Jakob Wassermann
Der Fall Maurizius
Jakob Wassermann

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4

Der Gang im Sturm über die Felder lag Herrn von Andergast noch in den Gliedern, als er zu Violet kam. Er hatte zu Hause gegessen und sich sorgfältig umgekleidet. Sie beklagte sich schmollend. Sie fühlte sich vernachlässigt, seine Besuche waren in der letzten Zeit immer seltener geworden. In ihrem komischen Deutsch radebrechend, er hatte darauf bestanden, daß sie Deutsch lerne, sagte sie, sie fühle sich verlassen »like a single shoe«. Herr von Andergast beschwichtigte ihren Unwillen so mühelos, wie man ein brennendes Zündholz ausbläst. Sie hatte einen Unglückstag gehabt. Sie hatte ihre goldene Armbanduhr verloren. Sie sagte, sie werde nun nie mehr wissen, wieviel Uhr es sei. »Poor little Violet has lost the time.« Sie werde nachts jede Stunde aufwachen aus Angst, den Tag zu versäumen, und werde warten, bis die abscheuliche große Kirchenglocke schlagen würde. Herr von Andergast machte ein Gesicht, als denke er über ein Schachproblem nach, und sagte, man werde trachten, ihr eine neue Uhr zu kaufen, doch müsse sie ihren Verlust bei der Polizei melden. Er beschrieb ihr den Weg, das Haus, die erforderlichen Formalitäten. Dabei saß sie ihm gegenüber und blickte ihn mit ungemessener Bewunderung an. Sie hatte ihm eine Zigarettensorte gekauft, die er bevorzugte, brachte schnellfüßig die Schachtel, reichte ihm Feuer, zündete selbst eine Zigarette an; darauf sprachen sie friedlich und eingehend über das Aroma, den Preis und daß der Tabak ein wenig zu stark sei. Da Herr von Andergast mehrmals mit der Hand über die Stirn fuhr, bemerkte sie endlich sein ermüdetes Aussehen, und auf ihre besorgte Frage gab er zu, daß er ziemlich heftigen Kopfschmerz habe. Sie riß entsetzt die Augen auf, als ob ihr nie der Gedanke gekommen sei, daß ein so riesiges Wesen krank werden oder sich nur unpäßlich fühlen könne. Mit ängstlicher Vogelstimme schlug sie verschiedene Mittel vor; als er sie alle mild, aber entschieden ablehnte, begann sie zu schelten, und er ließ es sich gefallen. Sie sagte, er müsse sich hinlegen und ausruhen. Er sah es ein und gehorchte. Er legte sich auf das Sofa, sie deckte ihn mit einem großen Schal zu, löschte die Lichter bis auf eine beschirmte Eckenlampe aus und sagte, sie werde ihn allein lassen, werde derweil ins Schlafzimmer gehn und ihn nicht stören. An der Schwelle kehrte sie noch einmal um und strich ihm mit den dicken Fingerchen und einem zärtlichen Miauen über die Schläfen. »You are a naughty boy«, sagte sie, altklug nickend, »you work too much and you think too much. Viel zu viele. Sure.« Er lächelte freundlich. Er akzeptierte ihren mitleidigen Unwillen mit dem Ernst, mit dem man von einem Kind eine Spielmünze annimmt, das es für ein Goldstück erklärt. Lange lag er mit offenen Augen, seltsam gedankenleer, im halbverdunkelten Raum. Wieviel Zeit vergangen war, als er sich erhob, wußte er nicht. Er schaute auf die Uhr, aber so zerstreut, daß er die Stunde nicht mehr wußte, als er den Deckel zugeklappt hatte. Er öffnete leise die Tür zum Nebenzimmer. Violet lag im Bett und schlief. Am unteren Ende des Bettes hing eine rötliche Ampel vom Plafond. Violet hatte eine Vorliebe für Ampelbeleuchtung, und sie schlief nie im Finstern. Sie fürchtete sich vor der Finsternis und war darin keiner Belehrung zugänglich. Herr von Andergast stand neben dem Bett und schaute auf die Schläferin nieder. Da die Natur aus dem schlafenden Antlitz alle geistige Bewegung wegwischt, kehrt es in diesem Zustand völlig zu ihr zurück, und bei der kleinen Violet hatte sie dabei weniger Arbeit als bei jedem andern Menschengeschöpf. Da lag sie denn, ganz Pflanze, von oben ein wenig beglüht durch die sentimentale Ampel, von innen ein wenig durch ihre Jugend und Gesundheit. Manchmal zog ein Ausdruck von Bangigkeit über ihre Züge und machte sie für einige Sekunden um ebenso viele Jahre älter, aber es war nur wie eine kurze Welle, ohne den sichtbaren Anlaß einer Erschütterung des Wassers. Ein Seufzer, die Brust hob sich, dann lag der Körper wieder still. Wie alle an das Bewußtsein als einzige Lebensmacht geketteten Menschen liebte Herr von Andergast nicht den Anblick von Schläfern. Er mußte sogar stets ein leises Grauen überwinden, wenn er ein schlafendes Gesicht sah. Er trat an den Toilettentisch, ließ sich im Armstuhl nieder und blieb so, wartend, mit einer Viertelwendung gegen das Bett. Der Spiegelaufsatz über dem Tisch war so gestellt, daß er die Schläferin sehen konnte, wenn er einen Blick ins Glas warf. Es war eine Situation, die ihm gemäß war. Das Mittelbare war seinem Wesen gemäß. Allmählich schien er jedoch zu vergessen, wo er sich befand, das Kinn senkte sich langsam gegen die Brust hinab, die Augen starrten bohrend, unsäglich finster, unsäglich hart in eine verborgene Tiefe, und so saß er Stunde um Stunde. Es war etwas Ungeheures, das reglose Dasitzen und Starren, die mächtige Figur, der gewaltige Schädel, die steinerne Ruhe des Gesichts. Als er endlich den Kopf wieder emporhob und der Blick in den Spiegel fiel, gewahrte er im Glas nicht sich selbst, nicht die schlafende Violet, sondern er sah . . . Waremme. Das heißt, eine Person, von der er ohne weiteres annahm, daß sie Waremme sei, die aber nur eine vage Ähnlichkeit mit jenem Waremme hatte, den er vor achtzehneinhalb Jahren zuletzt gesehen. Diese Person nun, er gewahrte nur den Oberkörper, der etwas überlebensgroß war, hatte den rechten Arm ausgestreckt, der linke war auf die Hüfte gestützt, und auf der flachen Hand stand Etzel, sehr klein zwar, doch sehr mutig, ja mit einer gewissen Unverschämtheit in den Mienen. Er hielt eine Blendlaterne in der Faust, der Schein der Laterne fiel grell in das Gesicht Waremmes (oder wer der Betreffende eben war) und machte es vollkommen durchleuchtet, als ob Haut und Knochen aus Gelatine bestünden und solcherart das Gehirn bloßgelegt würde, auf welches das Blendlicht hauptsächlich gerichtet war. Die ganze Gehirnmasse mit ihren Kanälen, Buchtungen, Wölbungen, unendlichen Faserungen und Äderungen krampfte sich unter der Wirkung des unwehrbar eindringenden Lichtstrahls fortwährend zusammen wie unter einem Operationsmesser, und da der Strahl, von der nervigen kleinen Faust gelenkt, auf und ab und hin und her fuhr, wie um eine bestimmte Stelle ausfindig zu machen, wurde nach und nach das quallig-ekle, schmerzhaft-zuckende Gebilde in jedem seiner Teile aufs deutlichste wahrnehmbar. Was geschieht mit mir, dachte Herr von Andergast ärgerlich, ich sehe Gespenster, mit offenen Augen Gespenster. Er drückte mit Zeige- und Mittelfinger die Lider zu; als er dann wieder in den Spiegel schaute, sah er das schlafende junge Mädchen, nichts andres, rosig beschienen von der Ampel, lächelnd unter dem Einfluß eines hübschen und sicherlich unbedeutenden Traums.

Herr von Andergast erhob sich leise und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Er setzte sich an den dünnbeinigen, wackligen Schreibtisch, nahm Briefpapier und Umschlag aus einer Mappe, hielt die Feder gegen die Lampe, ehe er zum Schreiben ansetzte, dann schrieb er mit seiner großen Schrift, in gedehnten, vornüber geduckten Buchstaben, deren l und t und f wie windschiefe Telegraphenstangen aussahen: »Liebe Violet, der heutige Abend war leider der letzte, den ich mit Dir verbringen konnte. Die noch offenen Rechnungen werden bezahlt werden, das Monatsgeld von hundertfünfzig Mark läuft bis 1. Juli weiter. Es wünscht Dir ein glückliches Fortkommen auf Deinem Lebensweg W. A.« – Nachdem er das Briefblatt ins Kuvert gesteckt, lehnte er dieses, mit der Aufschrift »An Miß Violet Winston« versehen, an den Sockel der elektrischen Stehlampe, schraubte die Lampe ab, ging, abermals sehr leise, in den käfigartig schmalen Vorraum, schlüpfte in den Mantel, drückte den steifen Hut in die Stirn, trat ins Treppenhaus und ließ langsam die Tür einschnappen. Als er auf der Straße dahinschritt, bemerkte er nach einer Weile erst, daß es zu regnen aufgehört hatte und ein funkelnder Sternhimmel über der Stadt ausgebreitet war.

5

Der Diener rapportierte, Peter Paul Maurizius, für elf Uhr vorgeladen, warte im Anmeldezimmer. Dr. Nämlich, Staatsanwalt, raffte seine Dokumente in die Aktentasche und verschwand. Herr von Andergast saß eine Weile, den Kopf in die Hand gestützt, das geöffnete Notizheft vor sich. Er hatte sich klarzumachen, was er von dem Alten erfahren wollte. Er mußte jedes Wort wägen. Es war notwendig, ihn eine Weile mit seinen eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, um ihn dann mit der Frage nach Etzel zu überrumpeln. Bis zu welchem Grad er zu diesem Zweck abzulenken, zu verwirren, auf falsche Fährte zu setzen sei, mußte sich im Verlauf des Gesprächs ergeben. Unerfreulich und quälend, wie die beiden Angelegenheiten auf einmal zu einer einzigen wurden. Unerfreulich und quälend das Vexierspiel: Wo ist Etzel? Verflochten in das fruchtlose Rätselraten um ein bereits der gerechten Sühne überliefertes Verbrechen. Erst jetzt, als der Name Maurizius an sein Ohr schlug, wußte Herr von Andergast, daß er den Alten nicht deshalb zitiert hatte, um ihn »zu verwarnen« und bei der Gelegenheit einiges aus ihm herauszubekommen, worüber die Akten keine Klarheit gaben; das war der schwächere Antrieb; der wesentliche war, nach dem Jungen zu fragen, von Etzel zu hören, die sinnlose Unruhe zu verringern, die er sich, wie die Dinge lagen, nicht mehr ausreden, nicht mehr wegtäuschen konnte, und noch etwas anderes, Seltsameres, Unbequemeres: ein Verlangen, eine Leere, eine Unzufriedenheit, eine Ungeduld, etwas, das nagte und ritzte, als ob man an einem inneren Organ verletzt sei, von dessen Vorhandensein man bisher nichts gespürt hatte.

Der Raum, in dem der Oberstaatsanwalt amtierte, war ein zweifenstriges Eckzimmer mit der Aussicht auf das Versorgungshaus und die Hammelstraße, in deren zehn oder zwölf Schenken Vorgeladene und Zeugen der unteren Klassen viele Stunden des Tages zechten und randalierten. An der braungetünchten Wand hinter dem Schreibtisch hing ein lebensgroßes Bismarckbild. Der niedrige Bücherständer enthielt die Gesetzes-Kommentare, einige Jahrgänge der Juristenzeitung und die Reichsgerichtsentscheidungen. Die peinliche Sauberkeit und Ordnung hob nur die Kahlheit stärker hervor, die beklemmende Nüchternheit und Trostlosigkeit. Man sah auf den ersten Blick, daß es hundert genau so nüchterne und trostlose Räume in diesem Haus und zwanzig- bis dreißigtausend in allen Städten des Landes gab. Sie prägen die Gesichter der Männer, die sich während eines großen Teils ihres Lebens darin aufhalten, sie hauchen ihnen ihre Nüchternheit und Trostlosigkeit ein.

Der alte Maurizius blieb neben der Tür stehen, nachdem er sich tief verbeugt hatte. Er trug eine Art Jägerjoppe mit Hirschhornknöpfen. Im steifen linken Arm hielt er die unvermeidliche Kapitänsmütze. Herr von Andergast warf unter halbgesenkten Lidern einen schrägen Blick auf ihn, den Kriminalistenblick, der in einer Sekunde erfährt, was ihm ein langes Verhör unter Umständen vorenthält. Doch hier war die Ausbeute dürftig. Ein verwittertes, verkniffenes, eigensinniges, unbewegliches Greisengesicht. Gleichwohl war die mürrische Unempfindlichkeit des Alten nur beherrschte Verstellung. Hinter der äußeren Starrheit klopfte die Erwartung wie mit Eisenhämmern in seiner Brust. Ihn dünkte, daß endlich der große Wendepunkt gekommen sei. Wie war es anders möglich, wozu sonst die Vorladung, wozu die geheimnisvolle Sache mit dem Jungen? Er wagte kaum zu denken. Seit er den Zettel von der Oberstaatsanwaltschaft erhalten, hatte er nicht mehr gegessen und geschlafen, hatte seine Pfeife zu stopfen vergessen und, wenn er sie gestopft, vergessen anzuzünden. Da stand er nun, bereit zu hören, bereit zu reden. Aber er mißtraute seiner Zunge, er fürchtete das falsche, verfrühte, schädliche Wort. Es war ihm zumut, als stehe er nicht auf dem Fußboden, sondern in der Luft, und wenn er einen Schritt tat, müsse er hinstürzen. Faß dich, Mensch, sagte er immer wieder zu sich selber, auch der dort besteht aus Fleisch und Bein. »Ich habe Sie kommen lassen, um Ihren schriftlichen Tribulationen ein Ende zu machen. Nehmen Sie sich in acht, Sie können mal eklig hineinfallen.« Die Stimme klang kalt herüber. Da war noch nichts von einer Verheißung zu merken, nichts von Umstimmung. Nun ja, wir sind ja erst am Anfang. Die Herren Juristen, wenn sie nach Rom wollen, tun zunächst, als gingen sie nach Amsterdam. Maurizius verbeugte sich. Nichts weiter. Die Nasenwände drückten sich eng ans Nasenbein, die Nüstern wurden ganz konkav. Das majestätische Aussehen des Mannes am Schreibtisch schüchterte ihn maßlos ein. Er fühlte sich von dem Mann so abhängig wie eine Glocke von dem Querbalken, an dem sie baumelt. Er zitterte vor jedem neuen Wort, verriet aber nichts von seiner Angst, blickte nur starr hinüber, wie ein Steuermann auf das näher kommende Riff. Der Schicksalsgewaltige hatte einen Bleistift in der Hand und drehte ihn zwischen zwei Fingern beständig um und um, so daß die Spitze bald nach oben, bald nach unten zeigte. Das war eigentümlich, man hätte wissen müssen, warum er das machte, damit konnte er einen doch nicht schrecken wollen. »Ich möchte bei der Gelegenheit einige Fragen an Sie richten, mache Sie aber darauf aufmerksam, daß das Gespräch keinen amtlichen Charakter hat und beiderseits ganz unverbindlich ist. Nehmen Sie Platz.«

Das lautete schon besser. Na also. Wir sind auf dem Weg. Der Aufforderung, sich zu setzen, folgte er nicht. Das konnte eine Falle sein. Er antwortete mit der stereotypen Verbeugung. Es war die Höflichkeit eines Pinguins. Was ihn denn seinerzeit zu der Annahme bewogen habe, daß der Advokat Dr. Volland seinem Sohn aufgenötigt worden sei? Maurizius rieb die Lippen aneinander, um sie feucht zu bekommen. Ein lächerlicher Feuerfrosch hüpft rasend schnell vor seinen Augen. Wenn nur der Mann aufgehört hätte, den Bleistift um und um zu kehren. Das war ja zum Tollwerden. Der Bleistift wurde immer länger, er wurde so hoch wie ein Turm. Jetzt, liebe Gedanken, bleibt mir hübsch beieinander. »Es war keine bloße Annahme, Herr Oberstaatsanwalt; Leonhart hat mir gesagt, es sei gewünscht worden.« Der Bleistift, der verfluchte Bleistift; außerdem blitzte da noch so ein Diamant am Finger; gut, gut, man sah einfach zum Fenster hin, obschon es besser war, die Gefahr im Auge zu behalten, die Gefahr, in der alle Hoffnung steckte. Hatte er es recht gesagt? verständlich gesagt? Ihm war, als hätte er Sand zwischen den Zähnen und könne nicht ordentlich reden. – Von wem gewünscht? – Es war ihm eben nahegelegt worden. – Von einer bestimmten Person? – Von einer bestimmten Person. – Er täusche sich wohl über den wahren Sachverhalt. – Schwerlich, Herr Oberstaatsanwalt, (zu sich selber: das steht fest wie der Kölner Dom.) – Der Vorschlag könne von der Familie ausgegangen sein. – Das sei natürlich möglich, aber es sei da nur der alte Jahn gewesen, Gottlieb Wilhelm. – »Nun also . . .« – »Gehupft wie gesprungen, Herr Oberstaatsanwalt.« – »Was meinen Sie damit?« – »Der hat nichts im Sinn gehabt, als mein Kind zu verderben.« – »Unsinn, Mann, sein Verderben hatte Leonhart selber besorgt, der schlechteste Verteidiger konnte nichts hinzutun, der beste nichts wegnehmen.« – Außerdem habe Leonhart der Anna Jahn freie Hand gegeben, sie solle den Advokaten für ihn wählen, den sie für den geeignetsten halte. – »Naja, da hat sie eben den Volland für den geeignetsten gehalten.« – »Sehr wohl, Herr Oberstaatsanwalt, aber man hat bald gesehen, was an dem dran war.« – »Es haben sich auch andere erboten, es ist Sache des Angeklagten, sich den Verteidiger zu wählen, er mußte bei der ersten Unterredung wissen, daß er nicht gut bedient war.« – »Herr Oberstaatsanwalt, es ist ihm egal gewesen.« – »Was, egal! Keinem kann das egal sein, dessen Kopf schon unterm Beil liegt.« – »Doch, Herr Oberstaatsanwalt. Wenn einer unschuldig ist und keine Möglichkeit mehr sieht, seine Unschuld zu beweisen, dann ist ihm das egal, was so ein Paragraphenreiter an Spitzfindigkeiten vorbringt. Da hätte schon unser Herrgott selber plädieren müssen, und wer weiß, ob das genügt hätte!« Es entstand ein minutenlanges Schweigen. Ein gedankenaufsaugendes, düsteres Schweigen. Maurizius' Körper schwankt ein wenig, wie die Spitze eines Mastbaums bei mäßiger Brise. Er warf einen scheuen Blick auf den Oberstaatsanwalt. Irgendwas geht in dem Mann vor, dachte er, und sein Herz hörte einen Augenblick auf zu schlagen. Herr von Andergast strich mit der Rechten langsam über das Gesicht, mit vier Fingern über die eine Wange, mit dem Daumen über die andere. Es erregte ihm ein seltsames sinnliches Behagen, seine Wangenhaut zu fühlen. Unschuld, dachte er und dehnte in verstocktem Hochmut die Lungen, Unschuld! freche, wilde Phrase, wo Recht und Gesetz gesprochen haben; Unschuld, wo der Täter überführt, die Sühne noch im Vollzug, der göttlichen und menschlichen Gerechtigkeit genuggetan ist! Unschuld. Es war, als habe ihm der Alte einen Stein gegen die Brust geworfen. Doch Maurizius sah gut: es ging etwas in ihm vor. Es gab ein Mittel, seine Überzeugung noch unumstößlicher zu machen, als sie ohnehin war. Er konnte den Augenschein haben, es stand in seiner Macht. Er konnte sich vergewissern, wie dieser Leonhart Maurizius das ihm auferlegte Schicksal trug. Es war nicht ausgeschlossen, daß er ihm gegenüber das achtzehnjährige Schweigen brach, daß er seine Seele erleichterte, sich zur Demut bekehrte, zum Bekenner wurde. Solchen Sieg zu erringen war einiger Mühe wert. Das war es, was in Herrn von Andergast vorging und was der alte Mann, Geschöpf seines Wahns und seiner Hoffnung, durch geheimnisvolle Übertragung spürte. »Erinnern Sie sich vielleicht noch, wovon an jenem Oktoberabend zwischen Ihnen und Leonhart gesprochen wurde, als er Sie zum letztenmal aufsuchte?« Maurizius schüttelte den Kopf. Nicht, weil er die Frage verneinte, er wunderte sich nur, daß jemand glauben könne, es sei möglich für ihn, sich in dieser Sache an den allergeringsten Umstand nicht zu erinnern. Zugleich überzog sich sein Gesicht wie mit einem grauen Schleier. Der Mann dort hinterm Schreibtisch verstand zu zielen und zu treffen. Jetzt hatte er endlich den höllischen Bleistift beiseite gelegt, dafür schaute er einen mit den blauen Augen an, als wollte er einen einladen, direkt in sie hineinzuspazieren. Heiliger Heiland, was hatte der Mann für Blau in den Augen, es war, als ob sich alles drin spiegelte, was damals geschehen war! Er griff nach einem der Hornknöpfe an der Joppe und drehte ihn krampfhaft. Es ist überflüssig, zu erzählen, wie ihn der Junge mit Lügen traktiert hat, faustdicken Lügen, er deutet es nur an, mit gesenktem Kopf. Gelogen das mit der Studienreise im Auftrag der Regierung; gelogen das mit den zwölfhundert Mark, die er für seine letzte Arbeit hätte bekommen sollen, wenn der Verleger nicht falliert hätte; gelogen, daß ihn Herr von Krupp zur Begutachtung eines zweifelhaften Niederländers eingeladen; gelogen schließlich, daß er erst morgen habe kommen wollen, um Abschied zu nehmen, daß ihm aber jemand in Wiesbaden gesagt habe, der Vater sei krank, worauf er den Grafen Hatzfeld gebeten habe, ihm sein Auto zu leihen. Er war gar nicht in Wiesbaden, und ein Juweliersauto war ihm nicht gut genug, es mußte ein gräfliches sein. Was für armselige Lügen, eine hatte immer kürzere Beine als die andere; krank? nein, Peter Paul Maurizius hütete sich, krank zu sein, damals, solang er zu warten hatte, bis sein Tag kam, genau wie er sich heute krank zu werden hütet, da er erst recht zu warten hat, bis sein Tag kommt. O die kleinen, dummen Jammerlügen, sie sollten bedeuten: schau mich an, was ich für ein Kerl bin, wie ich geehrt werde, kannst stolz sein auf mich, hab's weit gebracht in der Welt! Wenn nur das Gesicht nicht gewesen wäre, das die Lügen Lügen strafte; sah aus, als ob er drei Tage und drei Nächte gesoffen und gehurt hätte, oder wie einer, den sie aus einem brennenden Hause geschleift haben, so daß ihm noch der Schrecken im Genick sitzt.

Der Hornknopf war abgedreht. Maurizius hielt ihn in der Hand, schaute ihn bestürzt an und ließ ihn in die Tasche gleiten. Seine Erzählung war ein monotones, kaum verständliches Gemurmel gewesen. Nun machte er zwei Schritte ins Zimmer hinein, als brauche er zu dem, was er jetzt sich zu sagen entschloß, die größere Nähe des Zuhörers. »Er hatte sich wohl vorgestellt, daß ich ihm mit Fragen zu Leibe rücken und ihm schöntun sollte. Er hatte sich wohl gedacht, nachdem wir Jahr und Tag . . . das war ja nun mal so, Herr Oberstaatsanwalt, wegen dieser Heirat . . . da gab's bei mir keine Freundschaft mehr, da war's aus, da hätt er ebensogut Leonhart Schulze heißen können. Er hatte sich wohl gedacht, ich sollte ihm, da er von selber kam und in der Nacht vor mir dasaß und so herumredete, als sollt er morgen ins Narrenhaus kommen, da hatte er sich vorgestellt, ich sollte ihm die Hand bieten. Das war's, sehr geehrter Herr. Und das tat ich nicht. Ich merkte wohl, wie der Hase lief, aber ich, ich tat nichts dergleichen. Und das, Herr Oberstaatsanwalt, das wird mir auf dem Gewissen sitzenbleiben. Das wird mir angerechnet werden. Der Mensch ist ein Luder. Wo der Mensch nicht will und sich verbockt, wird er zum Luder. Schlechtweg. Worum hat sich's denn gehandelt, ich bitte.« (Er trat noch einen Schritt näher, legte die flache Hand auf den Kopf, und die riesigen nackten Ohrlappen wurden blutrot.) »Um zweitausend Mark. Sagen wir um dreitausend Mark. Wenn ich ihm die gegeben hätte, wenn ich's nicht in meiner schuftigen Hoffart darauf angelegt hätte, nicht bloß, daß er vor mir zu Kreuze kriechen soll, das hat er ja schließlich getan, aber daß ich recht behalten soll in der Sache mit der Elli, wenn ich mich da überwunden und ihm die zweitausend oder dreitausend gegeben hätte, ich hätt es bewerkstelligen können, das ist so sicher, wie ich hier stehe, dann wäre alles anders gekommen. Dann hätt er sich für eine Weile frei gemacht, dann wär er nicht mit der Verzweiflung im Herzen zurückgefahren in sein verfluchtes Haus, dann wär er nicht ins Garn gelaufen wie ein blinder Vogel. Dann hätte er gesehen, was um ihn vorging und hätte sich hüten können. Das ist die Geschichte, Herr. Es ist um sein Leben gegangen, in jener Nacht, und sein Leben war mir nicht einmal dreitausend Mark wert. Bedenken Sie, was ein Leben wert ist. Bedenken Sie, hochgeehrter Herr, wie kostbar ein Leben ist. Läßt sich denn das beziffern? Dafür gibt es keinen Preis, so wenig, wie's für den Himmel einen Preis gibt, und mir war's um dreitausend Mark zu teuer.« Er warf die Hand vom Kopf herunter und legte sie, sich vorbeugend, mit einem lauten Schlag auf den Schreibtisch, unter die Augen des Herrn von Andergast, gleichsam als sichtbares Zeugnis und Opfer. Und als Herr von Andergast emporschaute, sah er, daß über das verwitterte Gesicht wasserhelle Tränen liefen.

Er erhob sich mit einem Ruck, schritt durch das Zimmer und blieb am Fenster stehen. »Sie sehen die Dinge in einem falschen Licht«, sagte er mit brüchiger Stimme und ohne das Gesicht vom Fenster abzuwenden, »Sie haben sich den Tatbestand so zurechtgezimmert, mit der Wirklichkeit hat das nichts zu schaffen.« – »Ich weiß nicht, was das ist, die Wirklichkeit«, erwiderte der Alte finster. Dann, nach einer Pause stummen Grübelns, mit eingezogenem Kopf und niedergeschlagenen Blicken: »Herr Oberstaatsanwalt, helfen Sie mir.« Herr von Andergast drehte sich um und ging auf ihn zu. Die Schädeldecke des Alten reichte ihm genau bis zur Schulter, und er entdeckte mit Ekel die rote Beule. »Was haben Sie mit dem Jungen gemacht, mit meinem Sohn?« fragte er rauh. Maurizius blinzelte und schien auf einmal in sich zu versinken. »Der Junge ist von selber zu mir gekommen«, sagte er nach langem Schweigen. »Nachher war mir's immer, als hätt ich's bloß geträumt. Mein Lebtag hatt ich nicht Erscheinungen oder was man so nennt. Ich bin seit achtzehn Jahren im Grunde ein toter Mann und ganz drunten, wo glimmt bloß noch son Funke. Ich wollte aber sagen . . . folgendes wollt ich sagen: der Junge war mir wie eine Erscheinung. Mit dem gewöhnlichen Verstand ist das nicht auszudrücken, was das mit dem ist. Nun ja, wir unterhielten uns so, zweimal oder dreimal, glaub ich. Er interessierte sich für die Sache. Las auch alles, was ich ihm zusteckte, das Material. Eines Tages bekam ich den ganzen Pack zurück und dazu einen geschriebenen Zettel. Auf dem Zettel stand: ich geh jetzt fort, ich muß mit Gregor Waremme reden, wenn ich wiederkomme, wissen wir, ob ja oder nein. Kein Wort weiter. Ich hab ja so gelacht. Oder nein, eigentlich nicht gelacht. Du Engelsjungchen, hab ich mir gedacht, du Engelsnärrchen. Und es war ein wunderliches Gefühl dabei, so ungefähr: schön, Gottes Mühle mahlt endlich.«

Herr von Andergast kehrte zum Fenster zurück. Er stand gegen das helle Rechteck wie ein schwarzer Rammpflock. »Sie wissen seinen Aufenthalt nicht?« – »Ich weiß ihn nicht, und was ich darüber vermute, möcht ich nicht sagen.« – »Warum das?« – »Es ist 'n Aberglaube, Herr Oberstaatsanwalt.«

»Er hat Ihnen seitdem nicht geschrieben?« – »Nein, Herr Oberstaatsanwalt.« – »Und Sie wissen . . . oder wissen Sie es nicht, wo dieser . . . dieser Waremme sich aufhält?« – »Soll das, Herr Oberstaatsanwalt, als eine amtliche oder eine private Frage zu gelten haben, mit Verlaub?« – »Es ist . . . vorläufig . . . eine private Frage.« – »Dann, Herr Oberstaatsanwalt, weil ich nun den Aberglauben mal hab, möcht ich, mit Verlaub, die Frage vorläufig unbeantwortet lassen.« – »Es ist gut.«

Das war Entlassung. Aber Maurizius rührte sich nicht. Herr von Andergast, mit dem nur ihm eigenen Ausdruck von gepreßtem Widerwillen, worunter sich Empfindungen verbergen konnten, die nicht an die Oberfläche dringen zu lassen er zur Genüge geübt war, warf hin: »Was die andere Sache betrifft . . . ich rate Ihnen, sich keinen Erwartungen hinzugeben. Man wird sehen.« Der Alte hob mit einer heißen Schreckensfreude den Blick. »Gewiß . . . ich . . .es versteht sich von selbst, daß man . . . was wäre denn im günstigsten Fall zu hoffen?« stotterte er heiser. – »Im günstigsten Fall? . . . man könnte schließlich die von Ihnen angesuchte Begnadigung befürworten.« Die Lautlosigkeit, mit der sich der Alte entfernte, hatte etwas Gespenstisches. Er fürchtete vielleicht, das Wort könne zurückgenommen werden, wenn er sich noch bemerkbar machte.

Als Herr von Andergast eine Viertelstunde später die monumentale Steintreppe hinunterstieg, wobei er seinen Mantel fröstelnd zuknöpfte, war ihm, als ginge er durch das Innere einer gewaltigen Muschel, deren Brausen sein Ohr peinigte. Die Hallen und Stiegen waren schon verödet, aber die Luft zitterte von verklungenen Schritten und verklungenen Worten. Hinter den Mauern saßen die Schreiber, über Akten und Erlässen gebeugt, und schrieben. Mit ihren Federn griffen sie in die Menschenschicksale ein, doch ihre Mienen waren so gleichmütig, als hätten sie bloß den Befehl, ein bestimmtes Quantum Tinte auf eine bestimmte Menge Papier zu übertragen. Türen schlugen zu, elektrische Glocken schrillten, schnarrende Stimmen diktierten in Maschinen oder schrien in Telephone. Klagen wurden vorgebracht, Eide geschworen, Verdikte gefällt, Gesetze ausgelegt. Es ist ein gegliedertes Wesen, worin alle gehorsam und pflichtbewußt wirken: die Referendare, Assessoren, Staatsanwälte, Advokaten, Kammerräte, Archivare, Sekretäre, Rendanten und Richter, eine ehrwürdige Hierarchie, deren Gipfel und obersten Geist sie nur erschauernd ahnen können. Doch ahnen sie ihn, wissen sie ihn, drinnen in der Muschel? Erschauern sie denn davor? Das ist die Frage. Die Muschel scheint allerdings den Ozean zu enthalten, wenn man in sie hineinhorcht, aber sie täuscht seinen ewigen Orgelgesang nur vor, und sie braust, weil sie hohl ist.



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