen sein, zum Beispiel sei es ihm stets unerklärlich erschienen, daß sie ihre Sorgfalt und Bemühung diesem Kinde habe angedeihen lassen, Frucht des Verhältnisses zwischen dem Schwager und einer fremden Frau. Maurizius will antworten, preßt die Lippen zusammen, schweigt, und ein scheuer Blick streift sein Gegenüber. Dann: »Nicht so unerklärlich, wenn man bedenkt, was sie schon erlebt hatte und was sich dann abspielte, als sie zu uns kam. Davon ahnt ja niemand was.« – »Allerdings«, gibt Herr von Andergast zu, »was wir erfahren haben, ist so äußerlich wie der Bericht eines Unglücksfalles in einer Zeitung. Die Wirklichkeiten liegen wohl dahinter.«

Lange schaut Maurizius stumm vor sich nieder. Sein Kopf macht nervöse Ruckbewegungen, als ob er eine unbequeme Annäherung abwehren wolle. Es sind aber nur Schatten. Er verkehrt mit Schatten, er befragt Schatten, er ringt mit Schatten. Endlich hebt er die Augen, blickt dem Oberstaatsanwalt prüfend ins Gesicht und sagt mit einer Stimme, die aus speichellosem Gaumen kommt: »Ich will versuchen, es zu erzählen. Ich glaube, es ist ganz gut, wenn ich es mal erzähle. Bis zu einem gewissen Punkt kann ich's immerhin riskieren. Schon um es selber mal zu hören. Um zu sehen, was noch davon da ist. Aber nicht heute. Ich bin zu erschöpft von dem Bisherigen, hab mich nicht mehr in der Gewalt. Morgen. Am besten ganz in der Frühe.«

Herr von Andergast nickt und erhebt sich. An der Zellentür gibt er das Zeichen, der Wärter öffnet. Es ist halb acht, als er das Gasthaus in Kressa betritt und ein Zimmer für die Nacht fordert. Sophia muß warten, denkt er in einer Mischung von Triumph und Furcht, während er am Fenster der Wirtsstube sitzt und zu der grauen Gefängnis-Zwingburg emporstarrt. Aber es ist ein flüchtiger Gedanke, dem keine rechte Bedeutung mehr innewohnt. Alle Gedanken sind nun flüchtig und bedeutungslos, die den Kreis verlassen, in dem der Sträfling Maurizius steht.


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